Читать книгу Das geheime Leben des Ettore Majorana - Kriminalroman - Burkhard Ziebolz - Страница 16
10.
ОглавлениеDa gab es diese zwei Frauen; ich begegnete ihnen jeden Sonntag, wenn ich mit den Eltern in die Kirche ging, in die Messe um acht. Die Frauen waren alt, zumindest kam es mir so vor. Aber jetzt, wenn ich zurückdenke, mögen sie noch gar nicht so alt gewesen sein. Sie trugen schwarz, wann immer ich sie sah, ich denke, sie waren verwitwet; und sie schienen niemanden zu haben außer sich selbst.
Die Kirche war klein und im Winter kalt. Am Eingang gab es einen Tisch, auf dem Gebetbücher lagen für alle, die kein eigenes hatten. Die Bücher waren zerfleddert und abgegriffen durch die Jahre des Gebrauchs. Seiten waren zerrissen, andere fehlten ganz, und bei einem hatte jemand den ganzen hinteren Teil herausgerissen und mitgenommen.
Zu welchem Zweck auch immer.
Eines der Bücher hatte wie durch ein Wunder die allwöchentlichen Angriffe der Gläubigen relativ unbeschadet überstanden. Es sah nicht neu aus, aber es war vollständig, alle Seiten, und die Spuren des Gebrauchs hielten sich in Grenzen. Ich glaube, die wenigsten der Messebesucher bemerkten den Unterschied dieses Buches zu den anderen. Sie betraten die Kirche, nahmen sich irgendeines der Bücher, setzten sich. Welches Buch sie bekamen, das war ihnen egal.
Es war allen egal, nur nicht den zwei alten Frauen.
Das Buch, dieses eine Buch, das sich durch seinen Zustand von den anderen abhob, war der Zankapfel der beiden. Das einzige Streben, das einzige Ziel, das es für sie noch gab und dem all ihre Aufmerksamkeit galt.
Die Bücher lagen zur Benutzung bereit, derjenige, der zuerst kam, hatte die Wahl. Man mußte also früh kommen, wollte man gewinnen.
Ich war damals ein Kind. Wie alle Kinder beobachtete ich, aber ich dachte wenig über das Beobachtete nach. Dennoch fiel mir der Kampf der beiden Frauen auf. Oh, er fand versteckt statt, ohne Aufsehen. Mal gelang es der einen, mal der anderen, früher in der Kirche zu sein, um den begehrten Schatz zu gewinnen. Wenn die Verliererin dann erschien und ihre Niederlage bemerkte, dann gab es einen ganz kurzen Blick von der Gewinnerseite; eine Sekunde nur, aber in dieser Sekunde lag alles, was den Reiz des Spieles ausmachte. Die Lust zu siegen und den anderen in die Schranken zu weisen, Überlegenheit zu beweisen bei der einzigen Gelegenheit, die ihr Leben noch für sie bereit hielt. Vielleicht war es sogar noch mehr als das.
Niemals sah ich die beiden miteinander oder mit anderen reden, niemals sah ich sie lachen, niemals eine andere Miene als die andächtiger Versenkung oder kurzen Triumphes zur Schau tragen. Wenn die Kirche aus war, verschwanden sie wie Schauspieler, die nur für einen Akt die Bühne betreten hatten – geräuschlos, rückstandsfrei. Vielleicht zogen sie draußen ihre Kostüme aus und mischten sich unerkannt unter das Volk. Wer konnte das wissen?
Wie bitte? Nein, das sind meine heutigen Gedanken. Damals – nun, ich schaute mir nur das Spiel an. Es begann, wenn die Siegerin sich das Buch nahm; dann gab es eine kurze Zeit der Spannung, bis die andere – meist atemlos – in der Tür erschien. Wenn die erste ihren Triumphblick abgeschossen hatte wie einen Pfeil, dann war es vorüber, und ich konnte mich den anderen Dingen um mich herum widmen.
Ich war ein Kind.
Wie es weiterging? Das Spiel setzte sich über die Jahre fort, jeden Sonntag. Niemals war es anders, und nie fehlte eine der Frauen. Jeder aus der Gemeinde wurde einmal krank, aber diese beiden nicht.
Einen wirklichen Sieger gab es nie. Das Verhältnis der Siege und Niederlagen war immer ausgeglichen: Mal war die eine zuerst da, dann wieder die andere, mit ständigem, regelmäßigem Wechsel, so daß man hätte meinen können, das Resultat wäre abgesprochen. Trotzdem behielt das Spiel für die beiden Frauen offenbar seine Spannung; sie ließen in ihren Bemühungen nicht nach. Und auch ich wurde nicht müde, sie dabei zu beobachten. Ich dachte damals, ich wäre der einzige, der wahrnahm, was sich da abspielte.
Dann, eines Tages, änderte sich alles auf einen Schlag. Wie sonst auch war eine der beiden – ich nannte sie bei mir Anna, wie die Katze unseres Nachbarn – pünktlich erschienen und hatte sich ihre Trophäe geholt. Sie saß still in ihrer Bank, in Erwartung des Momentes. Aber – die andere erschien nicht. Die Minuten verstrichen, die Messe begann, sie war immer noch nicht da. Und auch als die Messe vorüber war, alle sich erhoben und nach Hause gingen, war sie nicht gekommen. Das Letzte, was ich von Anna sah, als ich mich in der Kirchentür umdrehte, war ihr schmaler, schwarzer Rücken, halbverdeckt durch einen gestrickten schwarzen Schal, gebeugt in der Kirchenbank. Sie blieb sitzen, das Buch in der Hand, und rührte sich nicht, während die Kirche sich leerte.
Am nächsten Sonntag war auch sie fort.
Ich habe keine der beiden Frauen je wiedergesehen. Unsere Gemeinde war nicht groß, normalerweise begegnete man immer allen irgendwo. Anna und ihre Konkurrentin habe ich nie außerhalb der Kirche getroffen, und als die eine fort war, verschwand auch die andere für immer aus meinem Leben.
Schauspielerinnen, deren Engagement ausläuft.
Wenn ich heute darüber nachdenke, dann glaube ich manchmal, sie haben ihr Spiel nur gespielt, weil sie wußten, daß ich ihnen zuschaute.
Nur für mich.