Читать книгу Four Kids - Byung-uk Lee - Страница 6
Bonuspunkte
ОглавлениеDer Warteraum des Krankenhauses quoll über wie eine faulig stinkende Mülltonne. Ein kleiner, pummeliger Junge saß auf dem warmen Mutterschoß einer zierlich gebauten Frau, die vergeblich versuchte, liebevoll seinem Jammern ein Ende zu setzen. Auf hellgrünen, am Boden festgeschraubten Kunststoffstühlen saßen meist ältere Leute, sehnsüchtig darauf wartend, dass die unfreundliche Schwester hinter dem Schalter ihre Zahl aufrufen würde. Hyuna presste sich das Taschentuch fester auf die Nase. Einige Tropfen Blut waren bereits auf die roten Kacheln gefallen, fielen daher nicht sonderlich ins Auge. Er hatte es schon wieder getan, obwohl sie alle Regeln befolgt und sich seinem Willen gebeugt hatte. Er hatte sie erneut geschlagen. Sie wusste nicht, wann seine Wutausbrüche ein Ende nehmen würden. Unkalkulierbar der Zorn war eines Mannes, der von der eigenen Frau hintergangen wurde, indem sie mit einem Immobilienmakler eine Affäre angefangen hatte und nach Japan durchgebrannt war. Auch Hyuna spürte gelegentlich diesen Zorn. Denn sie fühlte sich von ihrer eigenen Mutter im Stich gelassen. Ihr einziger Trost war ihr sechsjähriger Bruder, Ji-Min, der sich tapfer auf den fleischigen Rücken seines Erzeugers geschmissen hatte, als der wieder die Kontrolle über sich verlor. Nicht selten bekam der kleine Junge dabei auch eine verpasst. Dann taumelte er winselnd wie ein Welpe in eine Ecke, was Hyuna mehr Schmerzen bereitete als der Schlag ins Gesicht.
„Nummer 124!“ Die mechanische Stimme der Schwester dröhnte blechern aus dem Lautsprecher. Routine und Alltag hatten ihre Gesichtszüge versteinern lassen. Alle Emotionen waren im Geruch von Desinfektionsmitteln und den Ausdünstungen Kranker zersetzt worden. Nur die hellblaue Kappe auf ihrem leicht ergrauten Haar hatte etwas Warmherziges. Hyuna blickte auf den zerknitterten Zettel in ihrer Hand. Die Zahl, die aufgerufen wurde, gehörte einem Greis im Poloshirt, der sich mit Hilfe seines Gehstocks aufrichtete und auf den Schalter zuwankte. Ein Speichelfaden klebte ihm am Kinn und er schien kaum in der Lage die kurze Strecke zu bewältigen, die ihm in seinem Zustand wie eine Reise zum Mount Everest vorkommen musste. Seufzend stopfte sie den Zettel mit der 145 in die Hosentasche ihrer Jeans, auf der am rechten Oberschenkel eine blaue Blume aufgestickt war. Die hässliche Hose hatte sich heute mit einem gelben Schlabberpulli vermählt. Ice Cream war auf der Brustseite in weißen Lettern gedruckt. Grässlich diese Kombination, die zu Hyunas Stimmung passte. Wenn alle Klamotten abgenutzt waren, schickte sie meist ihr Vater, Jun-Su, zur Kleiderspende, da der Stolz ihm selbst die Beine lähmte. Genauso lähmend war die Scham, die sie dazu trieb, auch in der Freizeit in ihrer Schuluniform rumzulaufen, damit andere nichts von ihrer Armut erfuhren. Immer noch dröhnte ihr der Schädel. Sie spürte ein Stechen auf dem Nasenrücken, der hoffentlich nicht gebrochen war. Ins Gesicht hatte er sie noch nie geschlagen. Sie hatte das überraschte Aufblitzen in seinen Augen bemerkt, da er sich selbst über die eigene Grobheit zu wundern schien. Patienten verließen das Krankenhaus und doppelt so viele strömten nach. So viele kranke Menschen, die kleine oder große Gebrechen behandeln lassen wollten. Neben Hyuna nahm ein Junge im Sportdress Platz, den Arm im Gips. Freunde und Familie hatten ihn signiert. Hinter den mit schwarzem Filzstift gemalten Geschmiere tauchte nur sporadisch weißer Verband auf. Anscheinend war er sehr beliebt. Hyuna tat so, als müsste sie zur Toilette. Denn im Gesicht des Jungen, zwar schön und jugendlich, erkannte sie auch die Ungeduld und Unbeherrschtheit ihres Vaters. Eingekeilt zwischen dünnen Holzwänden der Toilettenkabine vernahm sie rauschende Wasserhähne und beiläufige Gespräche. Der Raum kam ihr kälter vor als der Wartesaal. Trotzdem blieb sie auf dem runtergeklappten Toilettensitz, um die Zeit verrinnen zu lassen. Im Sichtfeld nur die weiße Tür aus Sperrholz. Daneben die zerpflückte Klopapierrolle, die sich dem Ende neigte. Es hatte aufgehört zu bluten, daher schmiss sie das durchtränkte Taschentuch in die klaffende Öffnung des Mülleimers. Dumpf drang die Lautsprecherdurchsage bis zu ihr.
„Nummer 129!“
Sie würde noch hier einige Zeit verharren müssen, bis der zuständige Arzt sie ihrer Ungewissheit berauben würde. Eine gebrochene Nase konnte viele lästige Fragen in der Schule aufwerfen, der sie als schlechte Lügnerin kaum standhalten würde. Im Rausch der Gedanken musste sie an den Lieferjungen denken. Er hatte die treuen Augen eines Hundes und das schüchterne Lächeln eines Knaben, der das erste Mal eine nackte Frau zu Gesicht bekommt. Einen richtigen Freund hatte Hyuna noch nie gehabt. Es waren vielmehr kurzfristige Begegnungen gewesen, die mehr enttäuschend als erleuchtend gewesen waren. Innere Schönheit, das war nicht nur eine Phrase für sie. Denn ihre letzte Begegnung hatte sie mit einem Jungen, mit dem sie einige Male zusammen gegessen hatte. Die Kilos, die er zu viel auf die Waage brachte, störten sie nicht. Vielmehr fürchtete sie sich vor der Unsicherheit des Dicken, die schnell in Angst und Wut umschlagen konnte, daher hatte sie die Sache schnell beendet. Das Gesicht war für Hyuna nicht nur ein Sammelsurium aus Mund, Nase und Augen, sondern versuchte sie bei Fremden zunächst anhand der Mimik den inneren Seelenzustand zu ergründen. Wie konnte sie eine Person lieben, die selbst keine innere Ruhe finden konnte?
„144!“
Nun war es fast so weit. Mit einem seltsamen Gefühl verließ sie die Kabine und wusch sich am schmutzigen Waschbecken die Hände. Im dumpfen Licht der Neonlampe betrachtete sie im Spiegel ihr Gesicht. Sie sah müde aus. Trotzdem nicht unbedingt unglücklich. Die Augen waren für ihren Geschmack zu asiatisch. In der Stadt wurden die Sinne von Reklametafeln fast erdrückt, auf denen schlanke Frauen mit großen, runden Augen die Kosmetikindustrie anpriesen. Manchmal blieb sie vor einem Plakat stehen, um minutenlang die schönen Gesichter von Models zu betrachten. Um ihr schien die Welt ohne sie weiterzulaufen, während sie in einer stehenden Zeitkapsel gefangen war, mitten auf dem Bürgersteig. Hinter den bunten Bildern erstreckte sich die farbengeschmückte Betonlandschaft.
„Wie ist das passiert?“, fragte der Arzt.
„Hab in der Schule einen Basketball ins Gesicht bekommen“, log Hyuna.
Das breite, rosige Gesicht des Mannes lächelte zwar, aber drückte auch Zweifel aus. Als die warmen Finger ihre Nase berührten, zuckte sie zusammen.
„Keine Sorge. Gebrochen ist sie nicht.“
„Gut.“
Hyuna ließ sich ihre Erleichterung nicht anmerken, obwohl der Arzt sehr vertrauenswürdig aussah. Das rege Treiben auf den Gängen drang in den kleinen Raum. Stimmgewirr und Gelächter, weinende Kinder, Durchsagen aus Lautsprechern, das Leben wie es von Gott gewollt war.
„Es ist nur eine harmlose Schwellung. Die wird in den nächsten Tagen abklingen. Meiden Sie aber die nächste Zeit Basketbälle“, scherzte der Arzt und lächelte mild.
„Wären wir dann fertig?“
Das breite Gesicht nickte zustimmend und gab ihr die Erlaubnis, zu gehen. Hyuna verabschiedete sich und hastete an den Kranken im Wartesaal vorbei, um in den beklemmenden Griff der Autoabgase zu flüchten. Die Stadt kam ihr wie ein Komposthaufen mit unzähligen Organismen vor, die mit schönen Lichtern geschmückt waren. Schon lange träumte sie von einem Leben am Meer. Am Straßenrand kaufte sie von einer freundlichen Dame einen getrockneten Tintenfisch. Lange musste sie an den verdorrten Beinen zerren, bis ihr die Zähne schmerzten. Endlich gelang es ihr dem getrockneten Kadaver eins auszureißen. Der restliche Rumpf verschwand in ihrer Tasche. Während sie auf dem noppigen Bein rumkaute, steuerte sie die Spielehalle an. Nach Hause wollte sie nicht gehen. Denn dort erwartete sie nur Ärger. Trotzdem hatte sie ein schlechtes Gewissen. Sie wollte Ji-Min nicht zu lange mit Jun-Su allein lassen.
Hyuna durchquerte eine morsche Holzpforte, die in ein Untergeschoss führte. Unten brannten die Lichter der Spielautomaten in grellen Farben. Ein Meer aus bunten, flackernden Neonröhren und Lämpchen begleitet von unförmiger Musik, die aus den Unterhaltungskisten schallte, durchflutete den Raum. Es roch nach feuchtem Holz und staubgeschwängerter Luft. Die meisten Sitze waren mit schwarzem, abgesessenem Leder bezogen. Nur einige Jugendliche hockten vor den Automaten und gaben sich der Fantasie hin, Terroristen zu töten, Karatemeister zu sein oder den virtuellen Asphalt mit schnellen Autos unsicher zu machen. Trotz dieser großen Auswahl spielte Hyuna schon seit Jahren nur ein Spiel. Der Flipper, eingekeilt zwischen zwei Stützbalken, stand am Ende des Raumes und schien nur von ihr benutzt zu werden. Schon als sie das erste Mal hier war, ging von diesem Gerät eine magische Wirkung aus, da sie alle verführerischen Angebote ignorierte und direkt auf den Flipper zumarschiert war.
Ein freundlich dreinblickendes Marsmännchen zierte die Frontscheibe des Automaten. Mit Vergnügen jagte sie die eiserne Kugel über ein Muster mit Ufos, die durch die Milchstraße düsten. Als sie die silberne Won-Münze in den Schlitz schob, stellte sie mit Genugtuung fest, dass ihr Rekord noch von niemandem gebrochen wurde. Mit schrillen Tönen erwachte die Maschine zum Leben. Stakkatoartig blitzten einige Lichter auf. Die Kakophonie der Spielehalle drängte sich in den Hintergrund zu einem müden Gemurmel, während sie vertieft im Rausch des Flipperns beobachtete, wie die Kugel chaotisch aber dennnoch zielstrebig von einer Seite zur anderen geschleudert wurde. Nur für eine Won-Münze, und sie vergaß kurzfristig ihre Sorgen. Ein geringer Preis wie sie fand. Nur drei Spiele machte sie, wenn sie hier war. Und niemals war es anders gewesen. Die warme, runzelige Hand von Tae-Min legte sich auf ihre Schulter. Über die Jahre hatte sie den alten Besitzer der Spielhalle gern gewonnen. Normalerweise saß er still mit seinem grauen Filzhut auf dem kahlen Schädel in der Ecke, während er sein müdes Gesicht auf einen braunen Gehstock stützte. Mit beiläufiger Aufmerksamkeit ließ er seinen Blick durch die Halle schweifen, um mögliche Unruhestifter zu orten. Die meisten Gäste saßen auf Hockern vor ihren Bildschirmen, mit entspannten Gesichtern von Lämmern, die von bunten Lichtern künstlich eingefärbt wurden. Nur selten tanzte ein Gast aus der Reihe. Dann lief Tae-Min in sein Kämmerchen, ein kleiner Nebenraum hinter dem großen Saal, der zu einem Büro umgebaut worden war, und rief die Polizei. Als sie Tae-Min das erste Mal begegnete, war ihr direkt sein leicht hinkender Gang aufgefallen. Trotz seines hageren Gesichtes wirkten seine Züge eher sanft als scharfkantig. Schwach wirkte er dennoch nicht, da seine Stimme sich mit Bedacht und Bestimmtheit ausdrückte.
„Wie geht es der Familie?“
Hyuna zuckte mit den Schultern. Die warmen, faltigen Finger berührten ihr Kinn und mit väterlicher Fürsorge drehte er ihr Gesicht in sein Blickfeld.
„Hat er es wieder getan?“
„Es war meine Schuld“, meinte Hyuna und widmete sich schüchtern wieder dem Flipper. Bisher war der alte Spielhallenbesitzer die einzige Person, die von ihren Problemen wusste. Tae-Min ging schweigend wieder in seine Ecke. Der Hocker, auf dem er saß, hatte im Gegensatz zu den übrigen einen anderen Lederbezug. Während Hyuna noch von den Klängen der Bonuspunkte beschallt wurde, blickte sie gelegentlich nach hinten. Der Alte hatte wieder seine gewohnte Pose eingenommen, aber er wirkte nachdenklicher als sonst.
Als sie aus der Dunkelheit des Untergeschosses wieder ans Tageslicht kam, war das Licht so grell, dass sie ihre ohnehin schon schmalen Augen noch fester zusammenkneifen musste. Sie kam sich wie ein Vampir vor, der nach hundertjährigem Schlaf wieder seinen Sarg verlassen musste. Mit dem Bus fuhr sie bis an den Stadtrand, wo sie wieder Kummer und Sorgen erwarteten. Das Monster des Alltags, das sie täglich aufs Neue verschlang und mit leerer Seele wieder ausspie. Durch die Glasscheiben des Busses, beschmiert mit Fingerabdrücken neugieriger Kinder, blickte sie auf eine vorbeizischende Glitzerwelt, bestehend aus Hochhäusern, Werbetafeln und Einkaufsstraßen. Doch bald wurde das Bild getrübt von zefallenen Häuserreihen, die architektonischen Stiefkinder der Hauptstadt. Einige streunende Hunde wandelten durch die schmalen, stinkenden Gassen in der Hoffnung auf etwas Fressbarem. Hyuna hatte Mitleid mit ihnen, aber wenn sie einen Streuner mit nach Hause nehmen würde, würde sie noch mehr Schläge erwarten. Denn eines hasste ihr Vater besonders: Streunende Flohfänger. Die grauen Mauerfassaden, die klare Besitzverhältnisse markierten, waren rissig. Sie hatte den Bus schon verlassen, der weiter durch das Armutsviertel fuhr, weiter in das schwarze Herz des Elends eindrang. Sie legte die Kuppe ihres Zeigefingers auf einen der Risse und fuhr ihn entlang, wie eine Rennstrecke, während sie langsam weiterging. Aus einigen Stellen strömten Ameisen oder anderes Getier ans Tageslicht. Dann blieb sie stehen und blickte in die Weite der Gasse. Vor ihr stand der Lieferjunge. Beide Beine fest auf dem Boden hockte er auf der Fahrradstange und blickte sie mit schüchternem Lächeln an. Sie erwiderte das Lächeln. Lange standen die beiden sich gegenüber und sagten kein Wort. Den kleinen Taiwanhund, der das Fahrrad in wilder Neugier umkreiste, hatte sie erst später bemerkt.