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3.1 Forschen in komplexen Gesellschaften

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Komplexe Gesellschaften als Fremde

Während die traditionelle Ethnografie die Fremde in der Ferne untersuchte (jene Fremde, die nur über das Reisen zu erschließen war), zielt die Qualitative Forschung in den Sozialwissenschaften in der Regel auf die Erforschung von Lebenszusammenhängen in der „eigenen Gesellschaft“, also in der Kultur, aus der die Forschenden stammen und in der die jeweilige Qualitative Forschung entstanden ist. Schon im Zusammenhang mit der Ethnografie ist deutlich geworden, dass es Ansätze gibt, die ‚eigene‘ Kultur wie eine ‚fremde‘ zu untersuchen. Hirschauer und Amann sehen diese Ansätze, die seit einiger Zeit unter dem Stichwort „Ethnography at home“ (HIRSCHAUER/AMANN 1997, S. 9) diskutiert werden, in der Tradition der Chicagoer Schule und KNOBLAUCH (2005, S. 3) empfiehlt, sie unter dem Begriff „soziologische Ethnografie“ zusammenzufassen. Die Aufgabe einer solchen soziologischen Ethnografie wäre demnach eher, „Vertrautes zu befremden“ als „Fremdes vertraut zu machen“ (HIRSCHAUER/AMANN 1997, S. 12), und statt des Begriffes „Fremdheit“, der immer mit einer unterschwelligen Wertung verbunden ist, wäre von „Andersartigkeit“ oder von „kulturellen Differenzen“ zu sprechen. Unter der Chicagoer Schule wird eine soziologische Forschungsrichtung verstanden, die mit Namen wie Robert Park, Ernest Burgess oder Herbert Blumer verbunden ist und in deren Kontext vor allem in den Jahren 1915 bis 1935 zahlreiche innovative empirische Arbeiten zum Leben in modernen Industriegesellschaften entstanden sind (BULMER 1984).

Der Blick auf die Moderne

Bei diesen Studien handelt es sich um Forschungsarbeiten, die eine Vielzahl von Methoden nutzen, welche auch für die Qualitative Forschung richtungsweisend waren. Es waren Arbeiten, die sich vor allem mit der modernen Großstadt als einem „sozialen Laboratorium“ auseinandersetzen, „in dem neuartige chaotische Entwicklungen multikultureller Einwanderungsgesellschaften“ beobachtet werden konnten (RIEMANN 2003, S. 27). Es waren Studien, die die Arbeiterkultur, die Slums Amerikas und die Fragen von Ethnizität und Rassismus in den Mittelpunkt ihrer Milieu-Forschung stellten, ohne gleich den Wandel der Gesellschaft moralisch zu verurteilen. Ziel war es, die Lebenssituation und die Leidensprozesse von „randständigen Gesellschaftsmitgliedern“ sichtbar zu machen und „allgemeine Einsichten in Prozesse des modernen Großstadtlebens“ zu gewinnen. „Die meisten der ‚klassischen‘ Monografien sind primär qualitative Mehrebenenuntersuchungen – allerdings oft unter Berücksichtigung von stadtteilbezogenen sozialstatistischen Teilen –, in denen unter Verwendung ganz unterschiedlicher ‚persönlicher Dokumente‘ und offener Beobachtungsmaterialien kollektive und biografische Prozesse aufeinander bezogen wurden und eine differenzierte Perspektivenlandschaft sichtbar wurde“ (RIEMANN 2003, S. 28).

Qualitative Forschung und die soziale Frage

Die soziologische Ethnografie zielt auf das Verstehen der Lebenswelten von Industriestaaten und ihren rasanten ökonomischen, sozialen und kulturellen Wandel, der seit dem 19. Jahrhundert immer neue menschliche Lebensweisen der Moderne entstehen ließ. Insbesondere rückte die Frage der Bewertung und des Umgangs mit sozialen Milieus, die dem Bürgertum fern waren oder ihm bedrohlich erschienen, in den Mittelpunkt des Interesses. Es ist die „soziale Frage“ nach der entstehenden Arbeiterkultur, nach der Entwicklung der Städte als soziale Unruheherde und Orte des Elends und neuer sozialer Lebensformen in den Slums, die die Forschung vorantreibt.

Wandel der Kultur als Problemfeld

Diese „soziale Frage“ der Qualitativen Forschung ist eng verbunden mit der Frage des kulturellen und technischen Wandels. Schon Wilhelm Heinrich Riehl, Schriftsteller, Journalist, Professor für Kulturgeschichte und Statistik und einer der Väter der Volkskunde, sieht Mitte des 19. Jahrhunderts die Notwendigkeit, den Wandel der Kultur durch eigene Anschauung zu erforschen und als Fußwanderer „im unmittelbaren Verkehr mit dem Volke diejenigen Ergänzungen meiner historischen, staatswissenschaftlichen und volkswirtschaftlichen Studien zu suchen, die ich in den Büchern nicht finden konnte“ (RIEHL 1857, Vorwort). Der Wandel der Gesellschaft und die modernen Lebensweisen machten es notwendig, sich empirisch ein Bild von der neu entstehenden Kultur zu machen, die der konservative Riehl freilich zumeist als Verfall deutete. Insbesondere die großen Städte und die neue Arbeiterschaft sah er als Gefahr: (RIEHL 1857, S. 6). Anders als der konservative Riehl verband die sozialistische Bewegung die Kritik an sozialen Missständen immer mit qualitativen Schilderungen, die auf Veränderung der Gesellschaft zielten. Friedrich Engels etwa schildert 1845 detailliert die Lebenssituation der „arbeitenden Klasse“ in England:

„Im Februar 1844 wurde eine Witwe von sechzig Jahren, Theresa Bishop, mit ihrer 26jährigen kranken Tochter der Wohltätigkeit des Polizeirichters von Marlborough Street empfohlen. Sie wohnte in Nr. 5, Brown Street, Grosvenor Square, in einem kleinen Hinterzimmer, nicht größer als ein Schrank, worin nicht ein einziges Stück Möbel war. In einer Ecke lagen einige Lumpen, auf denen die beiden schliefen; eine Kiste diente als Tisch und Stuhl zugleich. Die Mutter verdiente etwas durch Stubenreinigen; sie hatten, wie der Wirt sagte, seit Mai 1843 in diesem Zustande gelebt, allmählich alles verkauft oder versetzt, was sie noch hatten, und dennoch nie die Miete bezahlt. Der Polizeirichter ließ ihnen ein Pfund aus der Armenbüchse zukommen.“ (ENGELS 1845, Das Innere der Proletarierwohnungen)

Auch wenn Riehl und Engels politisch sehr unterschiedliche Konsequenzen aus dem dramatischen sozialen Wandel der Gesellschaft zogen, hat doch bei beiden die Wahrnehmung und Beschreibung eine zentrale Bedeutung. Qualitative Beschreibungen sind hier freilich eingebunden in interessenleitende politische Überzeugen und Absichten.

Während im 19. Jahrhundert die soziale Frage und die Beschreibung von Missständen des sozialen Wandels eines der Grundmotive einer soziologischen Ethnografie „zu Hause“ markieren, gerät mit der zunehmenden Technisierung und dem stetigen Wandel des gesamten Lebensstils um 1900 die Moderne als Ganzes in den Blickpunkt. Nicht nur Außenseiterexistenzen werden für eine qualitative Beschreibung interessant, sondern das ganze moderne Leben in allen seinen Facetten.

Die fremde Moderne in der eigenen Gesellschaft

Während die Volkskunde vor allem den ländlichen Raum unter einer Perspektive des Verlustes untersuchte (BAUSINGER 1971, S. 61), wendeten sich andere Wissenschaften der entstehenden Moderne zu. So lieferten beispielsweise die Studien Werner Sombarts zum Luxus (SOMBART 1921) oder Max Webers Abhandlung über die Protestantische Ethik (WEBER 1904) neue Einsichten zum entstandenen „Kapitalismus“. Von besonderer Bedeutung für die Entwicklung der Qualitativen Forschung waren die Ansätze von Georg Simmel, auf die sich auch die Chicagoer Schule bezog. In Simmels (1098a) soziologischen Studien finden sich auch mikrosoziologische Analysen beispielweise zur sozialen Bedeutung des Raumes, die für die Qualitative Forschung richtungsweisend waren. Für Simmel ist Soziologie nicht eine äußere Beschreibung der Gesellschaft, sondern ein Verstehen der inneren Vorgänge miteinander agierender Menschen:

„Welches äußerliche Geschehen auch immer wir als gesellschaftliches bezeichnen, es wäre ein Marionettenspiel, nicht begreiflicher und nicht bedeutungsvoller als das Ineinanderrinnen der Wolken oder das Durcheinanderwachsen der Baumzweige, wenn wir nicht ganz selbstverständlich seelische Motivierungen, Gefühle, Gedanken, Bedürfnisse, nicht nur als Träger jener Äußerlichkeiten, sondern als ihr Wesentliches und uns eigentlich allein Interessierendes erkennten.“ (SIMMEL 1908a, S. 31)

Auseinandersetzungen mit der Moderne des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts finden sich auch in vielen literarischen und essayistischen Texten, etwa in Upton Sinclairs Text „The Jungle“ (1906), der die sozialen Zustände in den Fleischfabriken Chicagos anprangerte oder in Walter Benjamins so genanntem „Passage-Werk“, das die Großstadt Paris in den Mittelpunkt literarischer Beobachtungen rückte und überraschende Blicke auf Gewohntes eröffnete.

Wissenschaft und Journalismus

Die Beschäftigung mit der Moderne, die sich zwischen Faszination und Schrecken, zwischen Sozialkritik und feuilletonistischer Alltagsbeobachtung bewegte, ist eine zentrale Grundlage der Qualitativen Forschung des 20. Jahrhunderts. Der qualitativen Beobachtung und Beschreibung kommen in diesem Prozess der Selbstreflexion eine besondere Bedeutung zu. Waren viele Stellungnahmen zum sozialen Wandel durch Vorurteile geprägt, sei es durch Fortschrittseuphorie oder durch Kulturpessimismus, versuchten die empirischen Wissenschaften zunächst einmal, den Wandel zu beobachten und zu beschreiben, bevor sie zu einer Bewertung kamen. Die qualitativen Studien hatten von Anfang an mit einem Spannungsverhältnis zwischen journalistischer, literarischer und wissenschaftlicher Publikation zu kämpfen.

Das Unbehagen in der Kultur (Freud 1930)

Was Alexander Mitscherlich Mitte der 60er-Jahre sorgenvoll beschreibt, ist nicht allein das von ihm beobachtete Unvermögen seiner Zeitgenossen, zu Hause anzukommen. Die fehlende Kunst, sich im Leben zu beheimaten, steht für Mitscherlich in einem größeren Zusammenhang der gesellschaftlichen Veränderungen im Zeitalter der technischen Zivilisation. Dabei gehe es nicht um „negative Kritik“ in dem Sinne „wie schön war es doch einst und wie wenig schön ist es heute!“ (MITSCHERLICH 1975, S. 367). Vielmehr soll „so bewertungsfrei wie irgend möglich“ festgestellt werden, „dass der gesellschaftliche Gesamtprozess nicht abzuhandelnde Änderungen unserer Existenzgrundlagen geschaffen hat. Die forschreitende Urbanisierung – mit ihren Verkehrsproblemen und Häusern, die in „erschreckender, starrer Gleichförmigkeit gebaut“ seien – habe Wohnorte ohne „Herz“ und eine Unwirtlichkeit der Städte geschaffen (ebd., S. 371).

Kritik an der Moderne

Die Diskussion der Kritischen Schule um eine Entfremdung der Menschen durch den gesellschaftlichen Wandel ist nur eine Position, die den modernen Menschen und seine technische Lebensweise mit Fremdheit in Verbindung bringt. Die kritische Sicht auf das Großstadtleben könnte etwa in eine Diskussion um Großstadtfeindlichkeit und Agrarromantik eingeordnet werden, wie sie seit dem Ende des 19. Jahrhunderts zu finden ist (FUHS 1997b).

Die Geschichte der Moderne ist aber nicht nur eine Geschichte der Fremdheit in einer sich wandelnden Welt. Es sind keineswegs nur die übermächtigen Strukturen der Gesellschaft, die das Leben der Menschen fremdbestimmen. Sowohl in politischen Bewegungen als auch in der Gestaltung der Lebenswelt und des eigenen Alltags zeigt sich immer wieder, dass Menschen nicht nur Opfer der Verhältnisse sind, sondern diese auch gestalten. Dies wird nicht nur in der Geschichte der Bürgerlichen Kultur (KOCKA/FREVERT 1988) deutlich, sondern auch an vielen „Proletarischen Lebensläufen“ (EMMERICH 1974).

Gesellschaft und Lebenswert

Festhalten lässt sich, dass die Qualitative Forschung in ihrer langen Tradition einen besonderen – wertenden – Blick auf die modernen Lebenswelten herausgebildet hat, der noch heute, wenn auch manchmal verdeckt, die Interessen der Forschenden bestimmt. Es ist eine besondere Anteilnahme an denen, die keine Lobby haben. Für die „Ungehörten“ haben sich Forschende immer wieder eingesetzt. Nicht selten wird dabei die Lebenswelt der Einzelnen als eine Welt mit eigener Bedeutung gegen die „übermächtigen“ Strukturen der Gesellschaft gestellt. Auch wenn diese Ansätze heute nicht mehr dominant sind, ermöglichen sie es, die Geschichte der Qualitativen Forschung und ihrer Forschenden genauer in den Blick zu nehmen.

Im Laufe der bisherigen Überlegungen sind immer wieder Begriffe gefallen, die für die Qualitative Forschung eine Schlüsselstellung einnehmen. So ist von Kultur die Rede, von Lebenswelt und von Bedeutungen, die es zu verstehen gilt.

Qualitative Methoden in der Erziehungswissenschaft

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