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Im Schneckentempo nach Rumänien

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Pünktlich um 17 Uhr rollt der Bukarest-Express aus Chişinǎu hinaus, dem Brückenkopf des Wohlstands in einem armen Land. „Mal sehen, wieviel Verspätung ich mir dieses Mal einhandele“, überlegt der mittlerweile routinierte Bahnreisende.

Aus dem Radio tönt das Anti-Kriegs-Lied eines alten Čečenien-Kämpen, das Karl schon zu Genüge aus den TV-Musikkanälen kennt, die in seinen Hotels liefen. „Dieses Land Moldau hat offenbar zu seinem Frieden gefunden. Die Russischsprechenden und die rumänischsprachige Mehrheit haben zum gemeinsamen Ziel ‚Frieden‘ erkoren, statt sich gegenseitig mit militärischen Mitteln Land streitig zu machen. Sie wollen anscheinend Brücken in beide Richtungen bauen, nach Russland und Rumänien“, notiert Karl in Erinnerung an die „Brücken-Parolen“, die er am Morgen in Chişinǎu gesehen hat, in sein Tagebuch.

Die Entwicklung der kommenden Jahre sollte diese Sicht der Dinge als zu idealistisch und optimistisch erweisen. Immerhin schweigen die Waffen. Der Streit mit dem Pseudostaat Transnistrien gilt als „eingefrorener Konflikt“. Viele Aktivisten der Oppositionsplattform „Demnitate și Adevăr“ (Würde und Wahrheit) setzen sich mittlerweile für einen Anschluss ihrer Republik Moldau an das EU-Land Rumänien ein. Nicht zuletzt von dem damit verbundenen Eintritt Moldawiens in die Europäische Union versprechen sie sich eine Lösung ihrer wirtschaftlichen Probleme.

Der Zug nach Rumänien fährt gerade über eine Brücke. Recht langsam kommt er voran. Beim Blick durch das Fenster auf das Umland der Hauptstadt stellt Karl fest: „Lange habe ich als Bahnreisender nicht mehr so viele frei laufende Tiere gesehen: Kühe sowieso, aber auch Gänse in Scharen und immer wieder Ziegen als Einzeltiere in trauter Gemeinsamkeit mit ihrer Herrin – Milchproduzentin mit ihrer Hüterin und Melkerin nah beieinander.“

Moldawien ist ein grünes Land, ganz offenbar fruchtbar. Dennoch wollen viele ihr Glück woanders suchen. Mit Karl sitzt Nicolae im Abteil, ein junger Mann, der sich in einer Botschaft in Bukarest ein Visum für Westeuropa besorgen will. Gemeinsam fahren sie durch ein breites Tal, umrandet von sanften Hügeln, als der Zug von dem anfänglichen Nordkurs nach Nordwesten abschwenkt und in Richtung rumänischer Grenze strebt.

Nach etwas mehr als eineinhalb Stunden passieren sie die kleine Gemeinde Corneşti, wo der Zug fast eine Kehre oder vielmehr einen großen Bogen nach Südwesten beginnt. „Was um Himmels Willen soll noch bis 21.10 Uhr passieren? Das ist die Zeit, die in meinem Reiseplan neben der Grenzstadt Ungheni steht. Wir sind von dort doch nur noch gut 30 Kilometer entfernt“, fragt Karl verwundert seinen Mitreisenden Nicolae, der ganz gut Englisch spricht. „21.10 Uhr? Das ist die Abfahrtszeit! Wir werden lange vorher ankommen“, weiß Nicolae zu berichten, der die Strecke schon öfters gefahren ist. „Aber über eine Stunde Fahrtzeit für etwas mehr als 30 Kilometer, das ist doch nicht möglich!“ protestiert der ungläubige Karl. „So ist es aber!“ sagt Nicolae lakonisch – und sollte nur teils Recht behalten. Karl greift zu seinem Notizbuch und schreibt: „Bahnreisen in Südosteuropa – das ist die Entdeckung der Langsamkeit und eine Geduldsprobe gratis dazu!“

Der Stadtmensch aus Berlin darf sich unverdrossen weiter an der ländlichen Szenerie ergötzen: freilaufende Gänse und auf dem Hügel die goldglänzenden Zwiebeltürme einer orthodoxen Kirche. „Das war Pârliţa, auszusprechen Pirlitza!“ belehrt Nicolae den wissbegierigen Deutschen. Es ist 18.50 Uhr und Ungheni rückt immer näher. Was soll nur in den verbleibenden zwei Stunden geschehen? Es ist kurz vor 19 Uhr. Der Zug fährt in einem solchen Schleichtempo, dass sich der Freizeitsportler aus Berlin zu der großsprecherischen, aber wahren Bemerkung hinreißen lässt: „Diesen Zug hätte ich auf dem Fahrrad längst überholt!“ 19.06 Uhr: Der große Schriftzug „Ungheni“ erscheint am Rand der parallel zur Bahn verlaufenden Landstraße. 19.12 Uhr: Ankunft im Bahnhof. Hier steht der Name auf einmal auch in Kyrillisch: YHΓEHИ. Von wegen noch eine Stunde Fahrt!

Aber jetzt beginnt der Formularkrieg: Zolldeklaration, Emigrationskarte, Stempel hier, Stempel dort. Nicolae muss sich von den Kontrolleuren einige Fragen gefallen lassen. Aber alles geht gut. Währenddessen wird der Waggon umgekoppelt. Es wird sogar die Spurweite umgestellt, von dem in Moldau geltenden russischen Maß auf das auch in Rumänien gültige mitteleuropäische Maß, ein größeres Manöver. Dennoch dehnt sich die Wartezeit.

Die Abfahrt erfolgt dann tatsächlich plangemäß. Auf rumänischer Seite fallen unter dem gleichmäßigen Rattern der Räder beide bald in einen tiefen Schlaf. Schon die um halb zwölf Uhr durchfahrene historische Hauptstadt des Fürstentums Moldau, Iaşi, heute die größte Stadt Ostrumäniens und die viertgrößte Stadt des Landes überhaupt, verpassen sie. Sie schlummern weiter, während der Zug nach Süden am Karpatenrand entlang fährt. Am nächsten Morgen in Bukarest trennen sich Nicolae und Karl. Der junge Moldauer will sofort zur Botschaft, der Tourist hat Sehnsucht nach seinem Hotel in Bahnhofsnähe. Sie wünschen sich gegenseitig alles Gute und sehen sich nie mehr wieder. Trotz ausgetauschter E-Mail-Adressen wechseln sie auch nie mehr ein Wort.

Karkanischer Kreis

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