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2.2 Nähe und Distanz als Grundlage der Forschung
ОглавлениеBeziehung von Forscher und Beforschten
Die Kategorie der Fremde bestimmt nicht nur das Verhältnis von Untersuchungs- und Zielkultur, sondern durchzieht den gesamten Forschungsprozess. Die Beziehung zwischen dem Forscher und den Beforschten etwa ist nicht einfach gegeben, sondern Teil eines Aushandlungsprozesses während der Forschung.
„Insgesamt betrachtet steht der Forscher […] vor dem Problem der Aushandlung von Nähe und Distanz im Verhältnis zu dem/den Untersuchten, der Offenlegung, Transparenz und Aushandlung der wechselseitigen Erwartungen, Ziele und Interessen und vor der Entscheidung zwischen Innen- und Außenperspektive, unter denen er sich dem Gegenstand seiner Untersuchung nähert. Im Hinblick auf die in einem Forschungsfeld eingenommene Perspektive lässt sich dies auch in der Dialektik von Fremdheit und Vertrautheit für den Forscher bündeln.“ (FLICK 1995, S. 155)
Das Alltägliche als Problem
Dieses Zitat macht deutlich, dass sich aus heutiger Sicht die Hoffnungen der frühen Ethnologen, einen objektiven Zugang zur Fremde zu finden, nicht erfüllt haben. Die Haltung des Forschers kann dabei in einem systematischen Sinne mit der Metapher des „professionellen Fremden“ beschrieben werden. Das Fremde ist nicht losgelöst vom Alltäglichen, das der Forscher wahrnimmt, erfährt und beobachtet. „Einerseits verschafft ihm die Notwendigkeit, sich im Feld zu orientieren und darin zurecht zu finden, Einblicke in Routinen und Selbstverständlichkeiten“, die den Beforschten so vertraut sind, dass sie in der Regel als „fraglos und gesichert“ akzeptiert werden. „Andererseits bleiben dem Forscher als Fremden auch bestimmte Einblicke verwehrt“ (FLICK 1995, S. 154).
Forscher und Feld
Die Geschichte der Qualitativen Forschung zeigt, dass die unbekannte Welt, die es zu verstehen und zu vermitteln gilt, eng mit der Welt des Forschers, mit seiner sozialen Herkunft, mit den Traditionen der Wissenschaft aber auch mit sehr subjektiven Empfindungen, mit seinen Ängsten und Hoffnungen zu tun hat. Damit stellt sich die Frage nach der Bedeutung des Verstehens neu. Wer erklärt wem auf Grund welcher Beobachtungen was? Wer ist berechtigt für wen zu sprechen? Welchen Einfluss hat die eigene Kultur auf die Wahrnehmung der Fremde? Welche Interessen, welche Machtverhältnisse gehen in die Forschung ein? Folgerichtig sehen die heutigen Cultural Studies ihre Aufgabe darin, Machtverhältnisse aufzudecken und die „Projektion eigener Leitbilder auf fremde Kulturen“ sichtbar zu machen (FAUSER 2003, S. 32). Der Mythos von der abenteuerlichen, lustvollen Entdeckung der Fremde gerät dabei zunehmend in eine – teilweise ironische – Kritik (BARLEY 2003). Vieles, was als gesichertes Wissen über „Andere“ galt, entlarvt sich bei näherem Hinsehen als europäisches Vorurteil (FORBECK/WIESAND 1983).
Emotionen des Forschenden
Insbesondere die Emotionen und Hoffnungen, die die Forschenden mit der Qualitativen Forschung verbinden, müssen heute neu und intensiv diskutiert werden. Noch immer finden sich Aufforderungen, das Abenteuer Feldforschung zu begehen, das als Differenz zur eigenen Herkunftskultur verstanden wird. Begeben sich pädagogische Forscher so ins Feld, kann die „nahe Fremde“ in Abgrenzung zur sozialpädagogischen Zielkultur entstehen, wie das folgende Beispiel zur ethnografischen Feldforschung zeigt.
Abenteuerliche Fremde als Problem Qualitativer Forschung lässt sich beispielsweise am „Handbuch Qualitative Forschungsmethoden in der Erziehungswissenschaft“ aufzeigen. Dort heißt es bei Barbara Friebertshäuser (FRIEBERTSHÄUSER 2003a) zur ethnologischen Feldforschung in der Pädagogik:
Forschung als soziales Abenteuer?
„Feldforschung gehört zu den abenteuerlichen und spannenden Forschungsverfahren. Man begibt sich in ein fremdes kulturelles Feld (z. B. zu einer Jugendsubkultur, in ein Behindertenheim, zu Obdachlosen auf die Straße, in ein Seniorenwohnheim) oder eröffnet sich einen neuen Blick auf ein bereits vertrautes Feld (z. B. eine Kindergruppe, eine Schulklasse, eine Mädchen- oder Jungengruppe, eine studentische Kultur). […] Ethnografische Feldforschung erforscht eine räumliche und sozial abgegrenzte Untersuchungseinheit […], indem ein Forschender, ein Paar oder ein Team für einen bestimmten Zeitraum am Alltagsleben teilnimmt, beobachtet, befragt, Material erhebt und die gefundenen Daten und die daraus gewonnenen Erkenntnisse dokumentiert“ (FRIEBERTSHÄUSER 2003c, S. 503f.). „Das soziale Abenteuer entsteht durch die Begegnung und die Auseinandersetzung mit Anderen, dem ‚Fremden‘ und anderen Lebenswelten.“ (ebd., S. 527)
Das Zitat zeigt deutlich, dass insbesondere bei der Aufdeckung von eigenen Projektionen (Wünsche und Ängste) eine kommunikative Kontrolle des Forschungsprozesses wünschenswert ist. Der Forscher sollte – wo immer möglich – mit anderen über seine Arbeit in einen Dialog treten.
Helfersyndrom als Forschungsmotivation?
Die Frage nach Nähe und Distanz als eine Frage der Projektion eigener Vorstellungen führt so zu der Forderung einer intensiven Selbstreflexion, wie sie vor allem in der feministischen Forschung sehr früh und immer wieder gestellt wurde (NADIG 1985). Insbesondere gilt für die erziehungswissenschaftliche Forschung, dass Betroffenheit als Forschungsmethode (GRAFF 2003, S. 735) ebenso problematisch für die Qualitative Forschung ist wie der unreflektierte Wunsch, den Erforschten „pädagogisch“ zu helfen (SCHMIDTBAUER 1992).
William Foote Whyte beschreibt schon in den 60er-Jahren in einem methodischen Kommentar zu seinem „Klassiker“ der Qualitativen Forschung „Street Corner Society“ (WHYTE 1943) eindringlich diesen Grundkonflikt und diese Grunderfahrung der ethnografischen Forschung.
„I come from a very consistent upper-middle-class background. One grandfather was a doctor, the other a superintendent of schools. My father wasa college professor. My upbringing therefore, was very far removed from the life I have described in Cornerville.“ (WHYTE 1967, S. 289)
Als Mittelklassekind wuchs Whyte selber sehr behütet in einer Mittelklassekultur auf, sein Zuhause war sehr glücklich und anregend, aber ohne Abenteuer (ebd., S. 281). Die fehlende Spannung in seinem Leben erfuhr der junge Forscher in den Slums von Philadelphia. Whyte war fasziniert von diesem Abenteuer um die Ecke und von dem Wunsch beseelt, diesen Menschen zu helfen. Erst allmählich musste er lernen, dass er fast nichts über diese Menschen und ihre Welt wusste und entschloß sich zur qualitativen Erforschung seiner „street corner society“.
Angst und Sehnsucht des Forschenden
Sehnsucht nach Abenteuer und Faszination ist nur ein Pol der emotionalen Konstruktion der zu erforschenden Fremde. Verdeckter ist die Angst vor dem Feld, die oft unbewusst den Forschungsprozess beeinflusst und die dafür verantwortlich ist, dass die Forscher bestimmte Dinge in den Blick nehmen und andere vermeiden. Devereux (1967, S. 17) stellt die These auf, dass die Erforschung des Menschen in der Regel durch eine „angsterregende Überschneidung von Objekt und Beobachter“ behindert wird und dass nahezu „alle Mängel der Verhaltenswissenschaften“ auf die Abwehr von Ängsten zurückzuführen sind, die im Forschungsprozess entstehen. Für die Ethnopsychoanalyse, die dieses Problem intensiv erforscht hat, ist deutlich geworden, dass die akademische Kultur und ihr kontrollierter Umgang mit Gefühlen keine leichte Zugangsform zu fremden Kulturen darstellt. Maya Nadig und Mario Erdheim (1984) beispielsweise kommen zu dem Schluss, dass das akademische Milieu oftmals die „wissenschaftlichen Erfahrungen“ zerstört und in den Texten über „fremde“ Kulturen unterschwellige Aggressionen der Forscher einfließen. Feldforschung kann so durchaus zu einem ‚therapeutischen‘ Prozess werden. Supervision und kritische Selbstreflexion wären darum als ein (professioneller) Teil des Forschungsprozesses denkbar und sinnvoll. So wünschenswert eine professionelle Begleitung und Reflexion des Feldforschungprozesses wären, so eng setzt die Forschungspraxis hier in der Regel Grenzen. Das heißt aber nicht, dass Forscher nicht über die eigenen Gedanken und Emotionen nachdenken sollen. Das Forschungstagebuch bietet eine gute und erprobte Möglichkeit, eigene Eindrücke, Gefühle, Erwartungen und Enttäuschung niederzuschreiben und zu reflektieren.
Methode und Theorie in der Diskussion
Während die Renaissance der ethnographischen Forschung in der deutschsprachigen Pädagogik in den 1990er-Jahren vor allem auf Diskussionen über Methodenfragen konzentriert war (BREIDENSTEIN 1996; BOHNSACK/FRIEBERTSHÄUSER/KRÜGER 2002), schien es zur gleichen Zeit aus Sicht der angloamerikanischen Ethnografie notwendig, Qualitative Forschung stärker auf ihre theoretischen Leitlinien hin zu befragen und sich auf die wesentlichen Fragen der Ethnografie zurückzubesinnen.
Es komme darauf an,
Aufgaben der Ethnografie
„neue Wege zu finden, die Versprechen einzulösen, auf denen die moderne Anthropologie begründet wurde: uns lohnende und interessante Kritiken an unserer eigenen Gesellschaft zu eröffnen; uns über andere menschliche Möglichkeiten aufzuklären; ein Bewusstsein dafür zu schaffen, dass wir nur ein Kulturmuster unter vielen sind und uns jene selbstverständlichen, ungeprüften Vorannahmen zugänglich zu machen, unter denen wir handeln und unter denen wir Mitgliedern anderer Kulturen begegnen. Anthropologie ist keine unbekümmerte Sammlung von Exotik, sondern der Einsatz kulturellen Reichtums zur Selbstreflexion und zur eigenen Entwicklung.“ (MARKUS/FISCHER 1999, S. IX, Übersetzung B. F.)
Damit steht die Selbstreflexion und die Frage „warum ich wen qualitativ erforschen will“ im Zentrum der Überlegungen. Erst die theoretische Bestimmung der Forschung und die „politische“ Reflexion des Ansatzes und seiner gesellschaftlichen Einbindung ermöglicht eine wissenschaftlich fundierte Form der Qualitativen Forschung.
Kritik am Konzept der Fremde in der Qualitativen Forschung
Aus heutiger Sicht werden von der Ethnologie die Forderungen und Konzeptionen der früheren Ethnografie in Frage gestellt (FAUSER 2003, S. 27). So zeigt etwa das Tagebuch MALINOWSKIS (1986), dass der Forscher selbst seinem hohen Ziel, mit den Eingeborenen zu leben, nicht gerecht werden konnte und unter seinem Aufenthalt in Neuguinea bei den Trobiandern sehr gelitten hat. Auch Malinowskis Anspruch, Sprecher der fremden Kultur zu sein, wird heute eher kritisch gesehen. Fritz Kramer etwa macht darauf in seinem Nachwort aufmerksam, dass heute die Trobiander „für sich selbst sprechen“ (MALINOWSKI 1981, S. 416). Auch wurde in nachfolgenden Forschungen deutlich, dass das Bild, das Malinowski entwirft, den Trobiandern selbst fremd erscheint und dass die Aussagen des Forschers im Nachhinein von den erforschten Gewährsleuten nicht akzeptiert wurden. Die Absicht, die fremde Kultur aus sich selbst zu erklären, ist also in vielerlei Hinsicht „nicht eingelöst worden“ (ebd., S. 426). Dies sei aber keine Schmälerung der Forschung, denn „der Sinn der Ethnografie als Literatur liegt […] nicht so sehr darin, sich in den Anderen hineinzuversetzen, als es möglich zu machen, sich die Realität einer anderen Lebensform, anderswo, in Augenblicken der Abwendung von den eigenen Gefühlen, Hoffnungen und Wünschen, vor Augen zu führen“ (ebd.). Hier wird noch einmal die Arbeit an der fernen Fremde in einer grundsätzlichen Weise als Arbeit an der eigenen Welt definiert.
Dass ethnografisches Schreiben traditionell immer ein Entwurf fremder Welten aus einer verzerrenden Perspektive euro-amerikanischer Wissenschaft war, hat Clifford Geertz (1993) unter anderem am Beispiel Malinowski, Mead und Benedict dargestellt. Die Kritik an der traditionellen Ethnografie ist in den letzten Jahren immer wieder unter der Überschrift „Postkoloniale Theorie“ geführt worden (CHILDS/WILLIAMS 1997). Diese Ansätze gehen davon aus, dass durch die Modernisierung und Technisierung der Welt, durch globale Migrationen und die Entstehung weltweiter Kommunikationskulturen, die alte Trennung von „wir“ und „die Anderen“ nicht mehr trägt, dass vielmehr neue Formen von Kultur und Ethnizität entstanden sind, die offenere Konzepte zur Beschreibung benötigen. Für Geertz besteht der nächste Schritt einer Qualitativen ethnografischen Forschung darin, die „Möglichkeiten eines intelligiblen Diskurses zwischen Menschen, die voneinander in ihren Interessen und Ansichten, in Reichtum und Macht ganz verschieden und doch in einer Welt beheimatet sind, in der es […] zunehmend schwierig ist, sich aus dem Wege zu gehen“ auszuloten (GEERTZ 1993, S. 142).
Kritik am Konzept des Anderen
Auch aus erziehungswissenschaftlicher Perspektive ist die bipolare Konstruktion von Fremdheit in die Kritik geraten. Sie baue in multikulturellen Gesellschaften eher Grenzen auf als dass sie zum Verständnis von Andersartigkeit führe (KIESEL/MESSERSCHMIDT/SCHERR 2002).