Читать книгу Qualitative Methoden in der Erziehungswissenschaft - Burkhard Fuhs - Страница 14
2.1 Fremdheit als Prinzip
ОглавлениеFremde Welten
Die hier dargelegte Definition qualitativer Ansätze als wissenschaftliche Arbeit an der Grenze zwischen zwei Bedeutungswelten führt zu dem Begriff der „Fremdheit“. Wenn Qualitative Forschung Phänomene verständlich machen will, die zuvor nicht oder unzureichend verstanden wurden, bedeutet dies, dass es Bereiche der menschlichen Welt gibt, die grundsätzlich anderen Menschen fremd sind. Wenn wir davon ausgehen, dass die Qualitative Sozialforschung vor allem Menschen erforscht und dass es menschliche Formen des Lebens gibt, die anderen Menschen unverständlich bleiben, dann bedarf es einer wissenschaftlichen ‚Übersetzungskultur‘, um diese fremden Welten zu erschließen.
Kontrolliertes Fremdverstehen
„Das Erkenntnisprinzip qualitativer Forschung“ – nach FLICK, VON KARDORFF UND STEINKE (2004, S. 23) – „ist […] eher das Verstehen von komplexen Zusammenhängen als die Erklärung durch die Isolierung einzelner (z. B. Ursache-Wirkungs-)Beziehungen. Verstehen richtet sich im Sinne des „methodisch kontrollierten Fremdverstehens“ (ARBEITSGRUPPE BIELEFELDER SOZIOLOGEN 1976a) auf den „Nachvollzug der Perspektive des Anderen. Um dieser Perspektive möglichst großen Spielraum zu lassen […], ist vor allem die Datenerhebung bei der qualitativen Forschung vom Prinzip der Offenheit geprägt […]: Fragen werden offen formuliert, in der Ethnografie wird nicht mit starren Beobachtungsrastern, sondern offen beobachtet“. Die Untersuchung einer „Fremde“ bedeutet also methodisch und theoretisch, dass zu Beginn keine klaren Vorstellungen, keine eindeutig formulierbaren Hypothesen vorliegen können, dass die Forschung stets mit unbekannten, unerwarteten Phänomenen und Bedeutungen konfrontiert ist, auf die sie sich einstellen muss (FLICK/ VON KARDORFF/STEINKE 2004, S. 17). Ziel der Forschung ist es immer, vertraute und eingespielte Denk- und Interpretationsmuster in Frage zu stellen. Die Fremde in der Ferne wird tendenziell durch die qualitative Beschreibung und Interpretation verständlicher und vertrauter, während die vertraute Nähe bekannter Lebenswelten durch die Qualitative Forschung überraschend fremd wird, weil sie neu gesehen und verstanden werden kann. Ina-Maria Greverus (1987a) beschreibt in ihrem Aufsatz „Nahe Fremde, ferne Nähe“ die Erfahrung von Fremde als ein zentrales Kulturdilemma moderner Gesellschaften, wobei durch Migration und vielfältige ‚Subkulturen‘ der eigene Alltag zunehmend fremder wird, während uns die Fremde in fernen Gebieten durch medial vermittelte Bilder und Mythen sowie durch Reisen als Sehnsuchtsorte merkwürdig nah erscheint.
Fremdheit als methodisches und theoretisches Prinzip
Fremdheit als theoretisches und methodisches Prinzip und Problem der Forschung ist also nicht nur auf die Ferne beschränkt. Qualitative Forschung kann in einem vertrauten Gebiet als Forschung in der „fremden Nähe“ beschrieben werden und „als Wahrnehmung von Fremdheit in der modernen Lebenswelt, in der ‚das Abenteuer gleich um die Ecke‘ beginnt“ definiert werden (GREVERUS 1987a). Die qualitative Erforschung der Fremde wird hier in einem engen Bezug zu exotischen Gefühlen gestellt. Die Erforschung des fremden Alltags erscheint als lustvolles Abenteuer, das die Forscher zu bestehen haben. Eine solche ‚positive‘ emotionale Aufladung der zu erforschenden Fremde als Abenteuer ist nur eine Form der Erfahrungen des Fremden. Sehnsucht nach der Fremde und Angst vor der Fremde, Exotismus und Xenophobie liegen nicht so weit auseinander, wie man vielleicht vermuten könnte (ERDHEIM 1987), weil sie beide von Bildern gespeist werden, die ihre Energie aus dem Unbewussten erhalten. So ist stets auch die Frage zu stellen, wie die Einstellung eines Forschers oder einer Forscherin zu der von ihm oder ihr untersuchten Kultur ist und (im Kontrast) welche Erfahrungen, Bilder, Einstellungen und Emotionen die Forscher mit ihrer „Heimat“-Kultur verbinden. Warum favorisiert jemand die Qualitative Forschung? Warum sucht jemand die „exotische“ Fremde – sei es in Übersee oder im „fremden Alltag um die Ecke“? (LINDNER 1987). Sind Ethnografen Menschen, die der Zivilisation, der eigenen Kultur, die als negativ erlebt wird, entkommen möchten? Und Lindner beschreibt die Feldforschung als eine „erwachsene“ Möglichkeit für den Ethnografen, sich mit einer „ungeliebten Herkunftskultur“ auseinanderzusetzen, neue Lebensformen wahrzunehmen und zu erforschen und sich im Fremdwerden als einer zweiten Sozialisation, einem „Prozess der Katharsis“ zu unterziehen.
Forscher und Beforschte sind also stets durch Bilder der Fremde, durch Forschungstraditionen, durch Machtverhältnisse und biografische Motivationen, durch Hoffnungen und Wünsche, aber auch durch Ängste und Erwartungen miteinander verbunden. Dabei haben sich im Zuge der Entwicklung der Ethnografie nicht nur die Methoden und Theorien, sondern auch die Erwartungen an die Forschung tief greifend verändert. Zum besseren Verständnis des Zusammenhangs von Qualitativer Forschung und Fremde soll im Folgenden zunächst die „traditionelle“ Ethnografie in den Blick genommen werden.
Exotische Fremde
Im vielleicht traditionellsten Sinn ist Fremdheit die Begegnung zweier unterschiedlicher Kulturen, die jeweils getrennt voneinander existieren und bis zu ihrer Erforschung keine (oder nur minimale) Berührung miteinander hatten. Jemand verlässt seine Heimatkultur und begegnet in der Ferne Menschen, deren Verhalten und Aussehen ihm fremd sind. Oder umgekehrt, fremde Menschen treten in die eigene bekannte Lebenswelt ein.
„Versetzen Sie sich in die Situation, allein an einem tropischen Strand, umgeben von allen Ausrüstungsgegenständen, nahe bei einem Eingeborenendorf abgesetzt zu sein, während die Barkasse oder das Beiboot, das Sie brachte, dem Blick entschwindet. […] Stellen Sie sich des weiteren vor, dass Sie Anfänger sind ohne vorhergehende Erfahrung, ohne irgendeine Anleitung und jemanden, der Ihnen hilft […]. Genau dies beschreibt meine ersten Schritte in der Feldforschung an der Südküste Neuguineas. Ich erinnere mich gut der langen Besuche, die ich den Dörfern während der ersten Wochen abstattete. Das Gefühl der Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung nach vielen unbeirrten, aber vergeblichen Versuchen machte es mir völlig unmöglich, in eine wirkliche Berührung mit den Eingeborenen zu kommen oder mich mit irgendwelchem Material zu versorgen. Ich erlebte Perioden der Mutlosigkeit, während derer ich mich im Romanlesen vergrub, ähnlich einem Mann, der im Anfall tropischer Depression und Langeweile zu trinken beginnt.“ (MALINOWSKI 1979, S. 26)
„Vater“ der ethnografischen Forschung
Diese Schilderung eines Erstkontaktes zwischen europäischem Forscher und einer fremden Eingeborenen-Kultur stammt vom „Vater“ der ethnografischen Feldforschung, Bronislaw Malinowski, und findet sich in einem klassischen Werk qualitativ-ethnografischer Forschung, und zwar in der Studie über die „Argonauten des westlichen Pazifik“, eine Untersuchung der Seefahrten der Eingeborenen in Melanesisch-Neuguinea. Mit eben dieser Haltung hat Malinowski eine neue revolutionäre Methode auch für die Sozialwissenschaften entwickelt, in dem er die „kulturelle Situation der ‚Fremdheit‘ als ein methodisches Prinzip der Forschung eingeführt [hat], das systematisch dabei hilft, das Verstehensproblem zwischen den Kulturen neu zu thematisieren“ (KASCHUBA 2003, S. 68).
Auch wenn Forscher wie Malinowski nichts oder nur wenig über die zu erforschende Kultur wussten, gab es doch schon im Jahr 1900 eine lange Tradition in Europa, mit dem Fremden umzugehen. Dabei findet sich nicht nur eine einzige Vorstellung von Fremdheit, sondern unterschiedliche Erfahrungen der Fremde treffen aufeinander (WALDENFELS 1999). Von der Erotik und Exotik des Fremden bis zur Ablehnung des Fremden reicht die Spannweite.
Fremde als kulturelle Erfahrung ist nichts Neues.
„Der Umgang mit der fernen Fremde bestimmte die europäische Geschichte seit der Frühen Neuzeit im besonderen Maße. Der Blick der ‚Zivilisierten‘ auf die ‚Wilden‘ prägte über Jahrhunderte die Vorstellungen der europäischen Kulturen über sich selber und prägte in der Kolonialgeschichte die Überzeugungen der eigenen Überlegenheit.“ (BITTERLI 1982, S. 5)
Ethnografie und Herrschaftsblick
Mit Beginn der modernen Ethnografie stehen immer wieder die grundlegenden methodischen und theoretischen Fragen auf der Tagesordnung der Erforschung „fremder Kulturen“.
Wie etwa erhalte ich zuverlässige Informationen über die fremde Kultur? Verstehe ich die Fremde richtig, welche Methoden sind geeignet, ein „richtiges“ von der Fremde zu vermitteln? So betont Bronislaw Malinowski 1922 in seinen „Argonauten“ die hohe Bedeutung des richtigen theoretischen und methodischen Vorgehens. Für Malinowski erwiesen sich die Informationen der Weißen hinsichtlich der Eingeborenenkultur als im hohen Maße entmutigend. „Hier gab es Menschen, die jahrelang am Ort wohnten, denen es ständig möglich war, die Eingeborenen zu beobachten, sich mit ihnen zu unterhalten, und die dennoch kaum etwas von ihnen zuverlässig wussten“ (MALINOWSKI 1979, S. 27).
Eurozentrismus als Problem
Qualitative Forschung geht von einer Gleichwertigkeit der unterschiedlichen Kulturen aus, wertende (koloniale) Einstellungen stehen nicht nur gegen die Forschungsethik, sondern machen eine objektive Forschung unmöglich. Eine eurozentristische Forschung und ein Herrschaftsblick auf die „Eingeborenenkultur“ sind zentrale Probleme, die es in der Forschung zu bewältigen gilt.
„‚Die Anthropologie beginnt zu Hause‘, schrieb Malinowski im Vorwort zu einer der frühsten afrikanischen Ethnografien, Jomo Kenyattas Facing Mount Kenya, die sich in Stil, Pathos und ‚Färbung‘ von europäischen Ethnografien unterscheidet.“ (KRAMER 1981, S. 426)
Parteilichkeit als ethisches Prinzip der Qualitativen Forschung
„Zu Hause zu beginnen“ bedeutet für die qualitative ethnografische Forschung, sich von den Vorurteilen und „althergebrachten Lehrmeinungen“ zu befreien, oder am Beispiel der von Malinowski untersuchten Kulturen, sich von Bildern der Menschen als „Wilde“, als „bestialische“ und „sittenlose“, als „gesetzlose“ und „grausame“ Eingeborene, die „mehr oder weniger nach Lust und Laune am Busen der Natur leben“, zu lösen und die komplexen Strukturen und Regelhaftigkeiten der fremdem Kultur aus sich selbst zu erklären (MALINOWSKI 1979, S. 32). Der Ethnologe arbeitet systematisch und theoriegeleitet am Verständnis einer fremden Kultur und verhält sich dabei parteilich, indem er den Eigensinn der fremden Kultur gegen die Vorurteile (seien sie im kolonialen Sinne entwertend oder im Sinne einer Exotikvorstellung ästhetisch verschönend) in Schutz nimmt. Während die herrschende europäische Meinung ein „krasses Fehlurteil“ ist, versucht die ethnografische Forschung im Sinne Malinowskis den „tatsächlichen Sachverhalt“ zu erfassen. Die Forscher – so die frühe Ethnografie – haben die Aufgabe, einen Überblick über die Phänomene einer Kultur zu geben,
„und nicht das Sensationelle und Einzigartige, schon gar nicht das Lustige und Wunderliche herauszulesen. Die Zeiten, als wir Berichte tolerieren konnten, die uns die Eingeborenen als verzerrte, kindische Karikaturen des Menschen präsentierten, sind vorbei. Dieses Bild ist falsch und wurde wie so viele andere Unwahrheiten durch die Wissenschaft gelöscht.“ (MALINOWSKI 1979, S. 33)
Haltung der Wertfreiheit
Die Qualitative Forschung hat es mit einer Grenze zweier sinnhafter Entwürfe von Welt zu tun, die deutlich durch Herrschaft und Eurozentrismus markiert ist. Die „Exotischen Welten“, die die Wissenschaft erforschen will, lassen sich nur als „Europäische Phantasien“ deuten (EXOTISCHE WELTEN 1987). Die fremde Kultur verständlich zu machen, bedeutet deshalb immer, an den Grundannahmen der eigenen (Forschungs-)Kultur, der Forscher und an den Bildern und (Vor-)Urteilen der Zielkultur zu arbeiten. Danach darf ein Forscher beim Studium einer fremden Kultur keineswegs zwischen „langweiligen“, „alltäglichen“ und „gewöhnlichen“ Phänomen und solchen Phänomen, die ihn „erstaunen“ und ihm „auffallen“ unterscheiden (MALINOWSKI 1979, S. 33), weil er durch diese Wertungen eine durch seine eigene Kultur verzerrte Darstellung der Fremde produziert.
Ethnografie und Moderne
Dass fremde Kulturen für die Qualitative Forschung eine große Bedeutsamkeit haben, darauf verweisen auch die Motive, die in den zivilisierten technischen Ländern zur Herausbildung der ethnografischen Forschung geführt haben. Ethnografie ist auch ein Weg der westlichen Kulturen, mehr über sich selbst zu verstehen. Ethnografie im Sinne von Malinowski ist auch ein Versuch, die Vielfalt menschlicher Kulturen zu retten und zu bewahren, oder sie zumindest für die Nachwelt zu beschreiben.
Noch deutlicher als Malinowski hat Margaret Mead (MEAD 1974) seit den 1920er-Jahren das Interesse der westlichen Welt an der Vielfalt der fremden Kulturen für ein Verständnis der zivilisierten Welt formuliert. Beispielsweise diskutiert sie die Frage, ob die Unterschiede zwischen Männern und Frauen biologischer Natur oder kultureller Herkunft seien, anhand eines Vergleichs der Geschlechterrollen in unterschiedlichen Kulturen und kommt zu dem Schluss, dass der Einfluss der Kultur weit größer ist, als wir aus unserem engen westlichen Blick annehmen. Vieles, was in der amerikanischen Kultur am Männer- und Frauen-Bild als natürlich gegeben erscheint, sei tatsächlich Ausdruck kultureller Prägung.
In einem weitergefassten Verständnis kann jede Qualitative Forschung als Ausdruck der Moderne und Modernisierung verstanden werden, als eine Auseinandersetzung mit den menschlichen Lebensbedingungen in einem Zeitalter des technischen Wandels. Um sicherzustellen, dass die Menschen den rapiden technischen Wandel ihrer Lebenswelt unbeschadet überstehen, sei es notwendig – so Margaret Mead 1954 in einem Buch für die UNESCO – über die kulturellen Lebensformen nachzudenken, die den Erhalt menschlicher Werte sichern (MEAD 1955, S. VII.).
Wertung und Bewertung der Fremde
Qualitative ethnografische Forschung übersetzt nicht einfach mit Mitteln einer wissenschaftlichen Kultur Bedeutungen einer fremden Lebenswelt für die Leser und Leserinnen einer Zielkultur. Qualitative Forschung ist immer in den Fragen und Problemen ihrer Herkunftskultur begründet und muss große Anstrengungen unternehmen, der fremden Kultur, die für die Forscher durch Vorurteile aber auch durch drängende Fragen verstellt ist, näher zu kommen. Keineswegs sind beide Bedeutungswelten strikt voneinander getrennt, und das Arbeiten an der Fremde ist immer auch ein Arbeiten an den Selbstverständlichkeiten der eigenen Kultur.
Wie erwähnt hat die Qualitative Forschung das Problem, dass sie es mit Wertungen und Bewertungen zu tun hat. Zum einen bedarf es besonderer Anstrengungen, dem fremden Phänomen nicht selektiv und wertend gegenüber zu stehen. Zum anderen ergibt sich aus den Vorurteilen, die immer schon über die „Anderen“ bestehen, dass der Forscher in einem besonderen Maße für die fremde Lebenswelt Partei ergreifen muss, um sie verständlich zu machen. Hieraus resultiert, dass der Forscher sich mit Vorurteilen und Stereotypen befassen sollte, um die fremde Lebenswelt nicht durch ‚bedeutungsvolle‘ (moralische) Willensbekundungen misszuverstehen.