Читать книгу Four Kids - Byung-uk Lee - Страница 13
Pflichten
ОглавлениеSein Zeigefinger ruhte still auf der Maus, während er mit einer gewissen Enttäuschung auf den Bildschirm starrte. Seit nun mehr als zwei Wochen war Soo-Jung nicht mehr online gewesen. Somit war er gezwungen, allein durch die virtuellen Welten zu reisen. Wilde Schlachten hatte er geschlagen und war über fantastische Mondlandschaften gereist. Doch die anregenden Gespräche mit seinem Freund fehlten ihm sehr. In gewisser Weise fühlte er eine bleierne Einsamkeit, obwohl er von vielen Menschen umgeben war. Sein Leben hatte sich kein Stück bewegt, dabei hasste er Stetigkeit mehr als alles andere. Sein Vater rügte ihn täglich, weil er keinen Schulabschluss hatte, seine Mutter verhätschelte ihn und nahm ihn während der wöchentlichen Treffen mit Frau No und Frau Oh, die einem Verhör gleichkamen, in Schutz.
„Komm lass die Gäste nicht warten.“ Hee-Chul reckte seinen Kopf durch den Türspalt. Die strenge Haltung wies auf seine militärische Ausbildung in seiner Jugendzeit hin. Haekwon las gern in den Körpern anderer Menschen. Narben, Körperhaltung und Gesichtsausdrücke waren Spuren der Vergangenheit, die viel über eine Person preisgaben.
Das vom Bildschirm beleuchtete Gesicht blickte auf und nickte. Im Flur hörte er einen lauten Seufzer. Hee-Chul war über sein Verhalten wieder mal mehr als enttäuscht. Seltsamerweise sollte er an diesem Kaffeekranz teilnehmen, da Frau No ihn, Kim Haekwon dem Träger des heiligen Schwertes, etwas fragen wollte. Genervt klappte er sein Notebook zu und schlurfte in die Küche wie ein Sträfling, der seinen letzten Gang zum elektrischen Stuhl beschritt. In den Dampfschwaden des frisch aufgebrühten Kaffees gehüllt saßen sie da in ihren Coco Chanel und Gucci Kostümen, drei verkleidete, reiche Clowns. Alberne Gestalten, für die Geld zum guten Charakter zählte. Haekwon nahm nur am Rand der Manege Platz. Sunia hastete zwischen den Damen hin und her, wobei Frau No am häufigsten die Dienste der pummeligen Haushälterin in Anspruch nahm. Während Sunia der grantigen Frau No ein Stück Kuchen servierte, zwinkerte sie Haekwon freundschaftlich zu.
„Du solltest wirklich ein neues Mädchen finden. Gutes Personal gibt es wie Sand am Meer“, meinte Frau No zu seiner Mutter vornehm schmatzend. Im Hintergrund stand Sunia mit versteinerter Miene, um weitere Wünsche der Gäste zu erfüllen. Ohne einen Gesichtsmuskel zu verziehen nahm sie die giftigen Worte, die aus dem Pferdegebiss des unangenehmen Gastes drangen, standhaft in sich auf. Es war nicht das erste Mal, dass sie so eine Demütigung ertragen musste. Haekwon hätte Frau No am liebsten eine reingehauen. Die einzige Frau auf Erden, bei der er so etwas getan hätte. So war doch Sunia die gute Seele des Hauses. Die Person, mit der er sich noch seelisch verbunden fühlte und offen über seine Sorgen sprechen konnte, ein Kummerkasten in seinen Diensten, ohne hierarischen Anspruch von seiner Seite. Allerdings hörte er auch mit Entzückung der Haushälterin zu, wenn sie über ihren Alltag berichtete. Zuweilen hatte das einfache Leben etwas Faszinierendes. Über die Jahre hatte er sich zu weit entfernt von seinen Eltern. Wenn man so wollte, waren auseinandergedriftet und lebten in Parallelwelten, obwohl sie am gleichen Ort wohnten.
Das schweigende Gegenstück von Frau No, Frau Oh, saß nur auf dem mit blauer Seide bespannten Eichenstuhl und blickte verlegen auf die gläserne Tischplatte. Seitdem sie von ihrem Mann, ein erfolgreicher Rechtsanwalt aus Taegu, mit seiner Sekretärin betrogen wurde, lebte sie von stattlichen Alimenten. Was ihr an Selbstbewusstsein mangelte, schien Frau No für sich beansprucht zu haben. Wie einen Pudel schleifte die Frau mit dem Pferdegebiss ihre vermeintliche Freundin ein ganzes Leben hinter sich her. Mitleid empfand Haekwon mit Frau Oh nicht. Vielmehr ein Gefühl von Verachtung, wenn er in das fahle Gesicht von Frau Oh blickte. So bleich, so charakterlos, so schwach, dass alles Geld der Welt diese Makel nicht beheben konnte. Gelegentlich war ihre Scheidung der Mittelpunkt des Tratsches und Frau No konnte sich einige bissige Bemerkungen nicht verkneifen. Wobei sich jedes Mal ein listiger Ausdruck auf ihrem von Mascara entstellten Gesicht einnistete.
„Ach ja“, wandte sich endlich Frau No ihm zu. „Mein Junge, ich wollte dich gerne etwas fragen. Bekanntlich will mein Sohn bald mit seinem Medizinstudium anfangen. Und da du deine Schule hoffentlich bald beenden wirst, wirst du doch bestimmt auch mit einem Studium beginnen? Ich bete inständig dafür, dass du die Schule dieses Jahr beenden wirst.“
Nun blickte Yeon-Woo ebenfalls verlegen auf die Tischplatte. Reflexartig schaute er zu seinem Vater, was ihn selbst ein wenig überraschte. Hee-Chul hatte sich auffällig zurückgehalten, aber nun nickte er seinem Sohn ernst zu. Als Angeklagter musste sich Haekwon erst die Zustimmung von seinem blutsverwandten Advokaten abholen, bevor er eine Antwort wagte.
„Vielleicht belege ich nach der Schule einen Kurs in Soziologie.“
An Hee-Chuls angespannter Körperhaltung sah Haekwon, wie der König der Schreibwarenartikel innerlich die Hände über den Kopf schlug und sich dabei am Kronenzacken schnitt.
„Allerliebst“, meinte Frau No und zog ihr künstlichstes Lächeln aus der Schublade. Sie atmete einmal tief durch, als würden die nächsten Worte sie eine Unmenge an Kraft kosten. „Jedenfalls könntest du dir vorstellen, dir eine Wohnung mit ihm zu teilen? An den Kosten liegt es nicht. Wir haben Gott weiß so viel Geld für sein Studium zur Verfügung, um ihm den nobelsten Loft zu bezahlen.“ Nun schallte ein affektiertes Lächeln wie ein eisiger Windzug durch die Küche. „Vielmehr, fuhr sie fort, „beunruhigt es mich, wenn er so allein leben muss.“
„Also soll ich seinen Babysitter und Hausdiener spielen.“
„Haekwon! Wie kannst du es wagen?“, schritt Hee-Chul peinlich berührt ein. „Du vergisst dich.“
„Lassen Sie nur, Herr Kim.“ Versöhnlich knickte Frau Nos faltige Hand nach vorn. Dabei funkelten die mit Edelsteinen besetzten Ringe an ihrem rotlackierten Fingern wie Diskokugeln. „Jungen in diesem Alter sind sehr impulsiv und schwafeln schnell unbedacht dummes Zeug. Ich nehme seine jugendliche Naivität nicht böse.“
„Mag sein, dass ich jung und naiv bin. Es ändert aber nichts an der Tatsache, dass Ihr Sohn ein arroganter Kotzbrocken ist.“
„Haekwon, jetzt reicht´s! Verschwinde in dein Zimmer!“
Frau No schmunzelte und trank einen Schluck Kaffee, um diese Anfeindung möglichst elegant runterzuspülen. Seine Mutter hatte bislang geschwiegen, was ihn enttäuschte. Still aß sie ihren Kuchen und neben dem Zucker fraß sich auch stiller Frust in ihren Körper. Ebenso saß Frau Oh sprachlos da. Stolz schlich sich in Haekwons Seele. Endlich hatte er den Mut gefunden, die Wahrheit auszusprechen. Nie mehr würde ihn Hee-Chul dazu zwingen, sich dem Zwang so einer illustren Gesellschaft auszusetzen. Haekwon hatte es einfach satt, in so einer gespielten Welt den großen Schauspieler zu miemen, während seine Seele im Inneren langsam verrottete. Er dachte an die Zeit zurück, in der er durch das Armenviertel zwischen den vermoderten Mauern umhergeirrt war. Arm an Besitz und reich an Herz, so empfand er die Bewohner dieser Gegend. Ehrliche, hart arbeitende Menschen, die sich den kleineren Freuden des Lebens hingaben. Hier hingegen traf er mit seiner Faust nur auf harten, verlogenen Granit. Es waren keine weiteren Worte mehr nötig. Haekwon stand auf, wobei der zornige Blick seines Vaters auf ihn lastete. Die verdutzten Gesichter der feinen Damen nahmen wieder diese Last von seinen Schultern, sodass er mit einer gewissen Genugtuung sein Zimmer betrat. Ratlos schmiss er den Tennispokal, Yeon-Woo musste ihn dort hingestellt haben, von der Kommode und klappte sein Notebook auf. Ein bleiches Fenster erschien am Bildschirmrand wie ein schwach leuchtender Stern am Firmament. Browneyes55 meldete sich wieder zum Dienst der Freundschaft zurück. Haekwon klickte die grell blinkenden Werbeanzeigen weg, um sich zu seinem Gesprächspartner vorzuarbeiten. Endlich war der Bildschirm vom kommerziellen Abfall befreit, und er blickte auf das einzige Positive an diesem Tag. Nach seinem Wutausbruch wäre eine Nachricht von Browneyes55 das Letzte gewesen, womit er gerechnet hätte. Anscheinend spielte ihm das Leben wieder gute Karten zu. Er war nun an der Reihe sein Blatt klug und bedacht zu legen.
Bluebird27: Hätte nicht gedacht, dass du dich noch meldest. Warum hast du nicht auf meine Nachrichten reagiert?
Browneyes55: Da fragst du noch? Nach der Nummer, die du letztes Mal abgezogen hast. Uncool sag ich dir, wirklich uncool.
Bluebird27: Sorry
Browneyes55: Komm wir treffen uns?
Buebird27: Wo?
Nachdem Haekwon den muffigen Bus verlassen hatte, stand er vor einem weiß gestrichenen Betonklotz, der von Geistern bewohnt zu sein schien. So verwahrlost wie ein Straßenköter und umringt von verdorrtem Gras hätte er perfekt eine Filmkulisse für einen Horrorstreifen abgeben können. Die schwere Metalltür, die sich schon fast aus den Angeln hob, stand offen und konnte er nur mühsam nach vorne schieben, da sie stark über den Boden schleifte. Haekwon wagte sich langsam in den Schlund des Betonmonsters und stieg schwitzend die Steintreppen hoch. Verdammt war er unsportlich geworden. Softdrinks und Cracker hatten seinen organischen Tempel zum Einsturz gebracht. Das hölzerne Treppengeländer gab es stöhnendes Knarren von sich, als er sich darauf stützte. Mit einer gewissen Neugier betrachtete er die Wände, die nur sporadisch mit grüner Farbe bekleckst waren, als wäre der Streicher während der Arbeit eingeschlafen. Im obersten Stockwerk stand ihm nur noch eine rostige Eisentür im Weg. Diese knarrte laut, aber der Junge, der auf dem Dach saß und in den stahlgrauen Himmel blickte, hatte sich nicht umgedreht. Das Flachdach war mit Kies ausgelegt und unter seinen Nikes knirschten seine Schritte, die nur noch zwei Meter von Soo-Jung entfernt waren. Der kahlgeschorene Kopf wirkte so farblos wie das himmlische Deckengewölbe. Seine blaue Regenjacke wurde gelegentlich vom Wind erfasst und wachte im Sekundentakt aus dem Koma auf. Noch eine Weile stand Haekwon hinter ihm. An der Kunststofflasche des Sixpacks fehlten bereits zwei Dosen.
„Setz dich“, sagte Soo-Jung, ohne sich umzudrehen.
Haekwon tat es und es baumelten vier Beine vom Geisterhochhaus, dessen Fenster teils zerborsten waren. Lange Risse, die sich durch seine ganze Existenz zogen.
„Hier komme ich her, wenn ich allein sein will.“
„Warum dieser Ort?“, fragte Haekwon, und ohne Weiteres zog er die dritte Dose aus der Lasche.
„Veraltete Hallen und Hochhäuser erinnern mich an Vergänglichkeit und Unvollständigkeit, deswegen liebe ich diese Orte. Sie passen zu mir. Manchmal fühle ich mich auch unvollständig.“
Nachdenklich blickte Haekwon zum Himmel, auf der Zunge einen schaumig bitteren Geschmack, an den er sich wohl nie gewöhnen würde.
„Da geht´s mir nicht anders, aber ich würde nie auf den Gedanken kommen, in alten Lagerhäusern rumzulaufen.“
Der fahle Kahlkopf drehte sich zu ihm. Ernsthaftigkeit hatte seine Züge versteinern lassen.
„Warum nicht?“
Haekwon nahm noch einen langen Zug, bevor er antwortete, so als müsste er eine Prüfungsfrage beantworten. Druck war das Letzte, das er im Leben gebrauchen konnte, aber auch das, was paradoxerweise notwendig war. Nur unter Druck konnte schließlich auch ein Kohlestein zum Diamanten werden.
„Ich finde es einfach merkwürdig.“
„Merkwürdig? Denkst du ich bin merkwürdig?“
So langsam wurde ihm der Kahlkopf unheimlich.
„Nein, du bist sogar, um ehrlich zu sein, der Normalste, den ich kenne. Meine Eltern sind merkwürdig. Ich verstehe sie häufig nicht. Ich kann einfach nicht zu ihnen durchdringen. Es ist, als gäbe es in unserem Haus eine unsichtbare Barriere, die wir noch nie überwunden haben. Mein Vater, ich kenne ihn nicht, und das Gesicht meiner Mutter ist nur ein Gesicht.“
Soo-Jung zerknüllte die Dose in seiner Hand und warf sie in die Tiefe. In schrägen Bahnen segelte sie hinunter, wurde vom Wind erfasst und trieb wieder hoch, nur um dann weiter zu fallen. Die beiden Jungs betrachteten schweigend das Zusammenspiel zwischen Material und Naturgewalt. Unten angelangt wiegte sich die Dose mit einer gewissen Sanftmut ins vertrocknete Grasbett. Ein starker Windzug erfasste die Fassaden der umliegenden Gebäude und für einen kurzen Moment schien das tote Gestein, umringt von verwehtem Laub, der von den kahlen Bäumen gewaltsam runtergerissen worden war, zu erwachen. Inzwischen waren nur wenige Worte gewechselt und das Bier geleert.
„Meine Eltern leben nicht mehr, glaube ich zumindest. Ich durfte sie nie kennenlernen. Keine Erinnerungen zu haben, das ist mein Schicksal. Ich würde mir gern ein Urteil über sie bilden, aber wo keine Erde ist, kann auch nichts wachsen.“
Einige Spatzen zogen weit oben an ihnen vorbei. Man erkannte sie kaum, da sie sich farblich wenig vom grauen Himmel abhoben. Gut getarnt bahnten sie sich ihren Weg durch höhere Sphären, die nie ein Mensch ohne technische Hilfsmittel durchqueren konnte. Mit zittrigen Fingern deutete Soo-Jung auf den Schwarm.
„Siehst du den einen Vogel?“ Noch immer seinen Arm in Höhe gestreckt blickte er Haekwon ins Gesicht. „Der eine fliegt ganz allein seine Flugbahn, während die anderen in der Gruppe bleiben. Ich frage mich, kann er nicht mit den anderen mithalten oder will er nicht im Schwarm fliegen? Ist es reine Willkür oder Unvermögen?“
Haekwon kam sich plötzlich so dumm vor. Wieso war er hier? Was erhoffte er sich von dem Treffen? Glaubte er wirklich, dass Soo-Jung sein Freund war?
„Vielleicht ist es von beidem etwas. Der kleine Spatz hat geglaubt, dass er zur Gruppe gehören will, aber er hat erkannt, dass die anderen ihn nicht akzeptieren, daher gibt er sich absichtlich keine Mühe mehr. Jede weitere Kraftanstrengung wäre wertlos. Die anderen Spatzen fühlen sich in ihrem Vorurteil bestätigt und er hat schließlich die Einsamkeit, die er wollte. Alle sind letztendlich zufrieden.“
„Du scheinst den Spatzen viel zuzutrauen.“
Das schallende Gelächter des Kahlkopfs bedeckte die maroden Dächer der umliegenden, architektonischen Fossilien wie kalte Asche. Soo-Jung erhob sich und stand nun direkt am Rand. Ehrfürchtig, aber auch mit einem Schimmer Sehnsucht blickte er in die Tiefe. Haekwon erschrak, als er in das fahle Gesicht blickte und genau die Gefühlsmischung in der sonst toten Mimik erkannte. Er tat es seinem Kollegen gleich. In einem tödlichen Balanceakt standen beide da und schwankten im Wind, als befänden sie sich in einer Art Agonie. Der Todeskampf hieß das Leben und das Leben war ein Todeskampf.
„Denkst du manchmal an den Tod?“, fragte Soo-Jung.
„Nie.“
„Ich frage mich, wann es bei mir soweit sein wird. Es ist tragisch, dass man sein ganzes Leben mit dieser Ungewissheit leben muss. Wenn das Lamm zur Schlachtbank geführt wird, trauern die anderen Lämmer.“
„Mich würde keiner vermissen.“
„Mich auch nicht.“
Langsam stiegen sie wieder die Treppen hinab. Mit jeder Stufe kamen sie dem sicheren Boden näher.
„Denkst du gerade an sie?“ Hinter dieser Frage steckte mehr Eifersucht als Neugier, wie sich Haekwon eingestehen musste.
„Immerzu“, meinte Soo-Jung. „Sie ist das Mädchen, das ich für immer lieben werde. Das weiß ich jetzt.“
Unten angelangt standen sie vor der rostigen Metalltür, die sie vom Tageslicht abschirmte. Es herrschte eine bedrückende Stille. Nur der Wind, der seinen herbstlichen Atem durch die Ritzen blies, war zu hören.
„Woher willst du wissen, dass sie die eine ist?“, fragte Haekwon.
Stumm schaute der Kahlkopf das Treppenhaus hoch, als wollte er die Decke nach etwas absuchen, das nur er sehen konnte.
„Ich fühle es einfach, hier drin.“ Zweimal klopfte er sich auf die Brust, ohne dabei seinen Blick zu senken. Dann schob Soo-Jung die Tür auf und grelles Tageslicht fraß sich in Haekwons Iris, sodass er sein verzerrtes Gesicht mit der Hand abschirmen musste. Eine Zeit lang spazierten sie über das vertrocknete Gras, das stellenweise von matschigen Blättern bedeckt war. Die weißen, unbewohnten Betonklötze hatten sie wie fahle Obelisken umzingelt. Bedrohlich wirkten sie mit ihrem fleckigen Gemäuer und den zerborstenen Fenstern, die an die scharfen Zähne eines Hais erinnerten.
„Wenn ich eines Tages von dieser Erde verschwinden sollte, wird sich niemand mehr an mich erinnern. Ich will nicht abtreten, ohne Fußspuren hinterlassen zu haben.“
„Fußspuren?“ Haekwon zog eine Braue hoch. So rüpelhaft der Kahlkopf sich benehmen konnte, so war er doch ein Gedankenmensch, der nach einem höheren Sinn strebte.
„Hyuna soll sich an mich erinnern, auch wenn diese Verbindung nicht lange halten sollte.“
Sie gingen an einem verlassenen Spielplatz vorbei. Die rostigen Ketten der Schaukeln, vom grünlichen Moder befallene Wippen und das poröse Metall einer einsamen Rutsche, alles einbettet im aschgrauen Sand, über dem nie unschuldiges Kinderlachen schallen würde, veranlassten sie, innezuhalten. Stöhnend ließ sich der Kahlkopf auf eine der Schaukeln nieder. Haekwon tat es ihm gleich. Gemeinsam ließen sie ihren Blick über die verlassene Gegend schweifen, die sich schwer und trostlos auf das Gemüt legte, dennoch geheime Sehnsüchte weckte, die Haekwon selbst fremd waren.
„Fußspuren habe ich bereits viele hinterlassen, aber die meisten davon würde ich am liebsten wieder verwischen“, meinte Haekwon nach längerem Schweigen. Er rieb sich die Hände. Langsam wurde es kühler und der Himmel mit seinem grauen Gewölbe drohte sich, über sie zu ergießen.
Mit kindlicher Unbefangenheit fing der Kahlkopf an, zu schwingen. Dabei flatterte die Regenjacke wild wie ein steigender Drachen im Wind. Haekwon Beine hingegen waren noch in den feuchten Sand gestemmt. Er hatte keine Lust, sich dem infantilen Trieb des Kahlkopfs zu beugen. Als er die verlassenen Hochhäuser, die verwilderte Vegetation und den verrotteten Spielplatz betrachtete, wurde ihm klar, dass er viel zu lange in Gangnam gelebt hatte, ohne zu wissen, dass es in dieser Stadt Orte gab, die deutlich interessanter waren. Die Erkenntnis war frustrierend, da er seine Lebenszeit vergeudet hatte. Statt die noch ihm unbekannten Viertel zu erkunden, hatte er sich zu lange mit Dingen beschäftigt, die keinen Wert besaßen. Ein Plumpsen riss ihn aus den Gedanken. Soo-Jung hatte sich rücklings in den Sand fallen lassen und starrte verträumt in den Himmel. Zunächst zögerte Haekwon, aber legte sich dann auch hin. Rastlose Wolken brauten über ihnen zusammen. Der nächste Regenschauer kam, aber den beiden Jungs war es egal.