Читать книгу Qualitative Methoden in der Erziehungswissenschaft - Burkhard Fuhs - Страница 9
1.2 Abgrenzung zur Quantitativen Forschung – Zum Problem des interpretativen Paradigmas
Оглавление„Die Schwierigkeiten einer umfassenden allgemeingültigen Definition der Qualitativen Forschung führten – vor allem in den Anfangsjahren der erneuten Etablierung dieser ‚vergessenen‘ Forschungsrichtung in den 1970ern – zu Versuchen einer Bestimmung der Forschungsfelder durch eine harte Abgrenzung gegenüber den als quantitativ bezeichneten Methoden der ‚herkömmlichen Forschungsverfahren‘.“ (GARZ 1995, S. 22)
Qualitative Forschung eine eigene Form der Wissenschaft?
Dabei wurde – gegen den Mainstream – von einem neuen Forschungstrend gesprochen. Siegfried Lamnek (1993) etwa sieht, in seiner schon als Klassiker zu nennenden „Einführung in die Qualitative Sozialforschung“, seine Aufgabe in der Vorstellung des neuen „Paradigmas“ als Abgrenzung zur etablierten Forschung. Es gehe „um die Kritik an der herkömmlichen Sozialforschung, von der aus der neue Forschungstyp auch seinen Ausgang nimmt und in Absetzung davon eigene Prinzipien zu entwickeln sucht“ (LAMNEK 1993, S. 1). Ein solcher bipolarer Wissenschaftsentwurf, der für die quantitative Forschungsrichtung Kritikpunkte sammelt, um diese – ins Positive gewendet – als Grundlage und Definition von Qualitativer Forschung zu nutzen, ist heute längst überholt. Auch die Idee der Qualitativen Forschung als ein eigenes Paradigma wird heute eher kritisch gesehen. Mit einem Paradigma ist in der Wissenschaft eine Forschungsrichtung gemeint, die genau definierten Grundprinzipien folgt. „Menschen, deren Forschung auf gemeinsamen Paradigmata beruhen, sind denselben Regeln und Normen für die wissenschaftliche Praxis verbunden“ (KUHN 1996, S. 26). Ein anerkanntes Paradigma ist ein „festumrissener Forschungskonsensus“. In diesem strengen Sinne von Thomas S. Kuhn kann die Qualitative Forschung im Ganzen nicht als Paradigma verstanden werden. „Der Begriff des interpretativen Paradigmas fungiert gleichsam als Kampfbegriff, unter dessen Banner sich all diejenigen versammelten, denen daran gelegen war, die Dominanz der deduktiv-nomologischen Methodologie aufzubrechen“ (MEUSER 2003, S. 94). So lässt sich ein interpretatives Vorgehen auch für die Quantitative Forschung konstatieren. Heute haben die Abgrenzungskämpfe an Bedeutung verloren.
Viele offene Fragen in der Qualitativen Forschung
In den letzten Jahren ist zu beobachten, dass quantitative Forschungsprojekte oft auch einen (kleinen) qualitativen Teil implementiert haben. Hier stellt sich die Frage der Hierarchie zwischen den Forschungsansätzen in einer neuen Form. Kann etwa im Verlauf einer großangelegten (und teueren) quantitativen Studie ein qualitatives Teilprojekt wirklich die Eigenständigkeit erreichen, die für eine aussagekräftige Forschung nötig wäre, oder besteht nicht die Gefahr, dass die qualitativen Methoden zu einem schmückenden, illustrierenden Beiwerk von quantitativen Ergebnissen und deren Hypothesen werden? Festzuhalten bleibt, dass qualitative und quantitative Methoden jeweils ihre Stärken und Schwächen haben und dass die Herangehensweisen und Ergebnisse nicht gegeneinander ausgetauscht werden können. Qualitative Forschung kann nur gelingen, wenn die Eigenständigkeit und die Eigenlogik dieser Forschung ernst genommen und in der Projektplanung berücksichtigt werden.
Geschichte der Qualitativen Forschung
Viele Definitionen und Bestimmungen der Qualitativen Forschung sind immer noch aus der Geschichte dieser Forschungsrichtung zu verstehen, die sich als ‚Außenseiter-Wissenschaft‘ gegen eine etablierte (quantitative) Forschung abgrenzen und entwickeln musste. Neben unterschiedlichen Definitionsbemühungen, die Qualitative Forschung in scharfer Abgrenzung zu einer als quantitativ verstandenen Forschung konstruieren, ist ein weiteres ‚Erbe‘ aus der Geschichte des Qualitativen Ansatzes zu erkennen. Häufig wurde Qualitative Forschung nicht nur im Kontrast zur Quantitativen Forschung gesehen, sondern auch als ethisch ‚bessere‘ Forschung postuliert. So wurde den „harten“ quantitativen Methoden vorgeworfen, dass sie in ihrer naturwissenschaftlichen Ausrichtung und ihrem „Messfetischismus“ herrschende Verhältnisse bestärkten und das Individuum zu einem Objekt rationaler Instrumentalisierung degradierten, während die „weichen“ qualitativen Methoden, die Subjekte in ihrer Lebenswelt sichtbar machten und zu einem „Nachvollzug des subjektiven gemeinten Sinnes“ beitrügen (LAMNEK 1993, S. 6–38).
Allerdings lässt sich nicht die gesamte Geschichte der empirischen Wissenschaften in diese Dichotomie einordnen. Die Untersuchungen des 19. Jahrhunderts (etwa Emile Durkheims Arbeit über den Selbstmord 1897) kennen die wertende Unterscheidung von „harten“ und „weichen“ Methoden nicht in der heutigen Form (VON KARDOFF 1995, S. 4). Auch eine Reihe von Untersuchungen aus den 30er und 40er Jahren des 20. Jahrhunderts orientieren sich wenig am Wissenschaftsstreit über „messende“ und „verstehende“ Ansätze, sondern versuchen ihre Theorien und Methoden aus der jeweiligen problembezogenen Fragestellung „heraus“ zu entwickeln (ebd., S. 5).
Naturwissenschaft und Geisteswissenschaft als Gegensatzpaar
Die Auseinandersetzung um den Stellenwert der qualitativen Methoden ist Teil der abendländischen Wissenschaftsgeschichte. Da sich die empirischen Ansätze etwa in der Psychologie und Soziologie seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert eng an den Vorstellungen der Naturwissenschaften orientierten und naturwissenschaftliche sowie mathematische Verfahren mit großem Erfolg und mit großer Anerkennung als Main-Stream-Wissenschaft etablierten, gerieten Ansätze, die nicht „positivistisch“ ausgerichtet waren, ins Abseits (KLEINING 1995, S. 11). Diese deutliche Abkehr der empirischen Wissenschaften von den traditionellen Geisteswissenschaften und der Siegeszug des naturwissenschaftlichen Denkens in einer technisch-rationalen Kultur führte zur Distanzierung der Wissenschaften von nicht-mathematisierbaren Ansätzen. So wurden Fragen des Zusammenhangs von Erkenntnis und Ästhetik oder von Wissenschaft und Ethik ausgeblendet. Ehemals philosophisch diskutierte Begriffe wie Ästhetik, Geschmack, common sense, Takt, Gefühl, Einfühlung, Kunst verloren mit der Abkehr der Naturwissenschaften von den Geisteswissenschaften an Bedeutung und gingen für die Gewinnung von Erkenntnis verloren. Im Anschluss an Kants Definition des Geschmacks als allein subjektive Kategorie, kommt Hans-Georg Gadamer (1990, S. 46) zu dem Schluss, dass mit dieser Abkehr von der geisteswissenschaftlichen Tradition auch die Möglichkeit der Begründung und Legitimation einer geisteswissenschaftlichen Empirie erschwert wurde.
Die Geisteswissenschaften wurden forthin an den Naturwissenschaften gemessen und die Begründung einer qualitativ-verstehenden, historisch orientierten Methode erschwert. Noch heute zeigt sich, dass es schwierig ist, Ergebnisse zu formulieren und zu legitimieren, die nicht an objektiven Kriterien von Signifikanz und Repräsentanz orientiert sind, sondern die der inneren Logik des Datenmaterials folgen (STRAUSS 1991).
Positivismusstreit
Die Frage, ob Wissenschaft eine objektive Distanz zu ihrem Gegenstand haben müsse, oder ob nicht im Gegenteil Werturteile und die gesellschaftlich-politische Relevanz der Forschung die Wissenschaft leiten solle, wurde in den 60er-Jahren mit dem Positivismusstreit in scharfer Form ausgetragen.
„In der Konfrontation von Adorno und Popper […] 1961 sowie deren Fortführung durch Habermas (1963) und die Replik Alberts (1964) schälten sich das Verständnis […] der kritisch-rationalen wie der kritisch-theoretischen Wissenschaftsrichtung deutlich und nachhaltig heraus mit dem Ergebnis, dass die Vormachtstellung der mit dem Kritischen Rationalismus einhergehenden quantitativen Methoden auf der Grundlage einer gesellschaftstheoretisch-gesellschaftskritischen Ausrichtung in Frage gestellt wurde.“ (GARZ 1995, S. 23)
Im angloamerikanischen Raum dagegen hatte die Qualitative Forschung auch in den 30er- und 50er-Jahren eine Tradition, auf der die Renaissance dieser Forschungsrichtung aufbauen konnte. Flick, von Kardorff und Steinke (2004, S. 27) stellen heraus, dass die angloamerikanischen Diskussionen „stark von einer neuen Reflexivität und Infragestellung methodischer Gewissheiten geprägt“ waren. Selbstkritische Einschätzungen der Grenzen der eigenen Methoden standen im Angloamerikanischen den deutschsprachigen Bemühungen gegenüber, die neue Forschung als bessere Forschung zu etablieren, systematisieren und in Lehrbüchern zu „kanonisieren“.
Praxis der Qualitativen Forschung
Der Aufstieg der Qualitativen Forschung hat die Biografien der qualitativen Forscherinnen und Forscher und die Wahrnehmung dieses wissenschaftlichen Ansatzes bis heute geprägt. So verband sich in den 70er- und 80er-Jahren mit der Qualitativen Forschung das Bewusstsein einer „besseren“ im Sinne einer „humaneren“ und „politischeren“ Forschung, aber auch die Erfahrung geringerer Anerkennung in der Öffentlichkeit, die Tatsache des stärkeren Zwangs zur Legitimation der eigenen Forschung sowie die Befürchtung einer geringeren Förderung mit Forschungsgeldern. Horst Weishaupt stellt demgegenüber in seiner Analyse der Forschungstraditionen der Qualitativen Forschung fest, dass die Abgrenzungsbemühungen, die die methodologischen Diskussionen lange Zeit bestimmt haben, „für die Praxis der Qualitativen Forschung von untergeordneter Bedeutung sind“ (WEISHAUPT 1995, S. 94).
Auch wird deutlich, dass Qualitative Forschung zwar in vielen Disziplinen angewandt wird, dass sie aber nur rund 12 % aller empirischen Projekte ausmacht (ebd., S. 81).
Weishaupt betont in seiner Analyse, dass sich nicht nur hinter dem Begriff der Qualitativen Forschung theoretisch sehr unterschiedliche Ansätze verbergen. Auch in der Praxis der Forschung sei die qualitative Forschungslandschaft sehr heterogen. Betrachtet man die durchgeführten Projekte lassen sich die den Studien zugrunde gelegten Methodenbegriffe in drei (sich überschneidende) Bereiche klassifizieren: „biografische“, „hermeneutische“ und „lebensweltliche“ Projekte, wobei diese Einteilung nicht alle Ansätze vollständig umfasst (ebd., S. 83). Insgesamt hätten Qualitative Forschungsprojekte die gleichen Chancen, „einen Geldgeber zu finden, wie andere Vorhaben empirischer Sozialforschung“ (ebd., S. 92).
Zum Mit- und Nebeneinander von Quantitativer und Qualitativer Forschung
Diese Aus- und Abgrenzungs-Politik in den Kultur- und Sozialwissenschaften ist weitgehend überholt und überwunden (FLICK 2004). Die Pole Qualitativ und Quantitativ scheinen immer weniger geeignet, ganze Forschungsrichtungen scharf voneinander zu trennen. Vielmehr lassen sich beide Herangehensweisen in nahezu allen Forschungsvorhaben finden, allerdings mit unterschiedlicher Gewichtung. Viele Studien verbinden quantitative mit qualitativen Methoden, wobei sich unterschiedliche Formen der Kombination beider Ansätze finden lassen. „Die klassische Verbindung qualitativer und quantitativer Methoden besteht darin, dass zur Vorbereitung einer standardisierten Untersuchung, die zu einer quantitativen Generalisierung führen soll, eine qualitative Exploration durchgeführt wird“ (OSWALD 2003, S. 83). Eine qualitative Exploration vor eine quantitative standardisierte Erhebung zu stellen ist immer dann sinnvoll, wenn über das zu erforschende Phänomen nur wenig bekannt ist. Quantitative Methoden setzen Hypothesen voraus, die im Forschungsprozess getestet werden. Das heißt, nur wenn schon ein gewisses Grund- oder Vorwissen vorhanden ist, lässt sich eine quantitative Studie entwerfen. Eine qualitative Exploration hilft hier, die Voraussetzungen für Quantitative Forschungen auf unbekannten Gebieten zu schaffen.
Kombination von qualitativer und quantitativer Forschung
Eine zweite wichtige Kombination zwischen Quantitativer und Qualitativer Forschung ist die Ergänzung einer repräsentativen, standardisierten Erhebung durch qualitative Methoden. Die qualitative Methode dient in diesem Fall dazu, zu einem besseren, „tieferen“ Verständnis von statistischen Ergebnissen beizutragen. Die qualitativen Beschreibungen illustrieren zum einen die quantitativen Zahlen, zum anderen führen sie zu neuen Erkenntnissen, in dem eine statistisch gesicherte Erscheinung in einen breiten und komplexeren Zusammenhang gestellt wird. „Durch die Verbindung quantitativer und qualitativer Methoden“ – so Hans Oswald (2003, S. 83) – könnten sowohl die Einschränkungen der Quantitativen Forschung (zu starke Reduktion der Daten auf Zahlen) und die der Qualitativen Forschung (wie allgemeingültig sind die Einzelfälle?) vermieden werden. Diese positive Sicht auf eine mögliche Kombination von qualitativen und quantitativen Methoden muss allerdings mit Skepsis und Vorsicht betrachtet werden. Keineswegs können unterschiedliche Methoden beliebig oder „naiv“ gemischt werden – beispielsweise mit der Vorstellung, dass zwei Ansätze auch das Doppelte an Ertrag bringen.
Gütekriterien
Für die Qualitative Forschung können – so ein kritischer Einwand – die Gütekriterien (Validität, Reliabilität und Objektivität) nicht einfach übertragen werden. Winfried Marotzki betont, dass quantitative Verfahren keineswegs herangezogen werden können, „um qualitative Ergebnisse zu validieren, sondern dann herangezogen werden, wenn sie weiteren Erkenntnisgewinn versprechen“ (MAROTZKI 1995b, S. 80).
Eine dritte Form der Kombination beider Methoden ist die theoretische und methodische Verbindung beider Ansätze zu einer gemeinsamen Forschungsstrategie. Es bleiben nicht mehr beide Pole in ihren Eigenheiten erhalten, sondern neue Ansätze werden entwickelt, die Anteile beider Forschungsstrategien vereinen. Damit können unstandardisiert erhobene Daten sowohl qualitativ wie quantitativ ausgewertet werden (OSWALD 2003, S. 83).
Wenn allerdings die quantitative Ausrichtung als Leitdisziplin fungiert, bleibt die Frage, ob nicht das Verständnis für das qualitative Forschen erschwert wird. Zu einer komplexen Forschungslandschaft gehört in jedem Fall die Eigenständigkeit der qualitativen Ansätze.
Offenheit und Angemessenheit als Grundregel
Die Nicht-Standardisierung der Forschung ist eine zentrale Grundlage des qualitativen Ansatzes, und die wichtigsten Gütekriterien der Qualitativen Forschung sind die Angemessenheit der qualitativen Theorien und Methoden für das gewählte Forschungsproblem sowie eine transparente und glaubwürdige Darstellung der Gewinnung und Interpretation der Daten. So offen die Kriterien der Qualitativen Forschung im Ganzen sind, so eng sind mitunter die Qualitätskriterien für einzelne Forschungsrichtungen. Beispielweise ist das theoretische und methodische Vorgehen in einzelnen Forschungsrichtungen durch lange Traditionen entwickelt und in der jeweiligen Forschungskultur etabliert, diskutiert und kontrolliert. Bekannte und elaborierte Verfahren und Richtungen sind etwa die Grounded Theory, die Qualitative Inhaltsanalyse, die Objektive Hermeneutik oder die psychoanalytische Forschung. Gegenstand, Vorgehen und Theorie der Qualitativen Forschung kann also im konkreten Fall sehr genau definiert sein.
Insgesamt aber ist es sehr schwer, eine einheitliche Definition über das heterogene Forschungsfeld der Qualitativen Forschung zu entwickeln. Zu finden sind Absteckungen des Forschungsbereiches, die die Mitte offen lassen und somit eine produktive Entwicklung ermöglichen. Solche offenen Konzepte von Begriffen, die ein Gebiet zwar abstecken, aber kein starres Konzept festschreiben, finden sich relativ häufig in der Wissenschaft. Begriffe wie Kultur, Bildung oder Sozialisation gewinnen ihre Stärke gerade durch eine offene Bestimmung, die in unterschiedlichen Ansätzen gewinnbringend umgesetzt werden.