Читать книгу Rufe aus Morgania - Brigitte H. Becker - Страница 9
Zeit im Wandel
ОглавлениеSchnell, immer schneller
mahlen die Mühlen
rastloser Zeit
haltlos vorwärts getrieben
von Schattengesichtern
der Winde
Doch gebären
geknechtete Herzen
aufsteigende Flammen
der Sehnsucht
nach ihrer EINEN
versunkenen Nabe
was unaufhaltsam
rasch übergreift
und jetzt schon ein schwaches
Morgenrot zaubert
am Horizont unserer Zeit.
Nellyfer, die Elfenamme, stand vor einer von drei stattlichen, weit ausladenden Bavariabuchen, die mit ihren weit verzweigten, tief herabhängenden Ästen wie Riesenpilze wirkten und mit dem geschlossenen Blätterdach Unterkünfte für den Elfennachwuchs boten. So diente der umfangreichste Baum als Tagesschule, der mittlere als Kita und der kleinste als Krippe für die Allerjüngsten, die Nellyfer betreute.
Für den heutigen Festtag waren die Gemeinschaftsräume aller Buchen zu Schlafsälen für die Elfenkinder umfunktioniert worden.
Nellyfer stellte sich auf die Zehenspitzen und reckte sich fast den Hals aus, um Ausschau nach Elfenmüttern im Anflug zu halten, konnte aber keine erblicken, vielleicht, weil die Sonne blendete. Am längsten Tag des Jahres hatte sie am späten Abend kaum von ihrer Strahlkraft eingebüßt. Hilflos händeringend wippte sie ungeduldig auf und ab.
Die Jungen waren doch schon da; wo blieben nur die Mädchen?
Prüfend zu den Nachbarbuchen herüberblickend stellte sie erleichtert fest, dass dort auch noch eine Kollegin auf die ihren zu warten schien.
Nellyfer seufzte. Die hatten es gut da drüben, arbeiteten im eingespielten Team, konnten sich problemlos abwechseln und vertreten. Sogar an Festtagen hatten dort je drei Elfen Dienst.
Sie jedoch war ganz alleine verantwortlich für Kinder im ersten Lebensjahr und hatte kaum Hilfe, außer dass Walfriede im Notfall für sie einsprang.
Erfreut winkte sie herüber, als sie die Freundin in der Kindergärtnerin erkannte, die vor der Kita Buche stand. Walfriede winkte lebhaft zurück. Sie trug dieselbe Diensttracht wie sie, ein weiß blau gestreiftes kurzes Kleid mit weiß- blau gestreifter, gerüschter Trägerschürze.
Wie immer wirkte sie wie aus dem Ei gepellt, sauber und adrett.
Nellyfer hingegen legte nicht allzu viel Wert auf ihr Äußeres. Ihr Kleid war verknittert, die haltgebende Schürze verfleckt, ohne die es um ihre zierliche Gestalt herum geschlackert wäre. Dass immer wieder ein Träger von ihren schmalen Schultern herunter rutschte, störte sie normalerweise nicht, doch heute machte es sie nervös, dass sie ständig daran herumzupfte.
Es wollte ihr einfach nicht gelingen, sich gut sitzende Kleidung anzuzaubern, zumal sie ihren Zauberstab oft nicht finden konnte, geschweige denn die Sachen glatt und fleckenlos zu halten, was sich als ein Ding der Unmöglichkeit erwies, wenn die Kleinen an ihr herum zerrten und sich einen Spaß daraus machten, sie beim Füttern anzuspucken.
Walfriede war etwas älter und größer als sie und von dichterer Gestalt. Ihr rötlicher Pagenkopf war exakt in der Mitte gescheitelt; kleine Mandelaugen blitzten gescheit aus dem pausbackigen Gesicht. Die Freundin war auch ungebunden und ohne eigene Kinder, meistens gut gelaunt, lebhaft und fleißig, oft gar übereifrig, ging sie doch völlig in ihrer Arbeit auf.
Neben ihr wirkte Nellyfer noch durchscheinender und zartgliedriger als sie ohnehin
schon war. Das herzförmige Gesicht, beherrscht von wasserblauen Kulleraugen, umrahmte ein strohblonder Kraus- oder vielmehr Struwwelkopf, der kaum zu bändigen war. Sie machte sich auch kaum die Mühe. Es gab schließlich wichtigere Dinge!
Eher verträumt und in sich gekehrt konnte Nellyfer von der liebenswerten Chaotin zum Nervenbündel werden, wenn sie sich überfordert fühlte. was jedoch selten vorkam.
Ausgesprochene inspirative Fähigkeiten erleichterten ihr den Umgang mit Ziehkindern, erspürte sie doch was den Kleinen fehlte, auch wenn sie noch nicht sprechen konnten.
Heute war ein Tag, der ihr mit der inneren Ruhe diese Begabung raubte, befürchtete sie doch, dass sie in der ungewohnten nächtlichen Umgebung nicht rechtzeitig einschlafen könnten. Elfenkinder schliefen normalerweise tief und fest, und wenn sie einmal eingeschlafen waren, konnte man sie getrost alleine lassen.
Aber ob das heute der Fall sein würde, stand noch in den Sternen.
Aufgeregt tippelte Nellyfer von einem Fuß auf den anderen.
Vor dem Elfentreffen wollte sie unbedingt noch nach der weißen Seerosenknospe schauen, die mit dem Königskind hochschwanger war, dessen Geburt geradezu entgegenfiebert wurde. Fand sie zur Sonnenwende statt, würde es angeblich an Besonderheit gewinnen.
Als sie ein Rauschen über sich vernahm, blinzelte Nellyfer erwartungsvoll hoch.
Eine Wolke schob sich vor die Sonne, die sich hinterher als Elfenschwarm entpuppte, der sich kurz vorm Buchentrio zerteilte, um die benachbarten anzusteuern.
Nebenan übergaben erste Mütter den Wartenden ihre Mädchen. Die Jungen sprangen auf sie zu, um sie mit Hallodris in Empfang zu nehmen.
Es gab kaum Familien in Morgania. Die Geschlechter lebten getrennt voneinander, und Paare kehrten nach dem Tagwerk auch in ihre Clans zurück, wenn sie Kinder hatten, obwohl sich nur Nachwuchs einstellte, wenn die Liebe sie verschmelzen ließ.
Man traf sich zum romantischen Stelldichein im Mondschein unterm Sternenzelt und später auch zum Spielen mit den Kindern.
Töchter lebten bei den Müttern, Söhne bei den Vätern und wurden tagsüber im Buchentrio betreut. Männer waren in der Minderzahl, was nicht weiter störte, denn so manche überzarte Elfe hielt sich lieber von den männlichen Haudegen fern.
Erwartete eine Elfe ein Kind, ließ sie es von einer Knospe austragen, damit sie nicht zu schwerfällig zum Fliegen wurde.
Nellyfer oblag die Überwachung von Blütenschwangerschaften, indem sie mithilfe des inneren Blicks die Entwicklung des Embryos überprüfte, um beizeiten Geburtshilfe zu leisten. Babys stillte sie solange sie mochten, sang und scherzte mit den Krabbelkindern, wann immer es ihre Zeit erlaubte, wofür man sie heiß und innig liebte.
Einige ihre Schützlinge kamen noch im Schulalter mit kleineren und größeren Sorgen zu ihr, und bei ihren Besuchen in der Kita wurde sie von allen immer stürmisch begrüßt.
Dabei hatte sie sich mit Walfriede angefreundet.
Nellyfer machte sich zunehmend Sorgen, wo ihre Mädchen abblieben.
Da sah sie Walfriedes Bruder auf seine Schwester zufliegen.
Welch ein herrlicher Mann, schoss es ihr durch den Kopf, und ihr Herz machte einen Hüpfer.
Die Geschwister zählten zu den Wald Elfen mit ihrer verdichteten Erscheinung.
Walfred war fast einen Kopf größer als seine Schwester und hatte wie sie einen leicht gebräunten Teint, stahlblaue Augen und rötliche Haare, die sich um sein markantes Antlitz wellten. Die Festkleidung aus schimmernder Viskose passte gut zu seinen rostigen Schmetterlingsflügeln: eine knielange rote Tunika mit breiter, gelber Schärpe um die Mitte und moosgrüne Strumpfhosen zu roten Schnabelstiefeln.
Die Freundin wies in ihre Richtung, worauf sich Walfred auf dem Absatz umdrehte, um ihr strahlend zuzuwinken. Errötend winkte Nellyfer zurück.
Wie ertappt zuckte sie zusammen, als sich ein Leichtgewicht auf ihrer Schulter niederließ.
Sie wendete den Kopf, als sie etwas antippte, das sich wie ein Fingerchen anfühlte.
Das rosige Puppengesicht einer winzigen entzückenden Blumen Elfe lachte ihr schelmisch entgegen. „Darf ich dir meine Tochter übergeben?“ zwitscherte sie ihr zu. „Wollte dich nicht länger auf die Folter stellen und bin schon mal vorgeflogen.“
Nellyfer übernahm den Winzling und hob die Augenbrauen. Die Elfenmutter wies in Richtung Wald- und Feld. Als Nellyfer die von dort anschwirrende Elfenwolke erblickte, nickte sie der Blumen Elfe erleichtert zu, die daraufhin aufgeregt loszwitscherte:
„Wir haben solange zum Schönmachen fürs Fest gebraucht. Viele kostete es etliches Herumzaubern, um das passende Festgewand zu finden, weil sie keine Ruhe dazu hatten. Weiß der Himmel, was unsere Töchter so verstört hat, dass sie uns dauernd am Rockzipfel hingen! Ihr ohrenbetäubendes Plärren und Quengeln hat manche Mutter so verwirrt, dass sie bald überhaupt nicht mehr wusste, was sie bestellen sollte. Du hättest das mal sehen sollen!
Kleider in den unmöglichsten Schnitten und Mustern sind kreuz und quer durch die Luft geflogen und mussten zurückgeschickt werden. Ein fürchterliches Chaos ist entstanden und viel Zeit vergangen, bis alle voll und ganz mit sich zufrieden waren. Aber jetzt sind sie ja da.“ Nun sah Nellyfer es auch. Elfen in allen erdenklichen Größen flogen wie ein schillernder Farbenregen herbei, um kurz darauf schwungvoll vor ihren Füßen zu landen.
Junge Elfenmütter übergaben ihr die Weidenkörbe mit ihren Kleinen, begutachteten zufrieden nickend den Schlafsaal, und waren ihr behilflich, die Körbe an Bastseilen an den untersten Zweige zu befestigen, dass ein leichter Windstoß genügte, um sie sanft zu schaukeln.
Als sie ihre Mädchen auf den Arm nahmen, um sie zum Abschied zu küssen, klammerten sich nicht wenige weinend an ihre Mutter an, was ungewöhnlich war.
So quengelig hatte Nellyfer sie noch nie erlebt!
Alle hatten bereits laufen gelernt, und sie hatte alle Hände voll zu tun, ihrer Herr zu werden.
Kreischend schienen sie vor etwas die zu Flucht zu ergreifen, was nicht auszumachen war.
Sie fielen hin, kullerten übereinander und ließen sich weder füttern, noch beruhigen, geschweige denn, zu Bett bringen. Als alle leidlich gesättigt glücklich in den Betten lagen, hatte ihre Schürze etliche Flecken hinzubekommen.
Jetzt sprang sie hin und her, um sie in den Schlaf zu wiegen. Was ihr mittags mühelos gelang, wurde zum entnervenden Spiel. Aus Leibeskräften Wiegenlieder singend versagte ihr die Stimme, was noch nie vorgekommen war.
Die Zeit verstrich, und es waren immer noch nicht alle eingeschlafen.
Einige schien noch immer etwas zuhöchst zu beunruhigen.
Plärrend im Bett herumhüpfend hielten sie andere vom Schlaf ab, die sich unruhig hin und her zu wälzen begannen, um es ihnen schließlich gleichzutun, ein wahrer Teufelskreis.
Auf einmal ächzte der Baumstamm, und eine tiefe Stimme donnerte:
„Was ist denn das für ein Radau? Ist ja nicht auszuhalten!“
Die Kinder zuckten zusammen und waren augenblicklich still.
Als Nellyfer sich umwandte, gewahrte sie erstaunt den betagten Baumgeist, der allmählich leicht gebeugt seinem Stamm entstieg, erst schemenhaft sichtbar und sich nach und nach mehr und mehr verdichtend. Er war eine imposante Erscheinung mit schlohweißem, schulterlangem Haar und ebenso langem, zerzaustem grauen Spitzbart in einer bodenlangen Borkenkutte, um die Mitte von einem Schilfband gehalten.
Sie machte einen Knicks. „Guten Abend Buchwart. Du lässt dich früh erblicken.“
Unwirsch abwinkend richtete sich der Greis zu voller Größe auf.
„Kein Wunder bei dem Höllenlärm und dem Gestank! Ich wittere förmlich Störenfriede!“
Nellyfer sah überrascht zu ihm auf. „Ich rieche überhaupt nichts.“
Sie kritisch beäugend wiegte er den Kopf. „Du bist ja völlig aufgelöst! In dem Zustand kannst du auch nichts wahrnehmen.“
Nellyfer stutzte. Das konnte doch nicht sein, doch machte einen Sinn.
„Aber die Schattengeister kommen doch immer erst mitten in der Nacht.“
„Dann haben sie es sich eben anders überlegt. Die sind auch nicht auf den Kopf gefallen und werden längst bemerkt haben, dass um die Zeit viele so in Eile sind, dass sich ihre Sinne trüben. Ist doch die Gelegenheit für sie, schon vorher ihren Spaß zu haben.“
Nellyfer fiel es wie Schuppen von den Augen. Dass sie da noch nicht drauf gekommen war!
Es passte alles gut zusammen, der Bericht der Mütter, ihre eigenen Erfahrungen.
Der Baumgreis nickte verstehend, als sie es ihm mitteilte.
„Meinst du, dass die wiederkommen?“
„Worauf du dich verlassen kannst! Der Mitternachtsspuk ist ja schon Tradition.“
Buchwart ließ den Blick prüfend im Raum umherschweifen und rief den Kindern zu:
„Keine Sorge, mit den paar Flatterschatten werde ich schon fertig! Die meisten sind sowieso getürmt, als sie mich in voller Größe erblickten Ich geh mal eben raus, bevor ich mir den Rest vornehme.“ Er zog die buschigen Augenbrauen hoch und drohte den Kleinen mit dem Zeigefinger, die ihn aus großen Augen anstaunten. „Und ihr verhaltet euch derweil mucksmäuschenstill. Dass ich keine Klagen höre!“ Er zog Nellyfer mit sich zur Eingangstür. „Bleib du hier und halte Ausschau nach der Elfenpolizei. Ich könnte Unterstützung gebrauchen. Der Spuk muss bald ein Ende haben. Die Kleinen sehen ja alle hundemüde aus.“
Als sie ihm von Walfred erzählte, grinste er sie wissend an.
„Na dann kann ja gar nichts schief gehen. Der wird sicher nach dir sehen wollen.“
Sie erröte bis über beide Ohren, doch als er sich entfernen wollte, hielt sie ihn zurück.
„Wie du weißt, versammeln sich alle Elfen am Weiher bei Sonnenuntergang. Ich müsste vorher noch nach Meridors Seerosenknospe sehen, komme aber hier erst weg, wenn alle eingeschlafen sind.“ Sie schaute hilfesuchend zu ihm auf. „So wie es aussieht, werde ich nicht einmal pünktlich zum Treffpunkt kommen können.“
Buchwart schmunzelte in seinen Bart. „Traust dich nicht zu fragen, wie? Passe gern auf deine Kinder auf. Hast doch gesehen, wie gut die bei mir spuren. Mal sehen, ob es so geblieben ist.“
Nachdem er den Schlafraum inspiziert hatte, kam er triumphierend zurück.
„Nichts zu hören außer gelegentlichem Stöhnen, obwohl noch Flattergeister rumschwirren. Sollst mal sehen, sobald ich die vergrault habe, fallen alle in die Kissen und sind ruck zuck eingeschlafen.“ Er entgegnete Nellyfers zweifelndem Blick. „Und wenn alle Stricke reißen, ich beherrsche Wiegenlieder.“ Er räusperte sich vernehmlich, um dann in tiefstem Bariton „Guten Abend, gut Nacht“ zu schmettern.
Nellyfer lachte hellauf. „Das würdest du wirklich für mich tun? Mir fällt ein Stein vom Herzen! Du strahlst solch eine Ruhe aus, die du sicher auf Kinder übertragen kannst.“
„Worauf du dich verlassen kannst“, grunzte er geschmeichelt.
Stürmisch fiel sie ihm um den Hals. „Vielen, vielen Dank, lieber Buchwart. Das werde ich dir nie vergessen!“
„Schon gut, schon gut.“ Sichtlich verlegen schob sie der Hüne sacht beiseite. „Muss die
Eindringlinge jetzt vertreiben.“
„Sehen wir und hinterher beim Fest?“ Er zog die Augenbrauen hoch, worauf sie ihn beschwichtigte. „Wenn alle eingeschlafen sind, kannst du ruhig gehen. Die schlafen alle wie die Murmeltiere, und die Störenfriede kommen bestimmt vor Mitternacht nicht wieder.“
Buchwart wiegte bedauernd den Kopf. „Ich bleibe hier. Wir alten Baumbrüder gehen nicht mehr weg und beteiligen uns nur noch an dem, was sich direkt vor unserer Nase abspielt.“ Schelmisch zwinkerte er ihr zu. „Aber Du kannst uns ja bei den anderen entschuldigen.“
„Kann ich sonst noch etwas für dich tun?“, fragte sie in scherzhaftem Ton. Dann stutzte sie. „Soll ich Walfred holen gehen?“
„Nee, lass den erst mal drüben wirken. Aber vielleicht könntest du ihn nachts mitnehmen. Dann veranstaltet die Schattenhorde immer ein Höllenkonzert, das meinen Nerven zusetzt.“
„Er wird sicher mit den Seinen wieder kommen, und vielleicht hat er ja gleich noch Zeit.“ „Na dann bis bald.“ Sichtlich erleichtert stakste Buchwart in den Schlafraum.
Während Nellyfer auf Walfred wartete, überlegte sie, welches Kleid für den heutigen Anlass wohl angemessen wäre. Es könnte noch eine Weile dauern, bis der Elf auftauchte.
Als sie sich leidlich sicher war, huschte sie in ihre kleine Kammer, um die Kommode nach ihrem Zauberstab durchzuwühlen. Als sie ihn endlich am hintersten Ende einer Schublade entdeckte, stellte sie sich ein bis zum Boden fließendes, hellblaues Kleid mit hoher Taille vor. Sie zauberte es sich schnell herbei, schlüpfte hinein und warf noch schnell einen prüfenden Blick in den Spiegel. Es saß nicht einmal schlecht, stellte sie befriedigt fest, außer dass Ärmel und Saum etwas zipfelig geraten waren. Aber was soll`s? Es war halt ihr Stil.
Flügel waren unpraktisch bei der Arbeit, aber nötig für die Reise. Durch Antippen ihrer Schultern mit dem Zauberstab wuchsen dort ein Paar durchscheinend hellblaue.
Draußen sah sie Walfred aus der Kita herauskommen. Sie winkte ihm zu; strahlend winkte er zurück und formte die Hände zum Trichter.
„Was machst du denn noch hier? Willst du zu spät kommen?“
Errötend rief sie zurück. „Komm her, und ich erklär es dir!“
„Einen Moment noch!“ Er blickte forschend zur Schulbuche herüber.
Nellyfer hatte sich insoweit beruhigt, um bei näherem Hinschauen zu erkennen, wie Schatten dort zu allen Seiten dem Blätterdach entwichen. Zwei Mitstreiter traten vor die Tür und liefen auf Walfred zu, um sich kurz mit ihm auszutauschen und dann eiligst aufzuschwingen.
Halb springend, halb fliegend hechtete der Zurückgebliebene auf Nellyfer zu und erschrak, als er sah, wie erblasst sie war, kaum mehr als ein Hauch.
„Was ist los?“, fragte er besorgt. „Du siehst ja ganz geschafft aus.“
Nachdem sie ihm berichtet hatte, was vorgefallen war, nickte er verstehend.
„Bei Walfriede war es genauso. Sie ist als letzte dageblieben und wurde immer hektischer. Als ich endlich mit Buchgeist den letzten Störenfried vertreiben konnte, war sie fix und fertig.
Der hat Walfriede übrigens auch angeboten, sich um ihre Kinder zu kümmern, damit sie nicht zu spät zum Treffpunkt kommt.“ Er wies zur Schulbuche herüber. „Die Kollegen haben soeben nebenan eine ganze Schattenhorde aufgescheucht."
Nellyfer nickte. „Konnte sie flüchten sehen. Aber vorhin muss ich blind und taub gewesen. Auch mein Geruchssein hat mich im Stich gelassen.“
„Meinte Walfriede auch. Das kommt von der ganzen Aufregung, und das wissen sie genau. Die Bande wird immer dreister! Jetzt kommt sie schon zweimal, doppelte Feiertagsarbeit. Hast du gehört, was sie in manchen Elfenclans angerichtet hat?“
Nellyfer berichtete, was sie von den Elfenmüttern wusste. „Wer konnte damit rechnen?“
„Zeitnot ist Wind auf ihre Mühlen.“ Beschwichtigend tätschelte er ihr die Schulter. „Keine Sorge, wir kommen wieder. Wir werden euch schon zu beschützen wissen.“
Danach wollte sie sich gerade erkundigen. Konnte er Gedanken lesen?
Seine Berührung tat ihr gut, und seine Stimme schmeichelte ihren Ohren.
Aber ihr Wohlbehagen währte nicht lange.
Unvermittelt wetterte er los, so laut, dass sie zusammenzuckte. „Mit der Schattenbande werden wir schon fertig. Von denen lassen wir uns nicht ins Bockshorn jagen.“
Walfriede musste sich erst fangen, bevor sie nachzuhören wagte, ob er noch einmal bei Buchwart vorbeischauen könnte, um ihm beizustehen.
Sie hätte sich ihre Bedenken sparen können. Seine Augen blitzten freudig auf, er straffte seine Schultern, warf sich noch mehr in die Brust und rieb sich die Hände.
„Aber sicher doch. Soviel Zeit muss sein. Dafür sind wir da. Mal sehen, was da los ist. Den Bengeln werden wir das Handwerk legen! Warte hier solange. Ich bin gleich zurück!“
Er zerteilte schon die Buchenzweige, wandte sich aber noch einmal um, um sie forschend anzuschauen. „Oder musst du jetzt schon weg?“
Wieder hatte er bemerkt, was sie beschäftigte.
Als sich ihre Augen trafen, konnte Walfriede nicht anders, als den Kopf zu wiegen.
Die schwangere Knospe war nicht mehr von Belang. Wozu sich abhetzen, nur um Meridor zu sagen, es hätte sich nichts getan? Dessen war sie sich ziemlich sicher.
„Keine Sorge. Zum Treffen schaffen wir es allemal“, versuchte er zu beschwichtigen.
Wieder ins Schwarze getroffen! Sie hielt ihn am Ärmel zurück. „Noch eine Frage. Vielleicht ist nachher keine Zeit dazu. Könntest du mich auf dem Rückweg auch begleiten?“
Augenzwinkernd sagte er „Besser als die ganze Truppe, wie? Wir könnten ja vorfliegen.“
Nellyfer nickte ihm erleichtert zu. Er hatte es erfasst.
Je länger Walfred auf sich warten ließ, desto aufgewühlter wurde sie.
Wie würde das aussehen, wenn sie sich jetzt auch noch verspätete! Auf und ab tippelnd stieß Nellyfer Stoßgebete aus, es möge nicht geschehen und Meridor Verständnis zeigen.
Nach einer halben Ewigkeit kehrte ihr Held zurück. Stolz schwang in seiner Stimme mit, als er ihr eröffnete „Alles in bester Ordnung. Der Baumgeist hat ganze Arbeit geleistet, konnte aber Unterstützung brauchen. Habe auch drei Flattergeister und Schattenjungen vor die Tür befördern können. Bald kehrt Ruhe ein, fix und fertig wie die Kleinen sind.“
„Singt Buchwart ihnen jetzt Wiegenlieder vor?“, erkundigte sich Nellyfer grinsend. „Mir hat er vorhin welche vorgeschmettert. Das weckt ja eher auf.“ Er griente breit zurück.
„Konnte ihn auch wie Buchgeist von der Kita erfolgreich davon abhalten. Die Brüder könnten noch ne Mütze Schlaf gebrauchen, damit sie dem Mitternachtsspuk gewachsen sind, obwohl ich mir nicht sicher bin, ob die Bande wiederkommt. Wir haben denen ganz schön zugesetzt.“
Er entgegnete ihrem verunsicherten Blick. „Keine Sorge, wir schauen auf alle Fälle nach, und es bleibt wie abgesprochen.“
Wie auf Kommando schauten sie prüfend zum Himmel hoch und erschraken, als sie sehen mussten, dass er sich rötlich streifte. Bald würde die Sonne untergehen.
Walfred packte Nellyfer so fest am Arm, dass sie beinahe aufgeschrien hätte.
„Höchste Zeit zum Aufbruch!“
Auf einmal rauschte es gewaltig über ihren Köpfen, wie von Adlerschwingen.
Aus luftiger Höhe winkte ihnen eine graue Gestalt im Flattergewand und zerzauster, schulterlanger Mähne zu, und preschte schnurstracks im Steilflug auf sie zu, als sie es ihr nachtaten. Ungläubig drang die Pfeifstimme des Luftriesen an ihr Ohr.
„Hallo, was macht ihr zwei noch hier?“
Sie atmeten erleichtert auf, als sie im Windgeist, der zu ihren Füßen landete, Meridors Gefährten erkannten, der zwar am Boden schrumpfte, aber immer noch so groß war, dass
Nellyfer sich fast den Hals verrenkte, um zu ihm aufzuschauen.
Als Walfred Sylphon die Situation geschildert hatte, bot er sich anstandslos an, sie beide mitzunehmen. Mit einer galanten Verbeugung ging er vor den Elfen in die Knie, um sie anzuweisen, je eine Schulter zu besteigen. „Haltet euch gut am Ärmel fest.“
Nachdem er sich versichert hatte, dass sie seine Anweisung befolgten, erhob er sich zum stürmischen Flug im atemberaubenden Tempo. Los ging es, auf und ab in Schlangenlinien, was seinen beiden Fluggästen Hören und Sehen bald vergehen ließ.
Zu allem Überfluss klatschten Nellyfer immer wieder Stoffteile und Haarsträhnen ins Gesicht.
Sie hätte sich am liebsten beide Ohren zugehalten, musste sich aber immer fester anklammern, um nicht von seiner Schulter herunterzufallen, egal, wie breit sie war.
Sie kniff die Augen fest zusammen und konnte nur noch beten, rechtzeitig und heil am Weiher anzukommen.