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Browneyes55

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In schrillen Tönen erwachte das schwarze Handy zum Leben. Somewhere over the Rainbow. Die Melodie, die seine Ruhe auf ewig störte. Ein neuer Kunde, eine neue Adresse und ein neuer Weg, den er mit dem klapprigen Fahrrad zurücklegen musste, da er keinen Führerschein besaß, um einen Motorroller fahren zu dürfen. Wer zum Teufel bestellte sich um 8 Uhr morgens eine Nudelsuppe? Hatten die Menschen keine anderen Sorgen als ihren Wanst mit Suppe zu füllen? Mit trägen Bewegungen robbte Soo-Jung zum Telefon, dessen schrille Melodie zu seinem Ärger nicht abbrach. Dabei spürte er die Sonnenstrahlen, die dezent durch das Fenster fielen und seinen kahl geschorenen Schädel streiften.

„Ja!“ Müde und genervt wollte er klingen.

„Morgen du Schlafmütze.“ Die nervöse Stimme seines Vorgesetzten klang freundlich, aber ungeduldig.

„Wohin?“, fragte Soo-Jung, während seine Augen noch versuchten, sich an den neuen Tag zu gewöhnen.

„Jetzt werde mal nicht frech, Kleiner. Schließlich bezahle ich dein Gehalt und deine Miete. Also ändere deinen Ton oder ich schmeiß dich wieder raus.“

„Ist gut“, erwiderte Soo-Jung etwas milder.

„Zieh dich an und komm erstmal runter, dann gebe ich dir alles.“

Gyeong hatte aufgelegt, bevor Soo-Jung noch etwas sagen konnte. Als er nun aufrecht stand, wurde sein ganzer Körper von der Sonne umschmiegt. Nackt zu schlafen gehörte für Soo-Jung zum Leben dazu. Eine Marotte, die er wohl nie ablegen würde. Trotzdem genoss er die Wärme, die durch die Scheibe strömte und sich wie ein geschmeidiger Mantel über ihn stülpte. Im Blickfeld ein grauer Betonklotz. Voyeure hatten keine Chance, da die oberen Etagen leer standen. Für Soo-Jung war es nur eine Frage der Zeit, bis auch dieses Gebäude abgerissen werden würde, um einem Schickimickieinkaufszentrum Platz zu machen. Ihn widerte dieser Gedanke an. Mit Mühe streifte er sich die zerfledderte Jeans über die Beine. Hatte er zugenommen? Letztendlich war es ihm auch egal. Nach der üblich nachlässigen Reinigungsprozedur griff er sich das verwaschene T-Shirt von Hard Rock Café vom Boden und verließ seine bescheidene Behausung. Dabei knallte er die Tür laut zu, damit sein Chef wusste, dass er sich auf den Weg befand. Es war ein Fluch, dass sich der Nudelimbiss im gleichen Gebäude wie seine Wohnung befand. Aus einer vermeintlichen Bequemlichkeit entwickelte sich langsam eine riesige Lästigkeit. Es war Soo-Jung selbst, der die Initiative ergriffen und den tüchtigen Gyeong nach einem Job gefragt hatte. Das Angebot war anfangs zu verlockend gewesen: Mietfreies Wohnen und ein spärliches Gehalt. In seiner jugendlichen Naivität war er auf diesen Deal eingegangen. Alles war besser als in die Schule zu gehen, die Soo-Jung mehr hasste als seine Eltern, die er nie kennenlernen durfte. Waren sie tot oder wollten sie einfach nichts von ihm wissen? Waren sie ihm egal, so waren auch ihm sie egal.

Der klein gewachsene Gyeong stand gerade in der Kochnische, als Soo-Jung den Laden betrat. Mit der Stupsnase über einem dampfenden Topf gebeugt schloss sein Chef genießerisch die Augen. Ein paar graue Haare sprossen ihm bereits wie verdörrte Tannennadeln aus seinem schwarzen Schopf. Gyeongs Frau, die Soo-Jung nur selten zu Gesicht bekam, da sie die meiste Zeit Daheim die Kinder hütete, war gerade dabei, mit einem nassen Lappen die wenigen Tische abzuwischen. Ihren Namen hatte sie ihm mal gesagt, aber was sein Namensgedächtnis anging, glich es eher einem löcherigen Taschentuch. Ansonsten war sie eine sehr schweigsame Person, die zudem noch viel jünger aussah als ihr Mann. Fast meditativ drehte Gyeong seinen Kopf weg vom Dampf und bemerkte endlich seinen Lieferjungen.

„Probier mal. Ist ein neues Rezept.“

Den bereits benutzten Löffel wischte er an seiner Schürze ab und tauchte ihn in die scharfe, brodelnde Brühe. Innerlich ekelte sich Soo-Jung, als ihm Gyeong den dampfenden Löffel mit Suppe entgegenhielt. Wie ein Vogelbaby reckte er seinen Kopf nach vorn, um die Neukreation seines Vorgesetzten zu kosten. Überraschend gut schmeckte sie.

„Und?“, fragte Gyeong mit Augen, in denen große Erwartungen aufblitzten.

„Ist ok“, meinte Soo-Jung.

„Ist nur ok?“ Beleidigt zog Gyeong den Löffel wieder zurück. „Du hast doch von gutem Geschmack keine Ahnung, deswegen bin ich der Koch, und du nur der Lieferjunge.“

„Klar“, stimmte Soo-Jung artig zu. Der neue Tag sollte nicht mit einem Streit beginnen.

Gyeong stieß einen lauten Seufzer aus, während er Soo-Jung einen zerknitterten Zettel in die Hand drückte. Vom Kochdampf war seine Haut im Laufe der Jahre weich und rosig geworden. Mit einer flüchtigen Handbewegung grüßte Soo-Jung Gyeongs Frau, die nun gerade dabei war, die gelben Tulpen auf der Fensterbank des kleinen, aber gemütlichen Geschäftes zu gießen. Eine gewisse Erleichterung spürte der Lieferjunge, als er endlich den Laden verlassen hatte und nun seinen bestimmten Arbeitsplatz betreten durfte, die Stadt. Ein Gefühl von Freiheit durchströmte seine Adern, wenn er mit dem Fahrrad durch verwinkelte Gassen, über Hauptstraßen, die vor fahrendem Blech überquollen, oder durch künstliche Parkanlagen fuhr. Dabei riss er unzählige Kilometer ab, die seine Oberschenkel am Ende einer Schicht hart wie Stein werden ließen. Stets hatte er das Mobiltelefon in der Tasche, damit Gyeong ein Gefühl von Kontrolle hatte. Gelegentlich ging Soo-Jung nicht ran. Bei dem Gedanken, dass sein Chef wutentbrannt seine Stimme nicht vernehmen würde, formten sich seine blassen Lippen zu einem Schmunzeln. Wenn er nicht so zuverlässig das Essen ausliefern und jeden Winkel der Stadt so gut kennen würde, hätte Gyeong ihn tatsächlich schon auf die Straße gesetzt. Daher wollte Soo-Jung ihn nicht zu sehr verärgern. Der Riemen der Thermotasche, die die heißen Nudeln mit Meeresfrüchten vor dem Erkalten schützte, schnitt sich in seine Schulter.

Was soll´s, dachte Soo-Jung, als er schon einige Blocks und ein paar wütende Autofahrer hinter sich gelassen hatte. Mit leerem Magen fuhr es sich deutlich schlechter. Er stieg vom Fahrrad, um sich ein Käse-Sandwich aus der Bäckerei zu holen, die zufällig seinen Weg kreuzte. Dazu machte er es sich mit heißer Schokolade auf einer Straßenbank bequem. Dann musste der Kunde halt zehn Minuten länger auf sein Essen warten und Gyeong ihm dafür erneut den Kopf waschen. Zwar konnte er sich keine Menschennamen merken, aber dafür kannte er fast jede Straße in dieser Stadt. Er kannte Seoul so gut wie eine Mutter ihr Junges. Jeden Charakterzug, jede Schwäche und jede Gewohnheit der Stadt hatte er sich seit seiner Kindheit eingeprägt. Die Feierabende verbrachte er häufig in Internet-Cafés, die in den letzten Jahren in Mode gekommen waren und die Menschen vor sozialen Kontakten bewahrten, die meist unerfreulicher und enttäuschender sein konnten, als ihre Pseudonyme, die sich in Namen wie Coldwind75, NakedApe oder Clownface69 ausdrückten. Mit Bluebird27 ging Soo-Jung seit langem wieder ein Risiko ein, indem er ein Treffen vorschlug.

Gerade erblickte er den Boden des Styroporbechers, an dem sich noch hartnäckig einige Kakaoreste klammerten, da klingelte wieder das Telefon. Aus unerfindlichen Gründen war Soo-Jung heute in glänzender Laune, daher beschloss er, sich dem Ärger Gyeongs auszusetzen.

„Bist du schon da?“, fragte der Nudelkoch voller Ungeduld. „Ich habe hier noch eine weitere Bestellung bekommen. Also, zacki zacki.“

„Ja, ich sehe schon fast das Haus“, flunkerte Soo-Jung, während er seinen Drahtesel bestieg.

Gyeong hatte schon wieder aufgelegt, um sich vermutlich dem Teigkneten zu widmen. Eines musste man seinem Chef lassen, er beherrschte sein Handwerk. Soo-Jung selbst aß gelegentlich im Nudelhaus, obwohl es ihm eigentlich zuwider war. Es schmeckte dort so gut, dass auch gelegentlich Bestellungen aus den reicheren Stadtvierteln entgegengenommen wurden. Voller Stolz berichtete Gyeong seiner Frau, wenn eine Bestellung nach Gangnam ausgeliefert wurde oder Männer in feinen Anzügen höchstpersönlich an den kleinen Tischen Platz genommen hatten.

Die Fahrradkette rasselte in monotonem Takt, als Soo-Jung wieder Fahrt aufnahm. Zum Stadtbezirk Nangok-Dong sollte die Bestellung gehen. Nachdem er einige Abzweigungen genommen hatte, rollte er durch eine Gasse, die von niedrigen, grauen Mauern gesäumt war, auf denen rote Ziegel locker ruhten und drohten, runterzustürzen. Hinter der Betonfassade ragten die Dächer bescheidener Behausungen in unterschiedlichen Höhen hervor, steinerne Säulendiagramm. Es stank entsetzlich nach Urin, verwestem Kohl und menschlichen Ausdünstungen. Soo-Jung war froh, wenn er diesen trostlosen Bezirk wieder verlassen durfte. Die Räder drehten sich nun langsamer, da er seinen Bestimmungsort fast erreicht hatte. Gegen ein grünes Metalltor, das der Rost im Laufe der Zeit angenagt hatte, lehnte ein junges Mädchen. Schon aus der Ferne erkannte Soo-Jung, dass sie hübsch war. Je näher er ihr kam, desto schneller pochte sein Herz in der Brust. Doch ihre Schönheit war von Trauer getrübt. Denn matt glänzte ihr Gesicht im Licht. Sie musste noch vor einigen Sekunden geweint haben. Leicht flatterte der schwarze Rock ihrer Schuluniform in der Brise. Völlig in Gedanken verloren, hatte sie Soo-Jung nicht bemerkt, der sich mit der schweren Thermotasche auf sie zubewegte. Endlich hob sie ihr Kinn und wischte sich mit dem Ärmel ihrer Uniform das feuchte Gesicht ab.

Warum schämten sich die Menschen für ihre Gefühle? Das machte sie ja gerade zu Menschen.

„Eine Bestellung für Familie Lee“, sagte Soo-Jung, während er verlegen zu Boden blickte.

Traurigen Mädchen konnte er nicht in die Augen sehen, obwohl sie sehr schöne Augen hatte. Sie waren zwar schmal, aber es funkelte liebenswerte Güte in ihnen, die Soo-Jung irgendwie tröstete.

„Ja, das sind wir“, erwiderte sie und nahm die Bestellung entgegen.

Die zerknüllten Won-Scheine, die ihm das Mädchen mit zarten, gläsernen Fingern überreichte, stopfte er hastig in seine Gürteltasche. Aus dem Haus hinter ihr war Lärm zu vernehmen. Es war das Gebrüll eines zornigen Mannes und das dezente Wimmern eines verängstigten Kindes. Verlegen drehte sich das Mädchen um, wonach sie ihm einen berschämten Blick zuwarf.

„Ja, ich muss dann wieder los“, verabschiedete Soo-Jung.

„Mein Name ist Hyuna“, flüsterte sie, als er bereits einen Fuß auf dem Pedal hatte.

Eine achtförmige Spur hinterließ er im Staub, als er wieder auf sie zurollte.

Zögernd streckte er ihr seine schmale Hand entgegen, auf der sich eine dicke Ader unter der faden Haut entlang zog. Die Fahrradstange drückte in sein Becken, als er nun mit den Beinen festen Halt gefunden hatte. Beide Hände zusammengefaltet war sie es nun, die verlegen den Boden anstarrte.

„Mein ist Name ist Soo-Jung.“ Ihr Händedruck war zerbrechlich.

Im Hintergrund war es einige Sekunden still geworden, dann fing der Zornige wieder an rumzubrüllen. Die dünnen Hauswände vermochten die Wut nicht zu verbergen.

„Warum schreit der denn so?“, fragte Soo-Jung hinter ihr deutend.

„Er ist wieder wütend, weil mein Bruder etwas kaputt gemacht hat.“

„Dann muss dein Bruder etwas sehr Teures zerstört haben“, sagte Soo-Jung, da ihm nichts Besseres einfiel.

„Eigentlich“, meinte sie, während ihre gläsernen Finger durch das Haar strichen, „brüllt er oft.“

Die Schiebetür des Hauses öffnete sich und ein Junge hastete mit kurzen Schritten raus. Ihm folgte der Zornige, über dessen stolzen Bauch sich ein fleckiges Unterhemd gestrafft hatte. Beim Laufen hielt er sich die Hose, während er die Hand mit dem Gürtel zu einer Faust geballt hatte, die er fluchend in die Luft riss.

„Komm zurück, verdammter Bengel!“, stöhnte er und blieb stehen, als er Soo-Jung bemerkte.

Seine erregten Augen formten sich zu Schlitzen, die den Lieferjungen böse anfunkelten. Vom Wind wurden seine grauen Koteletten erfasst, als er entschlossen auf Soo-Jung und Hyuna zumarschierte.

„Was suchst du hier?“, fragte er.

„Er hat uns nur das Essen geliefert.“

Prüfend blickte der Zornige auf den Nudelbecher in ihrer Hand, aus dem schon lange kein Dampf mehr stieg.

„Dich habe ich nicht gefragt!“, fauchte er sie an. „Geh zurück ins Haus!“

Hyuna presste sich die Hand auf den Mund und tat, was ihr befohlen wurde. Mit einem zischenden Geräusch schloss sich die Schiebetür. Soo-Jung glaubte, zuvor ein Lächeln in ihrem Gesicht erkannt zu haben.

„Und du verschwindest jetzt“, drohte der Mann, beide Fäuste in die Hüfte gestemmt. Vollkommen grau waren auch seine krausen Brusthaare, die unter dem versifften Hemd hervorquollen. Wortlos drehte sich der Lieferjunge um und fuhr davon. Stress war das Letzte, was er heute gebrauchen konnte, obwohl ihm das Mädchen leidtat.

Endlos schienen die grauen Mauern zu sein, die sich bedrohlich auf beiden Seiten auftürmten und ihre niedrigen Schatten auf ihn warfen. Obwohl Soo-Jung selbst arm war, schätzte er eine hübschere Wohngegend. Die hier glich eher einer verrotteten Konservendose, in die willkürlich viele Menschen reingestopft worden waren. Einmal hielt er kurz an, um einen kleinen Hund zu beobachten, der zwischen den Mülltonnen umherstreunte. Schnüffelnd begutachtete der kleine Taiwanhund die Rillen der Tonnen, von denen er eine mit der Nase aufstieß. Der Metalldeckel war noch nicht zur Ruhe gekommen, da begann das Tier schon daran zu lecken, als wäre die Innenfläche mit Hackfleisch beschmiert worden. Soo-Jung stieg vom Rad, das er an die graue Mauer lehnte. Leicht silbern war das ansonsten schwarze Fell, über das er strich. Der Taiwanhund ließ es sich gefallen, während die filzige Zunge den Rand des Deckels abschleckte.

„Wir sind gar nicht so verschieden“, seufzte Soo-Jung.

Treu blickten ihn die Hundeaugen an, sodass er laut lachen musste. So einfache Dinge bereiteten ihm also Freude. Wer hätte das gedacht? Das Leben war anscheinend doch nicht so kompliziert.

Somewhere over the Rainbow

Das verfluchte Handy zerstörte diesen magischen Moment. Und als wenn der Hund dies ahnte, begann er laut zu kläffen und seine spitzen Zähne zu fletschen.

„Du hast ja recht“, beruhigte ihn Soo-Jung und strich dem Tier ein letztes Mal übers Fell.

Als er wieder aufs Rad stieg, ertönte immer noch die schrille Melodie. Die Räder knatterten, die Morgenluft schnitt sich in seine Wangen und hinter ihm vernahm er das durch die grauen Gassen schallende Geräusch von vier Pfoten, die auf Asphalt galoppierten.

„Nein, lauf mir nicht hinterher, du blöder Flohzirkus!“, rief Soo-Jung, nachdem er einen Blick nach hinten geworfen hatte, aber der Hund war genauso ein Sturrkopf wie er. Und das gefiel ihm.

Four Kids

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