Читать книгу Das geheime Leben des Ettore Majorana - Kriminalroman - Burkhard Ziebolz - Страница 15

9.

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Nimm du mal das Ruder. Ich glaube, ich geh navigieren.«

Navigation ist offenkundig nicht unbedingt nötig, immerhin fahren sie die ganze Zeit in Sichtweite der flachen deutschen Küste. Victor weiß zu jedem Zeitpunkt, wo sie sind, aber er hat keine Lust mehr, das Segelboot zu lenken. Ettore ist das ganz recht, die Untätigkeit an Bord beginnt schon, ihn zu stören, und er ist froh über ein wenig Aktivität.

Gegen Morgen sind sie aus Heiligenhafen abgefahren, auf einer Yacht, die einem Freund Heisenbergs gehört. Himmelreich hat sich gefragt, wie befreundet man sein muß, um sein Schiff einem Haufen wildfremder Menschen anzuvertrauen, zumal der Professor selber gar nicht mit ihnen gefahren ist.

Es ist ein Spätsommertag wie aus dem Bilderbuch. Das Thermometer klettert schon am Morgen über fünfundzwanzig Grad, der schwache Frühnebel hatte sich blitzschnell verflüchtigt. Bei leichtem Wind sind sie gegen elf Uhr ausgelaufen: Er selber, seine Schwester Irmgard, die gerade in Leipzig zu Besuch ist und kurzerhand auf den Institutsausflug mitgenommen wird, ihre Leipziger Freundin Traudel, Freeman, Peters, und noch drei andere. Victor ist der einzige, der richtig segeln kann – Erfolg seiner Bemühungen auf dem Starnberger See, als er noch in München arbeitete. Nur weil die meteorologischen Bedingungen optimal sind und die See sich von ihrer gütigsten Seite zeigt, traut er sich nach einer kurzen Einführung mit der unerfahrenen Crew aus dem Hafen.

Majorana steht am Ruder, den Blick nach vorn gerichtet, wo Irmgard Himmelreich am Großmast lehnt. Ihre kurzen, blonden Haare flattern im Wind, sie blickt zurück zum Heck des Bootes und scheint die Fahrt zu genießen.

Die beiden sind sich auf Anhieb sympathisch gewesen, als sie sich am gestrigen Abend kennengelernt haben. Ettore mag ihre direkte und manchmal ein wenig freche Art, und sie schätzt seine nachdenkliche Zurückhaltung und die Intelligenz, die aus jedem seiner Worte spricht.

»Sie machen das schon sehr gut. Aber schauen sie mal nach hinten.«

Er tut es, und als er die Schlangenlinien sieht, die das Schiff dank seiner fehlenden seemännischen Praxis ins Wasser pflügt, muß er lachen.

»Wenn ich am Ruder bleibe, dann brauchen wir bestimmt doppelt so lange für unsere Strecke, als wenn Victor steuern würde.«

»Kurs dreihundertdreißig Grad.«

Victors Stimme hallt aus dem Niedergang nach oben, und Ettore geht auf Kurs, so wie er es ein paar Stunden vorher gelernt hat.

»Wann fahren Sie zurück, Ettore? Nach Italien, meine ich.«

Die Sonne scheint durch den dünnen Stoff ihres Kleides, einen Augenblick weiß er nicht, ob es schicklicher wäre, woanders hinzuschauen.

»Nächste Woche. Am Freitag, um genau zu sein.«

»Das finde ich schade. Ich bleibe noch bis Mitte September in Leipzig.«

Sie lächelt, und er bemerkt ein winziges Grübchen, das sich auf ihrer rechten Wange bildet. Schade ist es wirklich, daß er zurück muß. Hätte sie nicht ein wenig früher kommen können?

»Warum besuchen Sie jetzt erst Ihren Bruder? Ich bin schon fast ein halbes Jahr hier. Sie mögen ihn wohl nicht besonders?«

Und zu Himmelreich hin, den Niedergang hinunter, brüllt er, völlig entgegen seiner sonstigen Gewohnheit:

»Sie mag dich nicht besonders, ist es nicht so?«

Ihr Lachen hallt über das Deck.

»Und ich dachte, alle Physiker sind so staubtrocken wie mein Brüderchen.«

In der Ferne, vergoldet durch warmes Sonnenlicht, ist die dänische Küste auszumachen. Die Crew sitzt entspannt an Deck herum und schöpft aus einem großen Topf Pfirsichbowle in solide Blechtassen. Eine friedlichere und zufriedenere Atmosphäre hat Ettore selten erlebt.

Himmelreich blickt aus dem Niedergang herauf wie ein Kastenteufel.

»Will jemand Schokolade?«

Zwei oder drei Stimmen nehmen sein Angebot an. Er wirft zwei Tafeln aufs Vordeck, steigt die Leiter herauf und stellt sich neben seine Schwester.

»Und wie gefällt dir die Seefahrt?«

Sie hakt ihn unter und strahlt ihn an.

»Ich habe gar keine Lust, nach München zurückzufahren. Von mir aus könnten wir ewig so weiter segeln.«

Himmelreich bemerkt den Blick, den sie Ettore zuwirft, und er verursacht ihm leichtes Unbehagen. Was, wenn die beiden sich näherkommen? Er stellt sich das Gesicht seines Vaters vor – ein Italiener als Bräutigam. Niemals würde er mit so etwas einverstanden sein. Und dann seine eigenen Auftraggeber in Berlin, wer weiß, was aus einer solchen Beziehung noch werden, zu welcher Bedeutung oder sogar Bedrohung sie sich auswachsen kann.

Aber vielleicht denkt er viel zu weit. Hier und jetzt ist alles in Ordnung. Sonne, leichter Wind, die See ist ruhig und das Schiff das beste, mit dem er jemals unterwegs gewesen war. Er schaut außenbords den glänzenden Holzrumpf entlang, weiß lackiert mit dunkelblauer Kante, in dem sich die Reflektionen des Wasser funkelnd widerspiegeln und fragt sich, ob er selbst jemals ein solches Boot besitzen wird. Die Stella war wirklich vom Feinsten.

»Wir fahren dann mal eine Wende, weil wir da um die Landspitze wollen. Wißt ihr noch, wie das geht?«

Majorana nickt. Himmelreich hat den halben Vormittag damit zugebracht, ihnen die grundlegenden Manöver theoretisch beizubringen, und einige waren sie schon direkt nach der Hafenausfahrt gefahren, als sie einem Dampfschiff ausweichen mußten.

»Peters, nimm die andere Genuaschot. Ja, das dicke Tau da. Und Ettore ...«

»Ich drehe die Nase vom Schiff langsam in den Wind.«

»Genau. Wenn ich es sage.«

Sie fahren noch ein Stück geradeaus. Peters scheint gespannt wie eine Sprungfeder und wendet sich ein paar mal zu Victor um, als wollte er ihm sagen; los, fang endlich an. Auch Majorana spürt leichte Nervosität, weiß der Teufel warum, schließlich hängt absolut nichts von diesem Manöver ab.

Himmelreich wartet noch ein wenig, schaut einmal kurz nach oben in die Segel, dann ist der richtige Zeitpunkt da.

»Klar zur Wende?«

Die anderen melden ihre Bereitschaft mit einem Zuruf oder Nicken.

»Ree.«

Ettore dreht am Ruder, das Schiff reagiert sofort.

»Nicht ganz so schnell.«

Er dreht langsamer. Die Stella kommt allmählich herum. Als sie durch den Wind geht und ihre Segel sich leicht in die andere Richtung zu blähen beginnen, brüllt Victor: »Über die Genua«, und Peters zieht an seinem Tauende wie ein Berserker, mit aller Kraft, die in seinem schwerfälligen, untrainierten Körper wohnt, immer wieder, immer wieder, bis es nicht mehr geht.

Das Segel steht.

Die hektische Betriebsamkeit macht augenblicklich wieder der müßigen Erholung Platz, die Spannung verabschiedet sich.

»Das war nicht schlecht, Jungs«, lobt Victor, beißt in den Schokoladenriegel und wendet sich an den Rudergänger.

»Was wirst du machen, wenn du zurück in Italien bist? Beruflich, meine ich.«

Majorana zuckt die Schultern.

»Ich gehe wieder nach Rom. Ich habe ein paar Ideen, über die ich gründlich nachdenken muß und die sich zu einer ernsthaften Arbeit auswachsen können. Die Arbeit hier hat mir sehr geholfen.«

Victor fischt in den Tiefen seiner weiten Hosentaschen nach der zerdrückten Zigarettenschachtel. Er bietet Irmgard und Ettore keine an; Irmgard raucht nicht, und Ettore hat er selten etwas anderes rauchen sehen als seine eigenen Macedonia, von der er größere Mengen von zu Hause mitgebracht haben muß.

»Inwiefern?«

Der Italiener gibt Gegendruck auf das Ruder, um eine leichte Welle auszugleichen.

»Zum einen natürlich fachlich. Meinen letzten Artikel hätte ich in Rom sicher nicht so schnell schreiben können. Aber dann auch ... auf irgendeine Art auch moralisch.«

Die fragenden Blicke der anderen verursachen ihm Unbehagen, drängen ihn ins Dozieren. Das mag er nicht, aber für Freunde einen kleinen Vortrag zu halten macht ihm weniger aus als beispielsweise vor Kollegen auf einem Kongreß.

»Wir haben eine enorme Verantwortung, ist euch das eigentlich klar? Was wir entdecken, kann und wird die Welt verändern, darum sollte man sich gut überlegen, woran man arbeiten will, und wo die persönlichen Grenzen liegen. Die Frage muß sein: Was kann ich noch vor mir und der Gesellschaft verantworten, um meine Arbeit vorwärts zu bringen?«

»Wir sind Wissenschaftler. Unsere Neugierde muß universell sein, sich auf alles richten. Wir können nicht nur bestimmte Gebiete abfischen und die anderen nicht beachten.«

»Genau das ist die Frage. Darf man wirklich so bedenkenlos an die Arbeit herangehen? Bis vor einigen Monaten hielt ich uns alle für Maschinen – geschaffen, um Wissen zu produzieren, das Gesamtwissen der Menschheit zu vergrößern. Jetzt glaube ich, wir müssen auch frühzeitig über die möglichen Folgen unseres Handelns nachdenken. Wir geben den Menschen Werkzeuge in die Hand, uns muß interessieren, was sie damit tun.«

Es ist Heisenberg, der da aus ihm spricht, merkt Himmelreich. Die regelmäßigen Treffen der beiden haben offenbar einen nicht geringen Einfluß auf Ettore gehabt. Oder ist seine kleine Ansprache auf seine – Victors – eigenen Versuche, etwas über die Todesstrahlen herauszufinden, gemünzt? Er sieht den Freund forschend an, der arglos in die Runde blickt. Nein, der war gedanklich an ganz anderer Stelle, mit ihm hatte das nichts zu tun.

»Was meinst du mit Werkzeugen?«

Majorana sieht ihn an, einen Moment lang scheint er unsicher.

»Nichts Bestimmtes, aber unsere Forschung resultiert doch immer irgendwann mal in Maschinen, Geräten oder technischen Vorrichtungen. Uns darf nicht egal sein, was damit passiert.«

So viele Worte auf einmal hat er die ganzen Monate am Institut nicht gemacht. Es ist jetzt ganz ruhig, nur die Bewegung des Meeres und das böige Auf und Ab des Windes bilden eine leise Hintergrundmusik zu den Gedanken, denen sie nachhängen.

»Was wollen Sie also tun, Ettore? Wollen Sie Ihren Beruf an den Nagel hängen?« fragt Irmgard weich.

»Das kann ich nicht«, erwidert er schnell und ohne nachzudenken. »Mein Beruf ist mein Leben, ohne ihn existiere ich nicht.«

Er greift fester ins Ruder, entschlossen, dann überzieht ein schüchternes Lächeln sein Gesicht.

»Manchmal überlege ich, wie es sein wird, nicht mehr zu arbeiten, und, wissen Sie, ich kann es mir nicht vorstellen. Ich denke, ich müßte sterben, wenn ich den Beruf nicht mehr ausüben kann. Aber dann fällt mir immer ein, warum dies nicht passieren wird.«

»Weil dein Beruf das Denken ist, und das hört nicht mit dem Pensionsalter auf. Es hört niemals auf«, erwidert Himmelreich, so leise, daß er kaum das Windgeräusch übertönt.

Ettore nickte, und sein Lächeln wird ganz breit. Irgendwie sieht er in diesem Moment für Irmgard das erste Mal so aus, wie sie sich einen richtigen Italiener immer vorgestellt hat: fröhlich, offen und spontan.

»Das stimmt. Und daraus folgt: Solange ich denke, bin ich unsterblich.«

»Unsterblich wie ein Gedanke.«

Das geheime Leben des Ettore Majorana - Kriminalroman

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