Читать книгу Das geheime Leben des Ettore Majorana - Kriminalroman - Burkhard Ziebolz - Страница 18
12.
ОглавлениеWie bist du eigentlich damals zu uns gestoßen?« fragt Himmelreich den Kranken in der anderen Zimmerecke.
»So ähnlich wie du, nur von anderen Leuten bezahlt. Wir sahen die Dinge, die mit Juden und Andersdenkenden schon vor Dreiunddreißig vor sich gingen, und wir waren uns der Gefahr bewußt, die von den deutschen Physikern ausging, sollte es einmal zum offenen Konflikt der Völker kommen. Wir mußten etwas tun. Das siehst du doch ein, oder?«
Natürlich sieht Victor es ein. Von einer gewissen Warte aus ist es logisch, ist immer alles logisch, das ist ja das Unfaßbare an den meisten Begründungen für die Schandtaten dieser Welt. Es ist logisch, es ist begründbar, und möglicherweise hätte man selbst nicht anders gehandelt, hätte man vor der Wahl gestanden.
Hätte.
Es war aber anders gewesen.
Er will keine Rache, schon seit Jahren nicht mehr. Aber da sind die Toten – seine eigenen, nicht die vielen anderen – die nach ihm schreien, nachts, wenn er schläft, und nur eines würde sie zum Verstummen bringen:
Wenn am Ende alles gerächt wäre und die Waagschalen ausgeglichen.
»Und Ettore?«
»Das war Zufall. Er blieb in unserem Raster hängen, als Abfallprodukt, sozusagen. Wir wußten, daß er mit Fermi gearbeitet hatte, und wir kannten natürlich auch die Zeitungsmeldungen über die Todesstrahlen.«
»Damals in Leipzig ... du konntest deutsch, nicht wahr? Du hast uns nur den Sprachunkundigen vorgespielt.«
»Selbstverständlich. Man erfährt mehr, wenn die Leute einen Satz wiederholen müssen, es ist immer wieder ein wenig Unbewußtes dabei. Ich habe den kulturlosen Ami mit Begeisterung gespielt.«
»Und deine Kenntnisse der Physik?«
»Acht Semester in Yale; sie hatten mich nicht zufällig für den Job ausgesucht. Dazu ein Crashkurs mit den besten Physikern des Landes. Ich wußte genug, um euch ein paar Monate Sand in die Augen zu streuen.«
»Und du hast den Todesstrahlenquatsch geglaubt?«
Der andere hat ihm die ganze Zeit über ins Gesicht geschaut, jetzt beginnt sein Blick im Zimmer herum zu wandern. Er bleibt schließlich an einer Weltkarte hängen, in die zahlreiche Nadeln mit verschieden farbigen Köpfen gesteckt sind. Urlaubsorte oder Erinnerungen an unheilbringende Einsätze in anderen Teilen der Welt?
»Glaubte ich es? Ich weiß nicht, was ich glaubte. Ich sammelte nur Fakten, andere bewerteten sie.«
»Warum nicht du? Du warst der Physiker, sie hätten dich fragen müssen.«
»So ein Geheimdienst ist ein komplexer Mechanismus, wie jede andere Behörde, oder wie eine große Firma. Nicht immer tun die Leute die Jobs, für die sie am Besten geeignet sind. Später, da war ich dabei, ich war einer der ersten, die nach Heisenberg und den anderen suchten, als Deutschland besiegt war. Aber damals ... ich weiß nicht, wer an die Strahlen glaubte, oder ob überhaupt. Es war nur eine Möglichkeit, ein Weg. Wir mußten uns überzeugen, wohin er führt.«
Das Geräusch eines Automotors, der sich den Startversuchen des Besitzers zäh widersetzt, tönt von der Straße herauf. Beide lauschen angestrengt, sind für ein paar Sekunden froh, daß etwas von draußen eindringt in die Abgeschlossenheit des Hauses, in ihr Gespräch, und ihnen zeigt, daß die Realität dort ist, und nicht in dem Gespenst, das sie durch ihr Gespräch zum Leben erwecken.
Himmelreich öffnet sein Jackett, der Griff der Pistole, braungeriffeltes Bakelit, schaut unter der linken Achsel hervor.
»Welche Erinnerung hast du an den Abend der Abschiedsfeier?«
Himmelreich findet nur mühsam zurück in die Wirklichkeit. Er hat die ganze Zeit geredet und taucht nun langsam auf aus der Tiefe seiner Erzählung. Er wäre leicht zu überwältigen gewesen in dieser Lage. Schmerzhaft wird ihm bewußt, wie wenig professionell er sich verhält, aber dann schaut er seinen Gegenüber an und weiß, daß er nichts zu befürchten hat. Der Mann ist ein Wrack, alt und kraftlos, aber was noch wichtiger ist; er hat sich offenbar in sein Schicksal ergeben. Die Rollen sind zugewiesen, Täter und Richter, und er ist derjenige, der zu büßen hat.
»Ich? Ich erinnere mich ... an ein Gefühl der Freundschaft für Ettore, stärker als ich es jemals zuvor empfunden habe.«
»So ist es oft, wenn jemand geht. Und was ist noch geschehen an jenem Abend?«
»Ich hörte, wie Nishimura ... wie der Japaner Ettore auf die Todesstrahlenversuche bei Fermi ansprach. Nicht zum ersten Mal, wie wir wissen. Und du hast ihn ja wohl auch noch mal gefragt.«
»Ich glaube, wir waren alle hinter dieser Sache her.«
Himmelreichs Blick ist gesenkt, als schämte er sich für sein damaliges Handeln.
»Ja. Völliger Schwachsinn.«
»Weißt du, wie Ettore darüber dachte?«
»Ich glaube, er hat sehr gelacht über die Geschichte, und über unsere dilettantischen Spionageversuche auch. Je öfter er leugnete, an den Experimenten beteiligt gewesen zu sein, um so sicherer wurden wir, daß er dabei war. Und dabei war er in Gedanken ganz weit fort, in einer Ecke, die viel gefährlicher war als es die kindischen Strahlen jemals hätten sein können. Nur wußte er es selber nicht.«
»So war es. Meine Leute machten mir ganz schön die Hölle heiß, damals. Tauchte der Braune eigentlich noch mal auf?«
»Wenn du das nicht weißt ... ich weiß es auch nicht. Er hatte nichts mehr abzumachen mit Majorana, es war alles gesagt zwischen ihnen, und Ettore hatte genaue Verhaltensregeln für die Zukunft bekommen. Jedenfalls, irgendwann waren Irmgard und Ettore nicht mehr zu sehen. Später erzählte sie mir, sie wären im Garten spazieren gegangen, über eine Stunde lang.«
»Vielleicht sind sie das ja auch wirklich.«
»Wie auch immer, es war mir egal. Sie haben sich versprochen, sich wiederzusehen, sich gegenseitig zu besuchen. Sie wollten den Kontakt halten. Wir wissen, was daraus geworden ist.«
»Die Arbeit, die politische Lage ... es kam immer etwas dazwischen.«
»Immer, bis zum Jahr 1938.«
Sein Gastgeber atmet schwer. Er hat sich bisher kühl und distanziert gegeben, aber allmählich kann er die Maske nicht mehr aufrechterhalten; man merkt, daß sie ihm schwer wird wie Blei.
»Und du? Hast du Ettore in diesen Jahren gesehen?«
Himmelreich schaut ihn verächtlich an.
»Als ob du das nicht wüßtest. Einmal, auf einem Kongreß in Stockholm. Aber wir hatten immer Verbindung.«
»Und Irmgard? Wie war dein Kontakt zu Irmgard?«
Victors Gesicht verdüstert sich. Kein angenehmes Thema, aber es gehört zur Geschichte, ist vielleicht einer der wichtigsten Bestandteile.
»Tja, Irmgard. Das ist eine merkwürdige Sache. Bald nachdem Majorana zurückgefahren war, hat sich unser Verhältnis etwas abgekühlt, ohne daß ich genau weiß, woran es lag. Wir sahen uns kaum noch, und auch die Zahl der Briefe wurde weniger, bis sie endlich gar nicht mehr schrieb. Sie zog aus ihrer Wohnung aus, in einen anderen Teil Münchens, und lebte dort in einem ... in einem sehr merkwürdigen Haus.«
Er verstummt.
»Was für ein Haus?«
»Ich habe sie mal besucht, es war das letzte Mal, das wir uns gesehen haben. Eine düstere alte Villa, mit einer düsteren Ausstrahlung.«
Wieder wird er still, versucht die Erinnerung zurückzuholen.
»Jedenfalls eine seltsame Ausstrahlung. Als ich durch die Tür trat, war mir, als würde ich irgendwie meine Dimension verlassen, alles dort drinnen war anders als ich es kannte. Die alten Möbel entstammten keiner mir bekannten Stilrichtung, die Bilder an den Wänden zeigten eine mir unbekannte Symbolik, und es hing ein Geruch in der Luft, den ich nicht identifizieren konnte.«
»Lebte sie allein?«
»Ehrlich gesagt, ich weiß es nicht. Gesehen habe ich niemanden, aber ein- oder zweimal habe ich während des Besuches merkwürdige Geräusche gehört. Das hätte aber auch ein Tier sein können. Meine Schwester war ganz anders als früher, ruhig, fast abweisend. Sie zeigte keine Emotionen, nicht die kleinste Freude. Die ganze Zeit meines Besuches hatte ich das Gefühl, sie wartet nur darauf, daß ich gehe, um irgend etwas sehr Dringendes zu tun.«
»Danach hast du sie nicht mehr getroffen?«
»Nicht mehr bis 1938.«
Der andere weicht Himmelreichs Blick aus, aber seine Neugier ist ungebrochen.
»Hat sie nur zu dir den Kontakt abgebrochen? Was ist mit ihren Freunden?«
»Zu allen, die ich kenne. Auch meine Eltern hat sie nicht mehr getroffen, was diesen fast das Herz brach. Wir wußten nicht einmal, wovon genau sie lebte.«
»Ja wirklich. Das ist mehr als seltsam. Und du und Majorana – wie vertraut wart ihr eigentlich zu dieser Zeit?«
Die Fragerei wird immer detaillierter und Himmelreich hat mehr und mehr das Gefühl, ausgehorcht zu werden. Am Anfang hat er nichts dagegen gehabt, er will ja alles loswerden, über alles reden, mit jemandem, der weiß, wovon er spricht. Aber jetzt ist er im Zweifel: Gibt er zuviel preis? Andererseits, was kann der andere noch anfangen mit seinem Wissen?
»Wir waren ziemlich vertraut. Ettore hatte nicht viele Freunde, und seine wenigen pflegte er.«
»Hat er dir gegenüber jemals eine Gruppe erwähnt, die Die Wächter genannt werden?«
Die Beiläufigkeit der Frage steht in krassem Gegensatz zu ihrem seltsamen Inhalt. Er sagt werden, als gäbe es die Gruppe noch, was immer sie sein mochte.
»Wer ist das?«
»Hat er die Gruppe erwähnt?«
»Nein. Er hat nie über eine solche Gruppe gesprochen. Wer sind die Wächter?«
Der andere beugt sich vor, greift eine Medikamentenpackung vom Tisch und öffnet sie hastig. Er drückt eine kleine, grüne Pille aus der Folie, steckt sie sich in den Mund und schluckt sie mit etwas Wasser aus dem Glas, das ebenfalls auf dem Tisch steht.
Er atmet schwer, einen Moment, den Blick auf das Glas gerichtet und eine Hand über seinem Herzen an den Körper gelegt, dann ist er wieder bereit.
»Was sie sind, weiß ich nicht; ich halte sie für eine Art Freimaurerloge. Irgendwann stießen wir auf den Namen, in Ettores Umfeld, konnten aber niemanden damit identifizieren.«
Victor ist jetzt hellwach, jede Faser seines Körpers ist gespannt.
»Ja?«
Winklers Tonfall verändert sich, wird ruhig und sachlich, die Stimme tief und tönend. Ein Profi in einer Standardsituation. Victor sieht ihn unwillkürlich vor seinem geistigen Auge in einem Büro irgendwo auf der Welt, Vietnam vielleicht oder Chile, vor einer Gruppe seiner Agentenkollegen über einen Fall dozieren.
»Es scheint sich um eine sehr alte Gemeinschaft zu handeln, und sie scheint international zu agieren. Schon damals war sie in Deutschland und in den USA und in vielen anderen Ländern parallel tätig und hielt dort Kontakt zu vielen Leuten unterschiedlicher Profession und Herkunft. Und sie scheinen auf ein bestimmtes Ziel zuzuarbeiten, das wir nicht kennen.«