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Blauer Montag am Schwarzen Meer

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Der Sonntag ist gegangen und mit ihm das strahlende Wetter. Für Karl ist das die Gelegenheit, die Ukrainer im Alltag zu sehen und zwar bei „Arbeitswetter“. Ein bisschen „Arbeit“ hat auch er an diesem Montag zu erledigen. Die Passage nach Bukarest zu regeln, ist gar nicht so einfach. Wie befürchtet, lässt sich in Odessa kein Ticket bis in die rumänische Kapitale buchen, sondern nur bis Kischinew, der Hauptstadt von Moldawien. Erschwerend kommt hinzu, dass die Dame im Service-Center des Hauptbahnhofs behauptet, dass sein im Internet ausgewiesener Zug nicht verkehre, obwohl er ihn in der Halle mit Zugnummer und korrekter Uhrzeit angeschlagen gesehen hat. Dahinter standen allerdings fünf kyrillische große Lettern, deren Sinn sich ihm nicht erschloss. Abkürzung oder Wort? Sein Sprachführer gibt nicht so viel her, als dass er die Zeichen eindeutig interpretieren könnte.

„Wann lerne ich endlich ernsthaft Russisch und nicht so spielerisch und utilaristisch, von Satz zu Satz, von Zweck zu Zweck anhand meines Reisewörterbuchs“, schimpft Karl mit sich selbst. Diese Kommunikationsstrategie klappt wunderbar, solange die Gegenseite keine unprogrammgemäßen „Widerworte“ gibt. Aber wehe sie weicht vom Schema ab, dann steht er da in seinem sprachlich kurzen Hemd und seine Blößen werden offenbar. Nun denn, er geht auf „Nummer Sicher“, befolgt dann eben den Rat der Dame im Service-Center und bucht den Zug eine knappe Stunde später. Damit reduziert sich der Aufenthalt in Kischinew oder Chişinǎu, wie die rumänischsprachige Mehrheit am Zielort sagt, von eineinhalb Stunden auf eine halbe Stunde. „Hoffen wir, dass das reicht!“ meint der Skeptiker in Karl.

Mit dem Ticket in der Tasche widmet er sich seiner nächsten „Arbeit“. Karl hat sich für den Berlin-Marathon am übernächsten Sonntag angemeldet. Kann man sich einen schöneren Ort für den letzten „langen Lauf“ vorstellen? Der „lange Lauf“ ist natürlich kein Marathon, aber er liegt oberhalb der normalen Trainingseinheit, 20 Kilometer und mehr, eineinhalb Stunden und mehr. In den letzten Wochen vor dem Rennen ist er ein regelmäßiges Muss. Den Allerletzten soll man etwa zwei Wochen vor dem großen Tag absolvieren. Danach gilt es, die Kraft für den eigentlichen Wettkampf „kommen“ zu lassen und zu kürzeren Trainingsstrecken überzugehen.

Ein langer Lauf in Odessa führt unweigerlich ans Schwarze Meer, das heißt über die Puschkin-Allee zum Ende des Primorskij-Boulevards, einem Panorama-Balkon oberhalb der Küstenlinie, diesen Boulevard entlang, vorbei an der berühmten Potemkinschen Treppe und am Voronzov-Palais, dann in einem großen Rechtsbogen hinunter zur Uferstraße, der Vulizja Primorska. Der „Marathoni“ läuft am Hafen entlang, bis die Primorska wieder landeinwärts biegt und er über die Lanšeronivska erneut ins Stadtzentrum gelangt, um die Schleife über Panorama- und Uferstraßen anschließend ein zweites Mal zu durchlaufen. Nach dieser Doppelrunde hat er sein Soll erfüllt und kann er vom Nationaltheater die Rišeljevska-Straße aufwärts zurück zum Hotel traben. Doch auf dem Weg lag so Einiges, was er sich noch einmal als Stadtspaziergänger in Ruhe anschauen will. Nachdem er sich unter der Dusche vom Schweiß befreit hat, bricht er noch einmal auf zur See.

Am westlichen Ende des hochgelegenen Küstenboulevards hat sich der Generalgouverneur von Neurussland, Michail Voronzov, in den 20er Jahren des 19. Jahrhunderts einen prächtigen Palast im Empire-Stil bauen lassen. Der Ausblick auf den Hafen und das Meer ist fürstlich. Zum Fürsten wurde Voronzov später vom Zaren ernannt. Die Kommunisten widmeten das Schmuckstück am ruhigen Ende des Boulevards in einen „Palast der Kinder und Jugendlichen“ um. Sie taten gut daran. Noch heute singt, tanzt und musiziert hier der Nachwuchs der Odessiten.

Über eine Fußgängerbrücke, die die Abfahrt zum Hafen überquert, geht Karl hinüber zur Gogol-Straße – und steht vor einem noch protzigeren Bauwerk, dem „Palast des Schahs“. In der Tat hat hier ein Schah von Persien gelebt, ein Abgesetzter und des Landes Verwiesener allerdings. Nach seiner Absetzung hatte Mohammed Ali 1909 jedoch Bedingungen aushandeln können, zu denen er bereit war, ins Ausland zu gehen. Eine Pension von jährlich 80.000 Dollar wurde ihm zugesagt. Mit großem Gefolge begab er sich ins Exil bei seinem Verbündeten Russland und ließ sich in Odessa nieder. Er mochte Odessa und die Odessiten. Jedes Mal, wenn er in die Stadt ausging, verteilte er Geschenke unter den Passanten. Nicht zuletzt wegen dieser Großzügigkeit nennen die Odessiten das Palais im neogotischen Stil, das sich ursprünglich der polnische Magnat Brzozowski hatte errichten lassen, noch heute den „Schah-Palast“. Doch wer residiert dort nun? Karl entziffert das Türschild: Marine Transport Bank.

Nur gut hundert Meter entfernt auf der anderen Seite der Gogolstraße warten auf Karl zwei Weltenretter. Die alabasterweißen Atlanten tragen gemeinsam die Weltenkugel, die unter dem Erkerbalkon des Hauses Falz-Fein platziert ist. Die beiden Titanen stehen vorgebeugt und rücklings zueinander. Ihre beiden aneinandergefügten Rücken bilden gleichsam eine Schale, auf der unser Planet ruht, umschlungen von einem breiten silbernen Band und besetzt mit ebenso silbernen Sternen. Das im holländischen Stil des 14. Jahrunderts erbaute Herrenhaus hatte sich um die vorletzte Jahrhundertwende der deutschstämmige Alexander Falz-Fein errichten lassen. Wegen seiner außergewöhnlichen Eckverzierung heißt es auch das „Haus mit Atlanten“.

Gerade als sich Karl an diesem Architekturdenkmal ergötzt, tritt aus dem nahe gelegenen Gymnasium No. 2 ein Señorito, wie die Spanier sagen würden. Ein etwa siebenjähriger Junge in schwarzem Anzug mit korrekter Bügelfalte und dezentem grauen Rollkragenpullover begibt sich auf den Heimweg. Eine adrette Schulkameradin begleitet ihn. Vielleicht aus dem Hause eines Reeders oder Bankiers? Auf jeden Fall ein Exemplar höhere Tochter von neuem Geldadel! Ihr Bezug zum Maritimen ist offensichtlich. Sie trägt ein Kleidchen im Matrosen-Look: Marineblauer Stoff, ein Kragen mit weißer Bordüre. Die Ära der Roten ist endgültig vorbei. Die neuen Weißen schicken ihre Kinder auf Elite-Schulen, die noch zu Zarenzeiten geschaffen wurden. Auf welchem Rang liegt eigentlich die Ukraine bei den PISA-Studien?

Die nächsten Weißen, die Karl zu Gesicht bekommt, sind griechische Seekadetten, die in blütenweißer Montur und kleinen Trupps durch die Stadt ziehen. Ihr Schulschiff, die „H.S. Aris 74“ entdeckt Karl am Kai, als er noch einmal hinunter zum Hafen geht. Die in Odessa beheimatete „Gloria“, die er dort noch am Sonntag hat liegen sehen, läuft gerade aus. Die „Phnom Penh“, wohl noch zu Sowjetzeit als Zeichen kommunistischer Völkerverbundenheit so genannt, wird unterdessen entladen.

Die Kräne quietschen, die Möwen schreien. Karl nimmt erst einmal Abschied vom Meerespanorama. Er wendet sich dem Land zu. Die „Skyline“ der Innenstadt ist bescheiden. Katherina hat es so gewollt: Sieben Stockwerke, nicht mehr! Auch Kirchtürme fallen von See her nicht auf. Als wichtigstes Gebäude galt lange die Oper – eine weltliche Stadt, eine merkantile Stadt.

Dörfliches Ambiente im „Kumanets"

Am letzten Abend in Odessa will Karl natürlich sein Versprechen wahr machen und noch einmal das „Dorf“ in der Millionenstadt aufsuchen. Im „Kumanets“ geht er diesmal ins Innere der vorgetäuschten, aber dafür umso hübscheren Dorfschenke. Auf Borden an den weißen Wänden sind Krüge verschiedener Größen arrangiert. Ihnen verdankt die künstlich kreierte ländliche Idylle ihren Namen. Kumanets – so heißen die Krüge. Wieder übt sich die Bedienung in freundlicher Nachsicht mit dem russisch radebrechenden Gast. Wieder mundet das Mahl hervorragend. Karl nestelt unter der Tischkante in seinem Reisewörterbuch und prägt sich die beiden Worte ein, die er auf Nachfrage zum Besten geben will: „Bila priwaßchodna! Es war ausgezeichnet!“ Bei diesem Lob lässt sich der junge Ober in seinem Dorfburschen-Outfit gerne vor dem malerischen Kamin des Kumanets fotografieren. „Bila priwaßchodna“ – das ist auch Karls Resümee zu seinem Odessa-Besuch insgesamt. Dabei hat er sich doch einen Höhepunkt entgehen lassen, der im mehrsprachigen Hotelprospekt des Čornoje More in wunderschöner Marketing-Prosa angepriesen wird.

Der Deutsch-Übersetzer – oder war es gar eine weibliche Interpretin? – hat darin den mit dem Hotel verbundenen Nachtklub „Mirage“ geradezu lyrisch beschrieben. Wörtlich lautet das Prosagedicht in ulkigem Deutsch so:

„Wenn Sie ein Liebhaber scharfer Empfindungen und Exotik sind, steht Ihnen ein Zimmer für Privattänze zur Verfügung. Benutzen Sie, bitte, unbegrenzte Möglichkeiten ihre Laune zu verbessern. Verbringen Sie Ihre Abende in Odessa mit Begeisterung und Sie empfinden unbedingt das Verlangen, in diese merkwürdige Stadt wiederzukehren.“

Eine merkwürdige Werbung für eine bemerkenswerte Stadt! Odessa bila priwaßchodna, Odessa war super – auch ohne „Mirage“!

Karkanischer Kreis

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