Читать книгу Four Kids - Byung-uk Lee - Страница 11
Ich sehe was, das du nicht siehst
ОглавлениеDie Pendeluhr im Wohnzimmer schlug schwermütig zur Mittagszeit. Haekwon war auf der Couch eingeschlafen und sein Blick machte träge eine kleine Wanderung durch das Apartment. Seine Eltern waren gemeinsam zum frühmorgendlichen Tennisspiel gegangen. Anscheinend wollten sie sein fehlendes Engagement ausgleichen. Sunia hatte heute ihren freien Tag. Noch nie war Haekwon die Wohnung so leer vorgekommen. Ein Prinz, der in seinem Elfenbeinturm hockte und sich langweilte. Zeit war eine merkwürdige Sache. In solchen Momenten konnte sie sich hinziehen wie eine langweilige Theatervorführung. Aus purer Verzweiflung schaltete er den überdimensional großen Fernseher ein. Beim Zappen reihten sich Seifenopern an Nachrichten, albernen Spielshows und Kochsendungen, die seinen ohnehin schon knurrenden Magen unnötig malträtierten. Aus noch größerer Verzweiflung nahm er einen Kochtopf, um sich Instantnudeln zu machen. Sunia war neben einer guten Putzfrau auch eine verflucht gute Köchin. Sein unbändiger Hunger steigerte seine Sehnsucht nach ihrem schmackhaft scharfen Duk Boki. Das Wasser kochte bereits. Im Topf brodelte es, als würde darin ein Orkan wüten. Haekwon saß am Küchentisch und wärmte sich in den mittäglichen Sonnenstrahlen, die in seinen gläsernen Palast schienen. Eine Eingebung, oder vielmehr eine simple Idee ließ ihn den Herd wieder ausschalten. Das kochende Wasser kam wieder zur Ruhe. Der Sturm hatte sich gelegt und der Topf konnte sich abkühlen. Der rote Faden, der in seinem Borstenkopf spukte, führte ihn zum Laptop. Ein Treffen mit Soo-Jung wäre die beste Möglichkeit, Zeit totzuschlagen und seinen Hunger zu stillen. Vorausgesetzt der Lieferjunge musste gerade nicht liefern.
Haekwon hatte Glück. Der Glatzkopf war ONLINE.
Diesmal suchte Soo-Jung wieder den Treffpunkt aus.
Als Haekwon aus dem Taxi stieg und dem mürrischen Fahrer durch das halboffene Seitenfenster die Won-Scheine zuschob, überkam ihn ein merkwürdiges Gefühl. Es war wie eine innere Brise, die seine Organe umwehte, um ihn zu warnen. Im Textchat konnte man Sätze, Aussagen oder Zeichen in vielerlei Hinsicht deuten. Meist musste ein Orakel befragt werden. Und der Satz: HEUTE WIRD ES MAL ANDERS SEIN, ließ in ihm ein Gefühl der Unsicherheit aufkeimen. Durch die Scheibe, die mit grünen Zeichen bedruckt war, KIMS NUDELSPEZIALIÄTEN LEBEN SIE SO LANG WIE UNSERE NUDELN, konnte er sehen, welche Veränderung der Kahlkopf gemeint hatte. Neben Soo-Jung saß ein Mädchen in Schuluniform, ein sehr hübsches Mädchen. Beide lachten. Sie mehr als er. Und beide tätschelten sich zärtlich ihre Hände, während sie auf der Holzbank saßen, umgeben von anderen Gästen, und auf seine Ankunft warteten. Es hatte sich tatsächlich etwas ergeben. Durch das langsam abblätternde, grüne Zeichen betrachtete er noch lange Zeit das frische Paar und er fühlte etwas, das er seit Ewigkeit nicht verspürt hatte. So lange, dass er schon glaubte, es vergessen zu haben, wie es sich anfühlte. EIFERSUCHT. Zwar kannte er das Mädchen in der adretten Schuluniform nicht, aber er wusste, dass sie sein Herz brechen würde. Sollte er wirklich diesen Laden betreten, um seinen Fuß freiwillig auf diese Mine zu stellen?
Er tat es.
Die meisten Gäste hatten ihre Köpfe über dampfende Schüsseln gebeugt und schlürften ihre Nudelsuppen. Soo-Jung und das Mädchen waren die einzigen, die nicht aßen. Mit Witzen und Neckereien brachte der Glatzkopf die Kleine zum Kichern. Gelegentlich stupste er mit dem Zeigefinger ihre Nasenspitze. GLÜCK musste so aussehen, jugendliche UNBESCHWERTHEIT ebenso.
„Da bist du ja endlich“, grüßte der Kahlkopf noch lachend und begann das Mädchen zu kitzeln. Ihre Antwort war ein schüchternes Kichern.
„Bin ich zu spät?“, fragte Haekwon mit einem Auge auf die Armbanduhr spähend.
Die Hübsche blickte ihn mit einer Ernsthaftigkeit an, die verletzend war. Ein süßes Lächeln wäre ihm lieber gewesen. Haekwon hatte das Gefühl, dass die anderen Gäste ins Nichts verschwunden waren. Seine gesamte Aufmerksamkeit war auf das Mädchen gerichtet, um das Soo-Jung seinen bleichen Arm gelegt hatte.
„Ich bin Hyuna“, stellte sie sich vor, nachdem sie sich von den Liebkosungen ihres Spielgefährten befreit hatte.
„Haekwon“, erwiderte er und ergriff ihre schmale, kalte Hand. Eisig wie ein Kühlschrank mit einem Lächeln wie ein Engel, dachte er.
„Setz dich doch“, schlug Soo-Jung vor und nahm sich einen Zahnstocher, den er sich lässig zwischen die Zähne klemmte. „Ich habe Hyuna gerade von unserer verrückten Nacht erzählt. Mensch, wie du mit den Mädels umgehst. Alle Achtung.“
Haekwon wäre es lieber gewesen, wenn der Kahlkopf seinen Mund gehalten hätte. Mit amourösen Eroberungen verhielt es sich wie beim Musizieren. Man redete nicht darüber, sondern tat es einfach. Außerdem wollte Haekwon nicht vor dem Mädchen, das ihm so unbekannt wie das Universum vorkam, nicht gleich bei der ersten Begegnung als hohler Weiberheld dastehen. Der gute Eindruck war die halbe Miete, aber wofür?
„Das war schon gut.“ Mehr fiel ihm dazu nicht ein.
Auch die anderen beiden schwiegen, während die Luft mit beißendem Chiliaroma geschwängert war und die Leute unentwegt miteinander redeten. Durch den Dampf, der aus den Schalen kroch, hatte sich Kondenswasser an der Scheibe gebildet. Die beiden Jungs sahen dem Mädchen dabei zu, wie sie mit dem mageren Zeigefinger über die Scheibe glitt. Das Ergebnis war ein Herz, gemalt auf Kondenswasser.
„Ach ja, Soo-Jung hat mir erzählt, dass du in Gangnam wohnst. Dort muss es wirklich schön sein.“ Mit ihrer liebvollen Art hatte sie das Rad des Gesprächs wieder ins Rollen gebracht. Haekwon sah ihr ins Gesicht und erkannte den guten Charakter. So eine Aufrichtigkeit schlummerte nicht in vielen Menschen, daher musste man sie behüten wie einen Diamanten.
„Darf ich Ihnen etwas bringen?“
Haekwon wollte gerade antworten, da wurde die feine Brücke, die zwischen ihnen entstanden war, durch die Bedienung wieder niedergerissen. Notgedrungen bestellten sie. Haekwon und Soo-Jung jeweils eine Schale Jajangmyun, sie bestellte eine Portion Udong mit Schweinefleisch. Während des Essens berührten sich Haekwons und ihre Stäbchen, als sie zum süßen, gelben Rettich greifen wollten. Jedes Mal, wenn dies passierte, lächelte sie ihn verlegen an. Seit Haekwon da war, wirkte sie schüchterner.
„Gangnam ist nur eine Ansammlung prächtiger Bauten, nichts Besonderes. Ich würde viel lieber in einem anderen Stadtteil wohnen.“
„Ich würde viel lieber in Gangnam wohnen“, widersprach sie.
„Der jammert den ganzen Tag, obwohl es ihm gut geht“, scherzte Soo-Jung und meldete sich nach einer längeren Zeit wieder zu Wort.
„Bla, bla, bla, und du redest den ganzen Tag nur Schwachsinn“, feuerte Haekwon zurück.
„Jedenfalls würde ich das Viertel gerne mal besuchen“, beschwichtige sie die beiden Streithähne.
Haekwon blickte nachdenklich durch die Scheibe. Es fing an, zu regnen und die Fußgänger huschten schnelleren Schrittes an ihnen vorbei, als hätte sich ein dichter Stau gelöst. Einige Tropfen prasselten mit der Härte von Hagelkörnern an die Fensterscheibe und verursachten ein Trommeln, das an Bongo spielende Afrikaner erinnerte.
„Ja, wieso nicht.“
„Mir gefällt deine Frisur.“ Mit ihrer zarten Handfläche strich sie über seinen Borstenschnitt. Als er ihre Haut auf seinem Schädel spürte, hätte er am liebsten die Augen geschlossen, aber das wagte er nicht.
„Der sieht doch eher aus, als müsste er morgen zum Militärdienst.“ Mit Eifersucht hatte Soo-Jung sie beobachtet.
„Nein, ich finde es schön“, widersprach sie und gab Soo-Jung einen Kuss auf die Wange, was den Kahlkopf wieder ruhiger werden ließ.
Es war lange her, dass ein Mädchen einen so tiefen Eindruck bei Haekwon hinterlassen hatte. Schlagartig kamen ihm seine früheren Beziehungen bedeutungslos vor. Wie ein Mathematiker an seinem Lebensende feststellen musste, dass seine Theorien ins Leere führten. Sie schien nicht aus reichem Hause zu stammen und gerade das gefiel ihm am meisten. Im Laufe der Jahre wusste Haekwon genau, wie reiche Frauen sich bewegten, über welche Oberflächlichkeiten sie redeten und wie affektiert sie sich in der Öffentlichkeit verhalten konnten. Er hatte sie regelrecht studiert. Und Hyuna war das glatte Gegenteil von ihnen, sozusagen das weiße Schaf im Rudel schwarzer.
„Lass uns doch nach dem Essen in die Spielehalle“, schlug sie vor. Sie hatte ihre Suppe kaum angerührt und der Dampf, der geisterhaft aus der Schale gestiegen war, hatte sich ebenfalls in Wasser an der Scheibe transformiert. Im Geschirr der Jungs hingegen erinnerten nur noch braune Spuren aus Sojasauce an ein sättigendes Mahl. Mit einer Serviette wischte sich Haekwon die verkrustete Sauce auf seinem Mund ab. Soo-Jung ließ sie sich von Hyuna abwischen. Haekwon zahlte die Rechnung. Nicht weil er Eindruck schinden wollte, nichts erregte seine Abneigung mehr als zu zeigen, dass seine Eltern reich waren, sondern weil er einfach wieder an der Reihe war. Als sie den Laden verließen, hatte der Regenschauer eine Pause eingelegt. Die kurze Gnadenfrist nutzten sie und liefen über den Bürgersteig, auf dessen brüchigem Relief sich glänzende Pfützen gebildet hatten, die sie spielerisch übersprangen. Die Spielehalle war glücklicherweise nicht weit vom Imbiss entfernt und das Mädchen schien den Besitzer gut zu kennen. Als sie den dumpf beleuchteten Kellerraum betraten, strömte Haekwon ein harziger Geruch in die Nase, als wenn die greisenhaften Holzsäulen, die das Deckengemäuer stützen, frisch gebohnert worden waren. Soo-Jung stürzte sich mit Begeisterung ans Lenkrad, um zwei anderen Kids zu zeigen, dass er der wahre König der Rennbahn war. Hyuna bestand darauf, wenigstens das virtuelle Vergnügen zu spendieren, wenn sie schon für das Essen nichts bezahlen musste. Aus Haekwons Milieu ließen sich die Frauen gerne etwas spendieren. Es galt als Bestätigung ihres aus Mascara wohlgeformten Äußeren.
Verblüfft sah Haekwon ihr dabei zu, wie sie einen alten Mann bezahlte und mit ihm einige Worte wechselte. Die Kakophonie aus Schusswechseln, Motorengeräuschen und Kung-futritten trat für einen Moment in den Hintergrund.
„Ich möchte dir jemanden vorstellen“, sagte sie etwas lauter zum Alten, der seinen mageren Oberkörper auf einen Gehstock stützend auf einem hohen Hocker saß.
Interessiert blickte der Greis Haekwon an und winkte ihn rüber. Die dürre Hand des Alten fühlte sich überraschend warm an, als er sich vorstellte. Aus den sanften Zügen kam eine freundliche Stimme, aus der Geduld und Erfahrung zu hören waren.
„Wie halten Sie den Lärm hier aus?“, fragte Haekwon.
„Ich arbeite hier schon so lange. Ich höre ihn schon gar nicht mehr.“ Das hagere Gesicht formte sich unbeholfen zu einem Schmunzeln.
„Tae-Min ist so etwas wie mein Großvater geworden.“ Behutsam umarmte sie den Spielhallenbesitzer, als würde er aus zerbrechlichem Glas bestehen.
„Ja, gewonnen! Ich bin der Beste und Schnellste!“ Mit hochgerissenen Armen kam Soo-Jung auf sie zu. Die anderen Kids missgönnten ihm den Sieg und schauten ihm finster hinterher, als er im Freudentaumel auf die drei zuwankte.
„Und du musst Soo-Jung sein.“ Wie schmales Geäst streckte Tae-Min dem Kahlkopf die Hand entgegen.
Noch trunken vom Sieg schüttelte Soo-Jung sie kräftig.
„Ich gehe ein bisschen Flippern“, meinte Hyuna und hüpfte zum Automaten.
„Wo haben Sie Hyuna kennengelernt?“
„Der Hellste scheinst du nicht zu sein“, scherzte der Greis.
Beschämt kratzte sich Soo-Jung am Hinterkopf, aber er ließ sich die Rüge gefallen. Denn vor alten Menschen hatte er Respekt. Haekwon sagte erst gar nichts.
„Eine zeitlang ist sie regelmäßig hierhin gekommen. Ihr junges Gesicht strahlte immer so eine Traurigkeit aus. Ein hübsches Mädchen, wie sie, sollte mehr lachen. Irgendwann habe ich sie angesprochen. Es ist der natürliche Lauf der Dinge. Wenn man ein Feuer sieht, löscht man es. Wenn man etwas Trauriges sieht, dann spricht man die Person an. Eines habe ich ihr allerdings bis heute nicht verziehen.“
„Was denn?“, fragte Haekwon erschrocken, da sich die freundlichen Züge Tae-Mins schlagartig veränderten.
Der Alte beugte sich mit einer Ernsthaftigkeit nach vorne, dass ihm fast der graue Filzhut vom Schädel rutschte.
„Die Kleine hat es gewagt, meinen Flipperrekord zu brechen.“
Das Lachen der beiden Jungs krachte durch die Spielhalle und übertönte sogar den Geräuschbrei, der aus den Automaten floss. Tae-Min hingegen lächelte nur still in sich hinein, als hätte er ein Kunstwerk erschaffen, mit dessen Resultat er mehr als zufrieden war. Den Nachmittag verbrachten die Jungen am Flipperautomaten, nur Hyuna spielte. Beflügelt von den Anfeuerungsrufen ihrer Freunde ließ sie die eiserne Kugel über das Spielfeld schnellen. Das Klacken und Klingeln, wenn sie an die Banden stieß, erweckte das uralte Gerät zum Leben. Tae-Min hingegen war auf seinem Hocker eingeschlafen und der Filzhut war ihm letztendlich doch vom Kopf gefallen. Mehrere Felder aus Leberflecken bewuchsen seinen kahlen Schädel. Betrübt betrachtete Soo-Jung den Dösenden, da er sich auf einmal selbst alt vorkam. Vielleicht würde er sich die Haare wieder lang wachsen lassen. Schon allein Hyuna zuliebe. Die Partie war gespielt und das Mädchen erschöpft. Mit der Sanftmut einer Enkeltochter legte sie Tae-Min die Hand auf die Schulter. Vom zarten Weckruf öffneten sich die greisen Augen eulenartig.
„Wir gehen jetzt. Es war schön hier.“
Ein Lächeln blitzte in Tae-Mins Gesicht auf und ebenso ein Goldzahn im hinteren Rachenraum.
„Dann bis zum nächsten Mal, liebes Kind.“
Soo-Jung und Haekwon standen hinter ihr und hoben schüchtern zum Abschied die Hand. Tae-Min registrierte sie kaum. Es schien, als würde er noch halb in einem schönen Traum stecken. Erstickt vom Verkehrslärm standen sie wieder auf der Straße. Eine komplett andere Welt umhüllte sie. Unten in der Spielhalle konnte man in Geschichten eintauchen, die von der Realität ablenken sollten. Nur einige Stufen aufwärts, und sie wurden wieder gewaltsam in die wirkliche Welt gerissen.
„Ich muss jetzt los“, verabschiedete sich Hyuna mit einem Auge auf ihre Armbanduhr schielend.
Mit ein wenig Neid betrachtete Haekwon, wie sie Soo-Jung einen Kuss auf die Wange gab, während er selbst nur eine distanzierte Umarmung von ihr bekam. Genießerisch hatte der Kahlkopf seine Augen dabei geschlossen. Es war schon dunkel und beleuchtet vom Neonlicht der Reklamen liefen sie durch den kühlen Abend.
„Lass uns irgendwo was futtern gehen. Mein Magen knurrt, ich habe einen Bärenhunger.“
Nur widerwillig stimmte Haekwon zu und kurze Zeit später saßen sie unter einer Plane eingehüllt vom Rauch, das vom Grill aufstieg. Das Zelt war gut gefüllt und obwohl Haekwon zuerst nichts essen wollte, kam der Appetit mit dem brutzelnden Bauchfleisch, das vor ihm auf der Anrichte lag.
„Ist ein klasse Mädchen, was?“, meinte der Kahlkopf und tunkte das ohnehin schon vor Fett triefende Fleischstück in Sesamöl.
„Ja, sie ist nett.“ Haekwon verzog sein Gesicht zu einer Grimasse, nachdem er den Soju runtergekippt hatte.
„Du verträgst wohl nichts mehr.“
Die Scherze des Kahlkopfs nervten ihn allmählich, aber Soo-Jung hatte ihm doch nichts getan. Warum verhielt er sich ihm gegenüber nur so missgelaunt?
Mit dem nächsten Schluck kam die Erkenntnis. Es konnte nur Eifersucht gewesen sein. Er, Haekwon, der König der Nacht, der Charmeur, der Frauenheld. Gerade er war nun neidisch auf einen Lieferjungen, der ein Mädchen aus dem Armenviertel liebte. Vielleicht war es die einzig wahre Romantik in dieser sterilen, rationalen Welt. Nach so etwas hatte er sich jahrelang gesehnt, ohne auch nur einen Funken Hoffnung zu haben, es zu finden.
„Warum lachst du?“, fragte Soo-Jung nichts ahnend.
„Ich musste nur dran denken, wie seltsam doch das Leben sein kann“, lallte Haekwon und blickte auf die leeren Sojuflaschen. Soo-Jung wusste nicht mal, was in dem Jungen vor sich ging. Er schlürfte nur seine Dose Hite und rührte den Hochprozentigen nicht an. Das Leben war schön. Man brauchte es sich nicht schön zu trinken. Sein Gegenüber schien das anders zu sehen und kippte sich einen Schnaps nach dem anderen in den Rachen, bis seine Sinne getrübt und sein Geist verwirrt waren. Geradezu scheel blickte er auf Soo-Jung, mit einem milden verstörten Lächeln auf den Lippen.
„Lass uns in eine Bar, und weitertrinken“, lallten diese Lippen.
„Nein, ich muss morgen arbeiten.“
Das schiefe Lächeln verschwand und finster blickte ihn Haekwon an.
„Du kommst jetzt mit und trinkst!“, brüllte der Borstenschnitt.
Haekwon blickte sich um. Alle Gäste starrten ihn an. Mehr verblüfft als erschrocken blickte ihn der Kahlkopf in die Augen, die klarer waren als seine. Das Hardrock Café Shirt lag noch zerknüllt in Haekwons Fäusten. Warum war er hochgeschnellt und hatte den Lieferjungen am Kragen gepackt? Was war nur in ihm gefahren? Auch Soo-Jung schaute sich um. Die übrigen Gäste wirkten überrumpelt, aber der Standbesitzer blieb gelassen. Nachdem Haekwon ihn losgelassen hatte, strich sich Soo-Jung sein T-Shirt glatt und verließ das Zelt.
„Was glotzt ihr denn so?“, schmetterte Haekwon den anderen Gästen entgegen. Mehr aus Scham als aus Wut. Dann rannte er Soo-Jung hinterher, der schon fast von der Dunkelheit verschluckt worden war. Die kalte Nachtluft traf ihn wie ein Fausthieb und er verspürte nun Übelkeit und Ekel, mehr über sich selbst als vom Reisschnaps.
„Soo-Jung! Soo-Jung, komm zurück!“, rief er noch in die Dunkelheit, aber bis auf sein Echo, das von den umliegenden Häuserblocks zurückschallte war, war nichts mehr zu vernehmen.