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Fliegende Worte

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„Hast du dir schon mal gewünscht, jemand anderes zu sein?“

Heute hatte sie ausnahmsweise nicht ihre Schuluniform an, was Soo-Jung befremdlich vorkam. Sie saßen auf einer Mauer und blickten in den aschgrauen Himmel. Die dichte Wolkendecke löste sich nur zähflüssig auf. Darunter eine Ansammlung spärlicher Behausungen, die von schmalen Wegen als Geiseln genommen wurden. Die Armut kroch den steilen Hügel hinauf und verschwand in der Weite, als würde sie vor sich selbst flüchten.

„Nein“, war seine kurze und zögernde Antwort gewesen.

Ihr Seufzer klang nach Erleichterung. Soo-Jung schaute ihr Ernst in die Augen, bis sie ihren Blick von ihm abwandte. Es war das dritte Treffen mit ihr und er genoss die Zeit ohne Hektik.

„Willst du denn jemand anderes sein?“

Auch sie grübelte lange darüber nach, als wenn sie eine lebenswichtige Entscheidung treffen müsste. Mit den Hacken ihrer Turnschuhe schlug sie gegen die marode Mauer, sodass der Putz unauffällig runterrieselte. So schüchtern und leise wie sie.

„Manchmal wünschte ich, dass ich jemand wäre, der sich mit anderen Problemen befasst als mit seiner Familie.“

„Das ist ein ziemlich bescheidener Wunsch.“

Soo-Jung, der selbst keine Familie besaß, wusste nicht, was er davon halten sollte. Als Waise war es nun mal nicht nachvollziehbar, welche Probleme man mit seinen Blutsverwandten haben konnte. Wie ein Hund nicht verstehen konnte, warum sein Herrchen Geld verdienen musste. Manchmal lag er in seiner heruntergekommenen Wohnung auf der Matratze und stellte sich vor, wie seine Eltern ausgesehen haben mochten. Im Heim hatte er ein Foto von ihnen verlangt, aber die Leiter, mürrisch und kalt, verweigerten seinen Wunsch. Mit Vierzehn floh er schließlich aus diesem Rattenloch, das die Seelen unschuldiger Kinder verschlang. Einige Zeit schlug er sich als Botenjunge für zwielichtige Geschäftsmänner durch, was ihm zuwider war. Es kam ihm töricht vor, sich einer solchen Gefahr auszusetzen. Schließlich erbarmte sich Gyeong seiner und gab ihm ein regelmäßiges Einkommen. Es reichte, um seine Kosten zu decken und ein wenig anzusparen. Für was, das wusste er selbst noch nicht. Sein Kopf war noch nicht gefüllt mit Träumen und Visionen. Eine Tatsache, die ihn selbst zum Grübeln brachte. Wohin sollte das Schiff steuern? Hauptsache immer weiter Richtung Sonne.

„Schlägt er dich?“, fragte Soo-Jung.

Wieder blickte Hyuna zu Boden und weigerte sich eine Antwort zu geben.

„Weißt du, manchmal, wenn ich mich schlecht fühle, reise ich mit meinen Gedanken in ferne Länder. Und in jeder Fantasie reite ich auf einem Tier. Ich versinke in dem Traum auf einem Kamel durch eine Wüstenlandschaft zu reiten, einem Elefanten durch den indischen Dschungel mit ihren antiken Tempelanlagen oder auf einem wilden Pferd durch die mongolische Steppe, wie es unsere Vorfahren getan haben.“

Soo-Jung überkam ein Gefühl von Scham, denn offensichtlich wusste das zarte Mädchen von Nebenan mehr über die Welt als er. Er kannte nur die Ecke, wo er aufgewachsen war.

„Du scheinst viel zu lesen“, stellte er neidlos fest.

„Gelegentlich lese ich meinem Bruder eine Gutenachtgeschichte vor. Ich liebe ihn. Er ist das Einzige, was mir wichtig ist.“

Der Himmel wurde dunkler und es kündigte sich ein Regenschauer an, der die ganze Stadt bedrohte. Nur wenige Leute liefen durch die Gassen, meist waren sie in Eile. Soo-Jung sprang von der Mauer und reichte Hyuna die Hand. Als er auf seinen Drahtesel stieg, setzte sie sich auf den Gepäckträger. Zunächst drehten sich die Räder langsam. Der Hinterreifen wurde kaum von ihrem zierlichen Körper belastet. Dann trat Soo-Jung kräftiger in die Pedale und gemeinsam sausten sie durch das Labyrinth. Vor Hyuna zogen Betonmauern, rote Dachziegel und Bewohner vorbei, die ihr mit voller Bewunderung hinterher sahen. Sie schloss die Augen, um den Zugwind zu genießen, der ihr Gesicht umwehte und die Haare aufwirbelte. Soo-Jung spürte, wie sich die warme Stirn des Mädchens gegen seinen Rücken lehnte. Während er fuhr und sich einen Weg durch das Gewirr aus engen Gassen bahnte, musste er lächeln. Seit langem fühlte er sich wieder frei und glücklich.

„Komm mich doch öfters besuchen“, hörte er ihre sanfte Stimme.

„Das werde ich“, war seine ehrliche Antwort. Denn mit ihr fühlte er sich wohl. Soo-Jung hatte noch nicht viel Erfahrung mit Mädchen gehabt, aber er spürte, dass sie zu ihm passen könnte.

Zunächst fielen nur einige dicke Tropfen vom Himmel und benetzten den staubigen Weg, dann öffneten sich die Schleusen. Soo-Jung spürte wie sich sein T-Shirt immer enger um seinen Oberkörper schnürte, während ihm die Muskeln brannten und der Regen ihm klamm von seinem kahlen Schädel perlte. Genauso durchnässt klammerte sich Hyuna enger um seine Hüfte, seine Wärme suchend, die er ihr gerne geben wollte. Die Gummireifen ließen das trübe Wasser an Betonwände spritzen, wenn er durch eine Pfütze fuhr. Gemächlich lief es dort hinunter und versickerte in den Ritzen. Am Ende des Weges erkannte sie ihr Haus. Der Regen fiel noch stärker und behinderte die Sicht, aber das baufällige Gebäude würde sie auch unter noch schlechteren Wetterverhältnissen wiedererkennen.

Unter dem Vordach stand Jun-Su. Schon von Weitem erkannte sie, dass er getrunken hatte.

„Wo bist du solange gewesen?“, brüllte er in den Schauer hinein. „Komm sofort ins Haus!“

Am wankenden Gang ahnte sie, dass es nicht bei einer Flasche Soju geblieben war. Sein fleckiges Unterhemd klebte an seinem runden Bauch und die fettige Haut glänzte noch mehr durch die Nässe. Hyuna stieg schnell vom Gepäckträger, um ihm entgegen zu laufen, weil sie wusste, wie ihr Vater war. Mit Leichtigkeit wurde sie zur Seite gestoßen. Wie ein zorniger Bulle stürmte er auf Soo-Jung zu. In seiner Brust spürte der Junge wie sein Herz immer schneller klopfte, aber seine Miene blieb mutig. Diesem Unmenschen wollte er keineswegs seine Furcht zeigen. Die Genugtuung wollte er ihm nicht geben. Noch den Hintern am nassen Sitz und ein Bein in eine Wasserlache gestemmt stand er da. Jun-Su redete nicht lange, sondern packte ihn am Kragen und zog ihn hoch. Dem kleinen, dicken Mann hätte Soo-Jung nicht so viel Kraft zugetraut. Das Fahrrad kippte zur Seite und die ölige Kette wurde noch feuchter.

„Du lässt deine dreckigen Finger von meiner Tochter! Hast du verstanden?“

Durch den trüben Regenvorhang sah Soo-Jung, wie Hyuna sich aufrappelte und zu ihm eilte.

„Papa, lass ihn. Er hat doch nichts getan!“, schrie sie schon aus der Ferne. Die Verzweiflung in ihrer Stimme jagte Soo-Jung einen Schauer über die Haut.

„Deine Tochter darf ausgehen mit wem sie will“, schleuderte er dem Vater grinsend ins Gesicht. Dann spürte er einen dumpfen Schmerz in der Magengegend. Der Fausthieb war gezielt und fest. Soo-Jung fiel auf den steinigen Boden. Der Schmerz betäubte kurz die Kälte, die klamm seinen Körper umklammerte. Auf ihn herab blickte Jun-Su, wie ein unbezwingbarer Fleischberg.

„Aber nicht mit so einem streunenden Köter wie dir.“

Der kalte Blick des Dicken traf ihn fast so hart wie der Fausthieb. Hyuna stand hinter ihrem Vater, traurig und ratlos. Es tut mir leid, sagten ihre schmalen Augen als sie Soo-Jung anblickte. Es tut mir so leid.

Ist schon gut, flüsterte er ihr in Gedanken zu, während Jun-Su sie Richtung Haustür stieß.

Mittlerweile war seine Hose völlig durchtränkt. Trotzdem blieb er eine Zeit in der Pfütze sitzen. Sein Blick, getrübt vom Regenvorhang, auf das Haus gerichtet, in dem sie verschwunden war. Verschlungen vom Rachen des Gebäudes mit seinem schmutzigen, weißen Gemäuer. Aus dem Inneren drang noch lautstarker Streit, der vom Geräusch des fallenden Regens gedämpft wurde. Man konnte einen kleinen Jungen weinen hören, so dezent wie ein Staubkorn auf einer Tischfläche. Mit zitternden Knien richtete sich Soo-Jung auf und stieg auf sein Fahrrad, das halb versunken in der Wasserlache lag. Mit einer gewissen Erleichterung verließ er das Viertel, obwohl er auch Stolz fühlte. So hatte er doch vor dieser zähnefletschenden Bulldogge keine Furcht gezeigt, sondern kühn in ihre vom Alkohol geröteten Augen geblickt. Er machte sich Sorgen um…. Konnte er das wirklich schon denken? Ja, er machte sich Sorgen um seine Freundin. Möglicherweise musste sie jetzt für sein Verhalten büßen.

Das Nudelhaus erschien ihm in diesem trüben Wetter wie ein Lichtschimmer. Ein sicherer Zufluchtsort, der ihn vor den Witterungen des Lebens schützte. Gyeong, dem Soo-Jung im Treppenhaus begegnete, starrte ihn verwundert an, als er völlig durchnässt und verdreckt das Fahrrad in den Flur schob. Trotzdem stellte er keine Fragen, was Soo-Jung an ihm sehr schätzte. Der alte Koch warf einen Plastikbeutel mit fauligen Gemüseschalen in die Tonne und verschwand wieder im Imbiss. Als Soo-Jung die Stufen hochstieg, spürte er jeden Muskel in Oberschenkel und Waden, die wie ein Inferno des Schmerzes seine Nervenenden versengten. Er hörte bereits das Kratzen hinter der Tür, die er langsam öffnete, und Kurt Cobain, den er den ganzen Tag allein gelassen hatte, huschte durch den Spalt und kletterte vor Freude sein Bein hoch. Den kleinen Taiwanhund hatte Soo-Jung bereits ins Herz geschlossen.

„Immer sachte, Kleiner“, begrüßte er sein neues Haustier lachend, während er ihm das leicht gräulich schimmernde Kurzhaar kraulte. Nach einem ereignisreichen Tag gab es nichts Schöneres als von einem guten Freund empfangen zu werden. Seine nassen Sachen streifte er ab und hing sie auf eine grüne Wäscheleine, die über dem Balkon gespannt war und dicht unter dem Vordach Schutz vor Feuchtigkeit bot. Kurt Cobain folgte jedem seiner Schritte. Ob er die Wäsche aufhing, den Kühlschrank öffnete oder nur in Boxershort am Tisch sitzend eine heiße Schale Ramyun zu sich nahm. Eine Sünde, wenn man bedachte, dass einige Stockwerke unter ihm Gyeong die besten Nudeln der Stadt zauberte. Mit wedelndem Schwanz und folgsamen Blick wollte Kurt Cobain bei ihm sein. Als Belohnung für seine Anhänglichkeit holte Soo-Jung dem kleinen Taiwanhund eine Wurst aus dem Kühlschrank, die Kleinkurt unverzüglich verschlang und wieder zu Soo-Jung aufblickte.

„Du frisst mir noch die Haare vom Kopf“, klagte er lächelnd und schmiss ihm noch ein paar Instantnudeln hin, die das Tier hastig vom Linoleumboden aufschleckte. Noch die dampfende Kunststoffschale vor sich blickte Soo-Jung aus dem Fenster. Der frische Regen hatte aufgehört und die feuchte Luft hüllte die Wohnblocks in einen grauen Dunst. In dieser Eintönigkeit strahlte die Stadt eine gewisse Schönheit aus, da sie sich nicht mehr so stark hinter funkelnden Reklametafeln verstecken konnte. Sie wirkte authentischer. Der Schauer hatte die Schminke abgewaschen und das wahre Gesicht der Stadt kam zum Vorschein. Er brauchte nicht lange, um zu Kräften zu kommen. Nur eine Nudelsuppe und gute Gesellschaft. Diesmal verließ er den Wohntrakt mit seinem Hund, um gemeinsam die asphaltierten Wege unsicher zu machen. Soo-Jung genoss diese kleinen Spaziergänge. So konnte er den Puls der Stadt fühlen und ihren vielfältigen Geruch einatmen. Ein olfaktorisches Sammelsurium aus Fischmarkt, Abgasen und Schweißgeruch. An jeder Straßenecke brüllten Händler ihre Verkaufsparolen und lieferten sich Preisschlachten, um die Konkurrenz auszustechen. Früher schwang man die Keule, heute die Zunge.

Den frischesten Tintenfisch, hier nur bei uns!

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Perlenketten in verschiedenen Farben! Deine Freundin wird es dir danken!

„Ja, meine Freundin“, wiederholte Soo-Jung und entschied sich für eine Kette mit bunten Strasssteinchen. Es kam ihm zwar ein bisschen albern vor und er wusste nicht, wie Hyuna darauf reagieren würde, aber was wäre das Leben schon ohne Risiken.

Das Internetcafé, das er ansteuerte, war früher ein alter Schallplattenladen gewesen. Man stellte einfach ein paar Rechner rein und bot dazu den surfenden Gästen einige Getränke an, und schon hatte der Papagei die Farbe gewechselt. Am Empfangstisch saß ein junger Mann mit Strubbelhaar, das sich auftürmte wie ein Vogelnest.

„Alles klar bei dir, Cheol-Hee?“

Der junge Mann zupfte sich sein grünes T-Shirt zurecht und schob seine randlose Designerbrille ein Stück weiter den Nasenrücken hoch, bevor er zu Soo-Jung hochblinzelte, als würde er in die Sonne starren.

„Ach, welch eine Überraschung. Dich werde ich wohl nie los. Hast du kein Leben?“, scherzte er.

Kurt Cobain huschte zwischen Soo-Jungs Beinen umher.

„Flohfänger sind hier eigentlich nicht erlaubt.“

„Mach eine Ausnahme. Wir sind doch Freunde.“

„Ja, ja du mich auch“, sagte Cheol-Hee lachend. „Du kannst ihn bei mir lassen. Die Nummer 12 ist frei.“

Es war mittlerweile Brauch, dass sich Soo-Jung einen Smalltalk mit dem sympathischen Informatikstudenten lieferte. Cheol-Hee arbeitete hier, um sein Studium zu finanzieren. Er bekam die Stelle nur, weil der Besitzer ein Geizhals war und Cheol-Hee nicht nur den Portier spielen musste, sondern auch nebenbei die Computer warten durfte. Soo-Jung ließ seinen Blick durch den schmucklosen Raum wandern. Trotzdem mochte er die Atmosphäre hier. Das synchrone Raunen der PC-Lüfter, das unkoordinierte Klicken von Mäusen und das Klappern der Tastaturen wie lose Schrauben im Werkzeugkasten auf der Ladefläche eines Pickups, während der Wagen über unzählige Unebenheiten fuhr. Alles zusammen ergab eine digitale Symphonie. Nachdem er sich aus dem Kühlschrank eine Zitronenlimo genommen hatte, nahm er seinen Platz ein. Hier lief alles so ab, wie in einem anständigen Wohnhaus. Jeder scherte sich um seinen eigenen Kram. Für Laien war es nur eine Ansammlung flimmernder Bildschirme, aber Soo-Jung studierte gerne das Mienenspiel der übrigen Gäste. Konzentriert verkrampfte, amüsierte, verärgerte und sanft verzauberte Gesichter, alle hier Seite an Seite in den Zauberkasten starrend. Der Klappstuhl vor seinem Rechner bot zwar nicht viel Komfort, aber das war Soo-Jung nicht wichtig, solange ihm ein erfrischendes Getränk die Kehle runterlief und er über digitale Autobahnen ein anregendes Gespräch führen konnte. War er erstmal drin, unterschied er sich kaum von den anderen Zombies hier, die mit fahlen Gesichtern in ihren Welten versanken und die reale Welt immer mehr zur digitalen wurde. Er machte sich daher keine Illusion, dass er anders war.

Bluebird27 war da und Browneyes55 übernahm das Ruder, da zunächst keine Reaktion erfolgte.

Browneyes55: Wen haben wir denn hier? ;)

Bluebird27: Wie schön, dass du auch mal wieder hier auftauchst.

Browneyes55: Wer bist du, meine Mutter? War beschäftigt.

Bluebird27: Lass uns mal wieder ein Bier trinken gehen. Diesmal zahle ich.

Browneyes55: Klar, wie wäre es mit heute. Ist mein freier Tag.

Bluebird27: Der feine Herr hat heute also frei. Sehr gerne, meine Mutter hat wieder die Putenrunde ins Haus geholt. Ich muss hier weg.

Browneyes55: ????

Bluebird27: Stell dir 3 Bonzenweiber vor, die den ganzen Tag darüber tratschen, wie toll doch ihre Kinder sind und wo es die besten Friseure gibt. Dieses oberflächliche Gehabe, das hält kein Mensch aus.

Browneyes55: Klingt als hättest du eine Menge Spaß.

Bluebird27: Du kannst mich mal. Mein Vater macht allerdings Stress, wenn ich jetzt wieder das Haus verlasse und den ganzen Abend durch die Gegend streife. Ach was soll´s. Ich komme raus. Pfeif auf ihn.


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