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Narrenfreiheit
ОглавлениеEr war nicht da. Verwirrt blickte Haekwon auf seine Armbanduhr und schaute in die gähnende Leere des Zeltes. Nach zwei Flaschen Soju und einem Pfund Fischkuchen hatte sich der anfängliche Ärger etwas aufgelöst. Misstrauisch hatte die Bedienung geschaut, die zunächst seine Volljährigkeit anzweifelte, bis sie ihm endlich doch noch die beiden grünen Fläschchen brachte. Die Planen konnten den Verkehrslärm nicht dämpfen, aber Haekwon hatte ohnehin das Gefühl, er würde im Freien essen. Feine Lokale, wo er die schmackhaftesten Speisen essen durfte, war er gewohnt. Ein Privileg, das nur reichen Leuten vergönnt war. Der Status seines Vaters öffnete ihm viele Türen und doch blieben mehr verschlossen. Hier hatte er Marmorboden gegen blanken Asphalt, Silberbesteck gegen Einwegessstäbchen und steife Etikette gegen aufrichtige Gespräche getauscht. Und der Gedanke gefiel ihm. Wenigstens so war die Flucht aus seiner Welt für einen Augenblick möglich. Die Reichen und Schönen saßen in ihren Elfenbeintürmen und hatten keine Ahnung, was auf den Straßen dieser Stadt los war. Denn das wahre Leben tobte in engen Gassen, bei Straßenhändlern und in staubigen Fabrikhallen. Trotzdem fühlte er sich irgendwie in der Enge des Zeltes unbehaglich. Anders als er hier auf Soo-Jung traf, der ihm mit seinem offenen Gemüt das Gefühl gab, nicht fehl am Platz zu sein.
Etwas benommen wankte er auf die Bedienung zu, die ihm mit grimmiger Miene, so schien es zumindest, die Geldscheine aus der Hand riss. Anscheinend verströmte er den Gestank des Wohlstands, sodass ihm manche Menschen mit Mistrauen begegneten. Dabei trug er nicht mal seine beste Kleidung. Im Tarnmantel der Mittelmäßigkeit wollte er eine Gesellschaft erkunden, die die meisten aus seiner Schicht mieden. Haekwon beschloss, unbekanntes Terrain zu erkunden. Nachdem er sich einen Weg aus dem Dschungel aus Reklamelichtern und den wogenden Basswellen, die aus den Geschäften dröhnten, um die Menschen zum fröhlichen Konsum zu animieren, gebahnt hatte, stand er nun auf einer stählernen Brücke, die zwei Stadtviertel miteinander verband. Die roten Träger ragten wie betende Arme in den Himmel und endeten in einer dreieckigen Metallummantelung. Er starrte auf die graue, flüssige Masse hinunter. Ständig in Bewegung und fortwährend ihre Form verändernd, ein liquider Gestaltenwandler, amorph und doch so viele Formen annehmend. Auf dem schmutzigen Wasser fuhren Dampfer und kleinere Schiffe mit Touristen. Den schwarzen Ruß in den Himmel schleudernd. Beide Beine hatte er zwischen die Gitterstäbe gesteckt. Er spürte am Hintern die Kälte des Stahls, die seine Jeans durchdrang. Ein Zischen durchbrach den dumpfen Verkehrslärm hinter ihm. Schaum sprudelte an die Oberfläche des Aluminiumdeckels. Noch betäubt waren seine Sinne vom Reisschnaps und mit Bier versuchte er diesen Zustand aufrechtzuerhalten wie die Atmung eines Komapatienten. Bei dem Gedanken daran, dass er sich noch Minuten zuvor über eine Person geärgert hatte, die er ohnehin nicht kannte, musste Haekwon schmunzeln. Und so schlich sich eine Zufriedenheit in seine Seele, die er lange nicht mehr verspürt hatte. Nichts konnte ihm heute die Laune verderben. Er war jung, frei und nicht gefangen in der Enge der Zielstrebigkeit, in die sich andere Menschen begaben, um sich eine bessere Zukunft zu sichern. Diese Tür stand ihm offen, obwohl er sie am liebsten zuschlagen wollte.
Zur Bestätigung seiner Gedanken stieß er einen lauten Rülpser in die Ferne und beugte näher sich ans Geländer, um weitere Schiffe zu beobachten. Die leere Dose bewegte sich unruhig im Wind, bis sie an die Metallstäbe stieß und scheppernd zur Seite fiel. Haekwon machte sich nicht die Mühe, sie aufzulesen, sondern schulterte seinen Rucksack und überquerte die Brücke. Die weichen Sohlen seiner Nikes erzeugten auf dem Metall bei jedem Schritt ein dumpfes Geräusch, das von vorbeizischenden Fahrzeugen verschluckt wurde. Am Brückenende erwarteten ihn graue Wohnblocks, deren Fenster Haekwon wie wachsame Augen verfolgten. In einigen Wohnungen brannte Licht, in anderen herrschte Dunkelheit. Hinter einigen Fenstern bewegten sich Schatten, hinter anderen waren die Vorhänge zugezogen. Die Menschen waren verschieden, aber lebten dennoch im gleichen Hornissennest. In einem kleinen Krämerladen kaufte er sich weitere Dosen und eine rote Fruchtgummistange, die ihm ein hagerer, alter Mann mit wettergegerbter Haut überreichte. Mit Bewunderung sah sich Haekwon in dem Laden um, der vollgestopft mit Süßigkeiten, Getränken und Snacks war. Die Freundlichkeit des Besitzers sah er mehr als Geschäftstüchtigkeit statt Wohlwollen. So verließ er den kleinen Schuppen, der provisorisch zu einem Laden umgebaut worden war. Und er setzte sich auf den rissigen Bürgersteig, um das Leben und die Anwohner zu betrachten. Vor ihm begannen einige Mädchen mit Kreide Kästchen auf den Asphalt zu malen. Wenige Minuten später sprangen sie auf dem Straßengemälde rum und ließen ihrer kindlichen Fantasie freien Lauf. Noch den bitteren Geschmack des Dosenbiers auf der Zunge legte sich ein sanftes Lächeln auf seine ernste Miene. Vorbeifahrende Fahrradfahrer grüßten die Kästchenhüpferinnen, die mit belebter Stimme den Gruß erwiderten. Den Gestank aus den Mülltonnen und die zerfallenen Häuser nahm er mit einer Selbstverständlichkeit wahr, als wäre er selbst in dieser Gegend aufgewachsen. Haekwon wagte sich weiter in das Viertel hinein und wollte so viel erkunden wie es ihm möglich war. Seine Waden schmerzten, aber sein Geist war voller Tatendrang.
Streunende Hunde verfolgten ihn und er scheute sich nicht, das stinkende Fell zu streicheln. Nur zwei begleiteten noch ein Stück seines Weges, bis auch sie das Interesse daran verloren und sich wieder dem Schnüffeln an Mauern, dem Durchwühlen von Müll und dem Kläffen widmeten. Im Labyrinth aus schmalen Wegen verirrte er sich schnell. Trotzdem schlich sich keine Panik in sein Gemüt, sondern eher Genugtuung. Einige alte Damen kreuzten seinen Weg, auf ihren verjährten Rücken Körbe geschnallt, die mit Chinakohl und Rettich gefüllt waren. Haekwon stellte mit Freude fest, dass seine Begrüßung mit gleicher Freundlichkeit erwidert wurde. Und so nahm er zwei Damen die Körbe ab und trug sie ein Stück der Strecke. Vor einem maroden Haus legte er sie ab und sie bedankten sich für seine Hilfe. Faltige Hände klopften ihm auf die Schulter. Diese aufrichtige Geste zeigte Haekwon umso mehr die verlogene Kälte der Wohlhabenden. Es war das Aufrichtigste, was er jemals erfahren hatte. Tief im inneren Kern dieser Armut erkannte er den Kern der Menschlichkeit, nach dem er solange gesucht hatte. Diese Leute besaßen fast nichts, aber dennoch führten sie ein erfüllteres Leben als sein Vater, der König der Schreibwarenartikelindustrie, jemals führen würde. Jeden Abend kam Hee-Chul völlig aufgelöst von der Arbeit und saß bis in die Nacht apathisch auf dem Sofa, die Stirn von Sorgenfalten zerfurcht. Noch nie hatte Elend eine so luxuriöse Verpackung gehabt. Im Haifischbecken musste man sich behaupten, damit man nicht gefressen wurde. Dieses Leben hatte Haekwon nie gewollt. Er wurde einfach in diese Schlucht hineingestoßen. Nun kam er nicht mehr hinaus, egal wie hoch er kletterte. Doch Mitleid verlangte er keines. Denn ihm war durchaus bewusst, dass ihm ein Leben in die Wiege gelegt worden war, das andere Menschen anstrebten und doch nie erreichen würden. Mit einem seltsamen Gefühl verließ er das Viertel, um wieder in seine Glitzerwelt einzutauchen, die von unzähligen Sendern als Daily Soaps ausgestrahlt und von den Ärmeren mit Bewunderung angesehen wurden.
Es war dunkel in der Wohnung. Haekwons müder Blick schweifte über die vielen Umrisse, die teure Ledersofas, Holzschränke aus Mahagoni und Lampen aus deutschem Porzellan erzeugten. Auch ein menschlicher Umriss war zu sehen. Hee-Chul, sein Erzeuger, saß auf dem Sofa und hatte ein Whiskeyglas in der Hand.
„Wo ist Mutter?“, fragte Haekwon den schwarzen Fleck.
Trotz der Dunkelheit erkannte er, dass Hee-Chul immer noch in seinen Geschäftsanzug gezwängt war. Er schwieg zunächst und nahm einen Schluck Whiskey.
„Setz dich erstmal. Wir müssen reden.“ Haekwon besorgte die Ernsthaftigkeit, die in der Stimme lag. Er war noch berauscht vom Bier. Vermutlich genauso berauscht wie sein Vater. Trotzdem hoffte er, dass Hee-Chul den Biergestank, der seine Speiseröhre wie eine unangenehme Befürchtung hochkroch, nicht bemerken würde.
„Nun“, fing Hee-Chul an und stellte das Glas auf den Tisch ab, „deine Mutter und ich machen uns Sorgen wegen dir.“
„Weswegen?“
„Es geht um deine Zukunft. Wenn du nicht mal deinen Schulabschluss schaffst, wie willst du dann die Universität absolvieren. Du solltest dir mal ernsthafte Gedanken darüber machen. Ich will meine Firma nicht an dich übergeben, wenn du keinen akademischen Abschluss hast.“
Haekwon wusste, dass der ruhige und bereits leicht lallende Ton die Ruhe vor dem Unwetter war. Es erschien ihm fast schizophren, als sein Vater ihm die warme Hand auf den Rücken legte, vertrauensvoll und warnend zugleich.
„Nächstes Jahr werde ich es bestimmt schaffen. Ihr braucht euch keine Sorgen zu machen.“
„Aber wie?“, stöhnte Hee-Chul lauter und lehnte sich wieder zurück. „Wenn du nicht den ganzen Tag draußen rumlungerst und Blödsinn treibst, sitzt du stundenlang vor dem Computer, statt zu lernen. Ich will keinen Taugenichts als Sohn haben. Hast du das verstanden? Wenn du keinen Abschluss hast, bist du nicht mehr mein Sohn.“
Haekwon antwortete mit Schweigen und ließ seinen Vater ratlos zurück. Instinktiv schaltete er seinen Laptop ein, um Trost in den Weiten des Internets zu suchen. Unverhofft ploppte ein Chatfenster auf.
Browneyes55: Sorry, habe unseren Termin völlig verpennt.
Bluebird27: Nicht schlimm. Hatte sowieso andere Pläne.
Browneyes55: Ach ja, welche denn?
Bluebird27: Habe mich mit Leuten getroffen.
Browneyes55: Sicher, dass du nicht sauer bist?
Bluebird27: Ja
Browneyes55: Trotzdem möchte ich es wieder gut machen. Ich gib dir ein Essen aus. Eine Portion von Gyeongs berühmten Nudeln.
Bluebird27: Das brauchst du nicht.
Browneyes55: Doch ich will es aber. Und ich habe dir was Wichtiges mitzuteilen.
Wie Worte doch die Stimmung eines Menschen verändern konnten. Die milde Dankbarkeit der alten Gemüsedamen schlug in Zufriedenheit um, die mahnende Ansprache seines Vaters bedrückte ihn und machte nachdenklich. Neugier und Vorfreude waren es nun, was Haekwon empfand. Es war für ihn ein Tag gewesen, an dem er alle Gefühle dieser Welt verspürte, ohne jemals einen festen Bezug zu ihnen zu entwickeln, als wäre er einfach ein stummer Zuschauer. Erschöpft legte er sich ins Bett und drückte seine Ohrmuschel gegen die Wand. NICHTS. Heute gab es keine Daily Soap, keine Streitigkeiten an diesem Abend. Anscheinend hatte der Alkohol Hee-Chuls Geist gefügig gemacht. Haekwon hasste seinen Vater zwar nicht, aber dennoch ertappte er sich dabei, wie er Verachtung empfand, die ihn auf Distanz zu ihm hielt. Gelegentlich schämte er sich, weil er so fühlte. Ertappt von seinem eigenen Gewissen wie es oft Ladendieben erging. Seine Mutter liebte er über alles. Verhätschelt hatte sie ihn dennoch nie. Das war es, was er an ihr am meisten mochte. Die liebevolle, aber dennoch rationale Beziehung zu ihr.