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Die Schöne an der See und die Schönen

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Der Blick des Ankommenden fällt sofort nach Betreten des Bahnhofsvorplatzes auf die gegenüberliegende Pantaleimon-Kathedrale. Die Fassade des Portals steht nicht frei, sondern ist in die Häuserzeile mit Geschäftshäusern integriert, deren Traufhöhe wenig geringer als das Kirchenportal ist. Beim ersten Anschauen nimmt man das Kirchengebäude gar nicht als solches war, wären da nicht die hinter dem Portal stehenden Türme mit Kreuzen an ihrer Spitze, eine imposante Ansammlung von Zwiebel- und Spitztürmen – unübersehbar, aber dennoch eingeordnet in das urbane, kommerzielle Ambiente, als wollte der Erbauer zugestehen, dass Odessa vor allem eine Stadt des Handels und der Seeefahrt ist.

Pantaleimon-Kathedrale

Unter Katharina der Großen war hier am Südwestrand ihres durch den Russisch-Türkischen Krieg gerade erweiterten Reiches ein neuer, enorm internationaler Handelsplatz entstanden. Reeder, Kaufleute und Handwerker nicht nur aus Russland, sondern auch aus Griechenland, Italien, Armenien, Deutschland und sonst woher ließen sich hier nieder, nicht zuletzt viele Juden. Katharinas erster Statthalter in der 1794 gegründeten Stadt war ihr siegreicher General José de Ribas, ein in Neapel geborener spanischer Adelsspross. Katharinas Enkel Alexander I. betraute 1803 den französischen Aristokraten, Armand du Plessis, Herzog von Richelieu, mit diesem Amt. Dieser hat soviel zur Stadtentwicklung beigetragen, dass es nicht verwundert, wenn eine der Hauptarterien, die vom Bahnhof zum Hafen führen, nach ihm benannt ist. Auf die begibt sich Karl, denn dort im „Gotel Čornoje More“, im Schwarzmeer-Hotel an der Rišeljevska-Straße hat er reserviert. Nur sechs Minuten Fußweg sind das – für Karl die erste Gelegenheit, dem Herzog Richelieu zu danken. Dieser hat nämlich an den Seiten von Odessas Straßen weiße Akazien pflanzen lassen. Ihre dichte Belaubung spendet dem Neuankömmling in der Spätsommersonne wohltuenden Schatten.

Nachdem er sich in dem schlichten, aber komfortablen Hochhauskasten einquartiert und kurz verschnauft hat, macht sich Karl auf seinen Sonntagsspaziergang, um die Schöne an der See zu erkunden. Doch zunächst nimmt er sich die fünf Minuten Zeit, um zum Bahnhofsplatz zurückzukehren. Das große weiße Gebäude mit sechs hohen Säulen an der Vorderfront hat es ihm angetan. Von Odessa, früher das südliche Tor zum Meer für das Sowjetimperium und noch früher für das russische Kaiserreich, gehen Züge zu den großen Städten in alle Himmelsrichtungen ab: nach Lviv im Westen, Kiew im Norden, Charkiv im Nordosten, Dnipropetrowsk und Donezk im Osten sowie – es ist noch die Zeit vor der russischen Annexion – nach Jalta auf der Krim. Über der großen Kuppel des sowjetisch-klassizistischen Baus weht eine blaugelbe Flagge, die Standarte der Ukraine.

Als Karl sich nach Osten wendet, um zur Musikalischen Komödie zu gelangen, lässt er zur Rechten das neben dem Bahnhof gelegene Kulikow-Feld unbeachtet liegen. Er kann noch nicht ahnen, dass sich hier im Gefolge der Majdan-Revolution allerschlimmste Ereignisse abspielen sollten. Inmitten des Parkgeländes steht das Gewerkschaftshaus, nicht zu vergleichen mit den schlichten Nutzbauten von DGB oder IG Metall. Es ist ein Gewerkschaftspalast, der die Bedeutung dieser Massenoganisation im Sowjetstaat unterstrich. Im Frühling 2014 errichten prorussische Gegner der prowestlichen Majdan-Revolution vor dem Gewerkschaftshaus ein Zeltlager. In der weltoffenen Hafenstadt Odessa schauen die Menschen zwar vorwiegend mit Sympathie zum Westen. Aber die Bevölkerung ist vorwiegend russophon. Unter diesen Russischsprachigen haben sich die Anhänger eines Ausscherens aus der Ukraine und des Anschlusses an Russland formiert. Am 2. Mai organisieren proukrainische Aktivisten als Reaktion darauf einen „Marsch der Einheit“.

In der Stadt liefern sich beide Seiten regelrechte Straßenschlachten. Die proukrainischen Kräfte, darunter Anhänger des „Rechten Blocks“ marschieren schließlich zum Zeltlager, um es aufzulösen. Die prorussischen Kräfte ziehen sich ins Gewerkschaftshaus zurück. Auf einmal fliegen Brandsätze, nach drinnen und nach draußen. Das Haus brennt lichterloh. Mindestens 42 Menschen sterben.

Von diesem bösen Geist einer späteren Zeit merkt Karl noch nichts. Hingegen begegnet er am Ende der Panteleimoniwska-Straße auf dem Vorplatz der Musikalischen Komödie einem guten Geist der slawischen Mythologie, der ersten wirklich Schönen dieser schönen Stadt. Sie heißt Russaločka und ist ein Lichtblick auf dem arg herunter gekommenen Platz vor dem modernen Betonbau der Komödie. Die slawische Märchengestalt Russalke ist ein Wassergeist. Der böhmische Komponist Antonín Dvořák hat ihr seine wundervolle Oper „Rusalka“ gewidmet. Die tschechische Waldfee schwebt über Teiche, Tümpel und Bäche. Ihre Schwester in Odessa hingegen führt natürlich ein Leben als Meeresnymphe. Sie ist „Die, die auf dem Delphin reitet“. Die nackte Schöne der eisernen Skulptur sitzt dem sich hochreckenden Delphin mit angezogenen Knien graziös seitlich im Nacken und hält eine Lyra hoch. Leider singt sie nicht. Wer sie hören will, muss ihren Schwestern auf der Bühne lauschen.

Auch der in Odessa vielfach geehrte Alexander Puschkin hat über die Meerjungfrau ein Drama geschrieben. Ihn sucht Karl als Nächsten auf. In der Puschkin-Vulitzja, die parallel zur Richelieu-Straße zur See führt, steht der russische Nationaldichter auf einem niedrigen Sockel fast ebenerdig vor seinem Museum, eine lebensgroße Bronzefigur mit Zylinder und eng geschnittenem, eleganten Gehrock. Zum Zeichen ungebrochener Verehrung liegen frische Blumen zu seinen Füßen.

Nach nur wenigen hundert Meter weiter unter dem prallen Grün der Schatten spendenden weißen Akazien entdeckt Karl die nächste Schöne. Sie trägt ein eng anliegendes, reich besticktes Büstier, darüber im Dekolletée ein breites V-förmiges Collier, einen weißen Schleier sowie einen bodenlangen vielschichtigen Tüllrock. Karl ist am Ende der Puschkinska am Rathausplatz mit Blick auf das Meer angekommen. Der junge Mann im schwarzen Anzug, der die selig lächelnde Schöne die wenigen Stufen zur pompösen Stadthalle hinaufführt und dabei galant ihre mit einem oberarmlangen, weißen Seidenhandschuh bedeckte linke Hand in Brusthöhe hält, ist offenbar der Bräutigam. In der rechten Hand trägt die Braut einen Strauß mit rosa Rosen. Mit ihrer Hochzeitsgesellschaft im Gefolge gehen die künftigen Eheleute zwischen zwei riesigen Kandelabern und danach hohen Säulen hindurch und betreten den weißen Prachtbau. Odessas „Weißes Haus“ mit seinen zehn weißen Säulen am Portal diente bis 1892 dem Handelsplatz am Schwarzen Meer als Börse, nun werden hier unter anderem Verträge fürs Leben zu Zweit geschlossen.

Fröhliche Feiertagsstimmung herrscht an diesem sonnigen Sonntag auch auf der Deribasivska, über die Karl vom Rathaus zum Stadtgarten zieht. Hier haben die Flaneure auf dem breiten Pflaster zwischen den Baumreihen den Alleinanspruch. Die Autos sind von diesem Boulevard verbannt. Mitten auf der Straße bietet eine Luftballonverkäuferin ihre Ware feil. Zwischen den Fußgängern kurven Kinder in kleinen Tretfahrzeugen herum.

Inmitten des Stadtgartens haben rund um den kleinen Brunnenteich Künstler unter den Bäumen ihre Staffeleien aufgebaut. Ihre Werke stehen hier zum Verkauf an die Flaneure bereit. Auf dem steinernen Rand des Teiches sitzen Einheimische und Touristen. Eine hübsche Blondine tippt eine Botschaft in ihr Smarttelefon. Hat sich ihre Verabredung verspätet? Gelangweilt betrachtet sie ihre rot lackierten Fingernägel.

Potemkinsche Treppe

Nun aber strebt Karl endlich zur See und dem Touristenmagneten der Stadt, der Potemkinschen Treppe. Als die Besucher Odessas noch zumeist per Schiff ankamen, war sie der erste Eindruck von der Anlegestelle aus. Sie führt hoch zur Stadt mit ihrem Straßenschachbrett. Am Ende der sich nach oben verjüngenden Treppe, die dadurch noch länger wirken sollte, steht auf dem Küstenboulevard das Denkmal des Herzogs Richelieu, der unter seinem Gouvernat Odessa so sehr geprägt hat. Benannt ist die Treppe jedoch nach Grigori Potemkin, dem ehemaligen Kammerjunker der Zarin, der bis zum Feldmarschall und wichtigsten Berater von Katharina der Großen aufstieg. Ihr Liebhaber war er auch. Die größte Leistung des Organisationstalents war jedoch die Entwicklung der südlichen Provinzen und der Sieg im Krieg gegen die Türkei.

Weltberühmt wurde die Potemkinsche Treppe durch eine Sequenz in Sergej Eisensteins Revolutionsfilm „Panzerkreuzer Potemkin“. Ein Kinderwagen rollt die Treppe hinunter, während Soldaten auf der Hafentreppe den Arbeiteraufstand von 1905 niedermetzeln.

An diesem friedlichen Septembersonntag liegt im Hafen nicht der Panzerkreuzer, sondern ein griechisches Handelsschiff, dessen Besatzung ganz anderes im Sinn hat als Meuterei und Aufstand, wie Karl später bemerken sollte. Da er sich dem Katharinenplatz von der Landseite nähert, sieht er den französischen Herzog zunächst von hinten. Der Stadtgestalter auf dem hohen Sockel trägt eine Toga, als sei er ein römischer Senator. Mit der rechten Hand macht er eine Geste, als lade er die Ankömmlinge von See in die Stadt ein.

Das Hochhaus des Hotel Odessa ragt wie ein steiler Zahn hinter dem Fährbahnhof auf und drängt sich mit seiner Hässlichkeit in das Blickfeld des Stadtwanderers, der die 191 Stufen der Potemkinschen Treppe hinabsteigt. Schön ist, wie sich in der gläsernen Front des Morskij Waksal, des modernen Meeresbahnhofs, die davorstehende Skulptur „Goldenes Kind“ und die Hafentreppe spiegeln. Auf der ins Meer hineinragenden Hafenmole steht hinter dem Hotel noch die kleine Nikolai-Kirche, ein erst 1994 errichtetes Bauwerk, das dem Schutz der Seeleute, Fischer und aller Passagiere gewidmet ist.

Schwarzes Meer und Seefahrer-Kirche

In ganz anderer Weise um das Wohl der Matrosen besorgt ist eine auffällige Blondine, die in ihrem SUV vor dem griechischen Frachter vorgefahren ist. Die sexy gestylte „Dame“ im Minirock und mit knallroten Lippen verteilt Handzettel mit der Adresse ihres Etablissements. Die ersten vier „Angeheuerten“ steigen denn auch in ihren Geländewagen. Und schon braust die schöne Jelena mit ihren Kunden davon.

Kaum ist der lustgeladene Wagen fort, fahren drei blumengeschmückte Limousinen vor. Ihnen entsteigen weitere Schönheiten, diesmal jedoch erneut eine Hochzeitsgesellschaft. Nicht Minirock, sondern lange Roben ziehen nun die Blicke auf sich, die Braut recht züchtig, die Brautjungfern dafür umso wirkungsvoller in ihren eng anliegenden, geschlitzten und halb transparenten Kleidern. Zusammen posieren sie vor dem Hintergrund des Meerespanoramas für das Familienalbum.

Auf dem Rückweg in die Stadt kehrt Karl im Kumanets ein. Dieses Lokal nicht weit vom Katharinenplatz war ihm schon auf dem Hinweg in der Havanna-Straße schräg gegenüber vom Stadtgarten aufgefallen. Mitten in die Millionenstadt Odessa versucht das Kumanets ein dörfliches Ambiente zu zaubern. Die bedienenden Mädels tragen bunte Röcke, bestickte weiße Blusen und einen Kranz aus zusammengeflochtenen Feldblumen über dem Haar. Hinten hängen daran vielfarbige Bänder. Die Burschen, die sich um die Gäste kümmern, stecken in weißen Hosen und kurzen hüftlangen Hemdkitteln, um die Taillen ein rotbraun-schwarzes Band geschnürt, auf der Brust einen gestickten Einsatz in den gleichen Farben. Alle sind hübsch, freundlich und beflissen, so dass der Gast schon vor dem Essen gute Laune bekommt. Am Spätnachmittag nimmt Karl draußen auf einem Korbstuhl unter einem der Sonnenschirme Platz. Dezent fotografiert er eine der buntbedressten „Dorfschönen“ von hinten, als sie am Nebentisch die Bestellung aufnimmt. Es gibt typisch Ukrainisches. Karl wählt einen leichten Rote-Bete-Salat vorweg, eine gefüllte Roulade als Hauptgang und die obligatorischen Blini als Nachspeise, dazu ein gutes Bier. Er ist hochzufrieden und schwört sich, am nächsten Tag wieder zu kommen.

Bei seinem „Heimweg“ zurück ins Hotel fällt dem leicht alkoholisierten Dorfschenkenbesucher ein eleganter Herr am Straßenrand auf. Er rührt sich nicht von der Stelle. Beim Näherkommen erkennt er ihn. Der gute Mann steht immer noch vor seinem Museum. „Guten Abend, Herr Puschkin“, entbietet der deutsche Gast dem russischen Großdichter seinen Gruß. Der Urenkel des „Mohren des Zaren“, Abraham Petrowitsch Hannibal, hat in seinen zwanziger Jahren einige Zeit in Odessa gelebt. Der 1799 geborene Poet starb 1837 im Alter von noch 37 Jahren in Sankt Petersburg, an den Folgen eines Duells um die Ehre einer Schönen, seiner Ehefrau Natalja.

Alexander Puschkin

Karkanischer Kreis

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