Читать книгу Qualitative Methoden in der Erziehungswissenschaft - Burkhard Fuhs - Страница 10
1.3 Definition der Qualitativen Forschung
ОглавлениеDas Wort „Qualitativ“ bezieht sich auf den Begriff der „Qualität“ und bezeichnet die Eigenschaft eines Phänomens im Unterschied zur Quantität, die in Zahlen angegeben werden kann. Qualitativ meint also zunächst einmal eine Eigenschaft, die zumeist nicht direkt gemessen werden kann. Im Sprachgebrauch ist Qualität oftmals mit einer Wertung verbunden, etwas hat eine gute oder eine schlechte Qualität. Die Qualitative Forschung untersucht Phänomene, die in ihren wesentlichen Teilen nicht in messbaren Größen ausgedrückt werden können. Das heißt nicht, dass in die Qualitative Forschung weder Messungen und noch mathematische Modelle einfließen können. Es heißt aber, dass die Gegenstände im Wesentlichen nicht über Zahlen und Ursache-Wirkungs-Verhältnisse verstanden werden können.
Qualitative Forschung erforscht die Lebenswelt
Die Qualitative Forschung definiert solche Phänomene als einen Forschungsgegenstand, der nicht auf einzeln messbare Variablen reduziert werden kann. Diese Forschungsgegenstände sind zumeist Konstrukte, die sprachlich eng an die Alltagswelt angelehnt sind Die Qualitative Forschung lehnt sich zwar in ihren Gegenständen an die Alltagsvorstellungen an, definiert die Begriffe aber wissenschaftlich auf eigene Weise. Biografie im Sinne der Qualitativen Forschung bedeutet etwas anderes, als alltagssprachlich in der Regel darunter verstanden wird.
Untersuchung von Bedeutungen
Qualitative Forschung arbeitet also daran, die Eigenschaften, die Qualitäten komplexer Phänomene zu erforschen. In weitestem Sinne will sie die Bedeutungen sozialer Phänomene erfassen, beschreiben und verstehen. Damit es überhaupt sinnvoll ist, die Bedeutung eines Phänomens (etwa einer Biografie) zu untersuchen, muss die Bedeutung unbekannt sein. Qualitative Forschung hat also zum Ziel, unbekannte Bedeutungen von definierten Phänomenen zu untersuchen. Grundnahme ist somit eine „Fremdheit“ des Forschungsgegenstandes, dessen Bedeutungen erst in einem Qualitativen Forschungsprozess offengelegt werden können. Fremdheit heißt in diesem Kontext, fremd von einem bestimmten Standpunkt aus. Fremd – so Karl Valentin (VALENTIN 1963) in seinem Stück „Die Fremden“ – ist der Fremde nur in der Fremde. Das heißt: In seinem heimischen Kontext ist die Lebenswelt auch für den Forscher nicht fremd. Qualitative Forschung hat also immer mindestens zwei Welten zum Ausgang. Zum einen die Herkunftswelt des Forschers und zum anderen jene Welt, die aus der Perspektive der Herkunftswelt des Forschers unbekannt oder erklärungsbedürftig ist. Geht man davon aus, dass die Qualitative Forschung für eine Zielkultur (etwa die universitäre Öffentlichkeit, zu der die Forschenden gehören) eine erklärungsbedürftige „fremde“ Kultur und ihre „fremde“ Bedeutungswelten verstehbar macht (etwa durch Publikationen oder Vorträge), kommen wir auf drei Bedeutungswelten, die in der Qualitativen Forschung verbunden werden. Zunächst die Bedeutungswelt des Forschers und der Forschungskultur, der die jeweilige Forschung zuzurechnen ist. Zweitens eine „fremde Bedeutungswelt“, die mit Mitteln der Qualitativen Forschung verständlich gemacht werden soll. Aus dieser wissenschaftlichen Bedeutungswelt kommen die Feststellungen, dass ein Phänomen „fremd“ ist, dass es wichtig ist, dieses Phänomen verständlich zu machen und die theoretischen und methodischen Vorgaben, wie das Fremde untersucht werden soll. Drittens finden wir eine Zielkultur, der die fremde Bedeutungswelt in einem Übersetzungs- und Vermittlungsprozess verstehbar gemacht werden soll.
Definition Qualitative Forschung
Qualitative Forschung kann also im weitesten Sinne als eine theoretisch geleitete und methodisch systematisch kontrollierte Form der wissenschaftlichen Arbeit an der Grenze zweier Bedeutungswelten verstanden werden.
Definiert man im Weiteren Qualitative Forschung als empirische Forschung, die Daten aus der Lebenswelt von Menschen sammelt und interpretiert, so meint die „wissenschaftliche“ Arbeit an einer Bedeutungsgrenze, dass kommunizierbare und kommunizierte Bedeutungen untersucht werden. Die Bedeutungen müssen als sozialer Ausdruck menschlichen Lebens verstanden werden, sie sind in ihrer materialisierten Form (Sprache, Bilder, Dinge, Handlungen) empirisch beobachtbar und als kulturelle Phänomene eines historischen Prozesses verstehbar.
Das Andere als Problem
Mit dieser Definition erhalten wir ein Wirklichkeitskonzept, das aus zwei Polen – dem eigenen und dem anderen – besteht. Dass eine solche bipolare Konstruktion immer wieder wissenschaftlich in Frage gestellt werden muss, ist eine Erkenntnis, die von Vertretern und Vertreterinnen des Dekonstruktivismus oftmals betont wurde. Schon Simone de Beauvoir (DE BEAUVOIR 1977, S. 11) kritisiert die Kategorie des „Anderen“ in ihrem Buch über „Das andere Geschlecht“. Insbesondere die Frauen- und Genderforschung hat hier deutlich gezeigt, wie bipolare Vorstellungen – etwa von „männlich“ und „weiblich“ – den Blick auf die Vielfalt sozialer Erscheinungen verstellen können (BUTLER 1991). Wenn also im Folgenden das Unbekannte, das Fremde als eine Grundperspektive der Qualitativen Forschung angesehen wird, erfordert dies, stets danach zu fragen, was jeweils unter dem Konzept des „Fremden“ verstanden wird, und wie das „Andere“ theoretisch und methodisch konstruiert wird.