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Im Bosporus-Express

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Es ist 14.05 Uhr. Der Bosporus-Express setzt sich pünktlich in Bewegung. Nach seinem Ausflug ins Dorfleben hat Karl sein Gepäck am Hotel aufgelesen und ist er die paar Schritte zum Bahnhof gegangen. Entgegen der Schauergeschichten über Bukarest sind ihm dort in der Halle keine streunenden Hunde begegnet, wohl jedoch am Vorabend bei seinem Rückweg aus der Altstadt. Aber das kann einem ja auch in einer „tierlieben“ Hauptstadt wie Berlin passieren. Ohne von Gekläff begleitet oder gar aufgehalten zu werden, konnte er also den Zug besteigen, der ihn in die ehemalige Hauptstadt des osmanischen Reiches bringen sollte. Die Fahrkarte hatte er schon am Vortag gleich nach der Ankunft aus Moldawien erworben.

Der Express fährt allerdings erst einmal im Schneckentempo über die Weichen. Der Schnellzug nach Sibiu, wie das immer noch von vielen Nachfahren deutscher Aussiedler bewohnte Hermannstadt in den Siebenbürgen auf Rumänisch heißt, überholt Karls türkischen Waggon schon auf den ersten Metern. „Das fängt ja gut an“, stöhnt der passionierte ICE-Fahrer in Erinnerung an seine bisherigen Bahnerfahrungen in Südosteuropa.

Beiderseits des Gleiskörpers stehen wieder diese rußigen Häuser und anderes Verfallene, was Karl schon bei seiner Ankunft per Bahn ins Auge gestochen war. Aber solche unansehnlichen Hinterlassenschaften früherer Zeiten dämmern auch in vielen anderen Ländern am Rande von Bahngeländen vor sich hin. Die Bahnstrecke zur Grenze verläuft anscheinend parallel zur exakt nach Süden führenden Autobahn in Richtung Bulgarien. Nach einer halben Stunde Anlaufzeit gewinnt der Express richtig Fahrt und rauscht über die Ebene. Weideland weit und breit. Rinder und Gänse grasen dort. Es folgen unendlich weite Felder mit bestellten Äckern, die Krume gut gelockert.

Der Schaffner hat dem deutschen Transitreisenden Ticket und Pass abgenommen. „Tja, Vertrauenssache. Aber braucht hier niemand Spesenbelege?“ fragt sich Karl, der Skeptiker, der glaubt, dass er seine Fahrkarte nicht wiedersehen wird.

Der nächste Beweis dafür, dass Ceauşescu seine „Systematisierung“ der Landwirtschaft energisch vorangetrieben hat und sie im technischen Sinne auch Fortschritt bedeutet hat, rückt ins Blickfeld. Ein riesiger Getreidespeicher – etwa 30 Meter hoch – steht mitten in der Landschaft. Über einen eigenen Gleisanschluss werden die „Cereale“ – so steht es auf den Waggons – abtransportiert.

Der Zug kommt allmählich in eine Bruchlandschaft. Ein Bächlein mäandert in Richtung Süden. Der Express passiert Daia, nähert sich also der Donau. Es wird dörflicher. Um 15.37 Uhr fährt der Zug in den Nord-Bahnhof der Grenzstadt Giurgiu ein.

Die Passkontrolle macht’s wieder einmal spannend. Der Grenzbeamte steckt den Pass ein und sagt: „I’ll come back“. Mittlerweile ist es schon elf Minuten über der Abfahrtszeit. In der Zwischenzeit hat der Zoll bei der Gepäckkontrolle großzügig Karls Aussage „Kleidung und Bücher“ akzeptiert und nur einen flüchtigen Blick auf Karls Rucksack und Tasche geworfen. Um 16.22 Uhr hat er seinen Pass mit Stempel zurück.

Der Express fährt wieder an. Die eigentliche Stadt lässt er rechts liegen und steuert direkt auf die Grenze zu. Erst kommt ein gelblich gefärbter Nebenarm des Grenzflusses Donau ins Blickfeld. Verrottete Kähne liegen am Ufer. Auf einem rostigen Eisenponton steht untätig ein gelber Kran herum. Eine kleine Fähre wartet am Ufer auf Passagiere, die über den Wasserlauf hinüber zur grünen Insel zwischen Seitenarm und Hauptfluss möchten.

Langsam rollt Karls Zug über die Inselspitze. Vor ihnen liegt die 1954 eröffnete „Freundschaftsbrücke“ vom rumänischen Giurgiu hinüber zum bulgarischen Russe. Auf rumänischer Seite wird es natürlich wieder bombastisch. Zu beiden Seiten der Brückeneinfahrt stehen zwei hohe Portaltürme im typisch rumänischen Neo-Klassiszismus. „Romanisierende“ Säulen grüßen den Reisenden, als verlasse er Rom, um hinüber zu den barbarischen Bulgaren zu gelangen.

Die kombinierte Straßen- und Eisenbahnbrücke ersteckt sich über eine Länge von 2.800 Metern. Die Pfeiler für den Bahnverkehr sind etwas niedriger, so dass der Bahnreisende die parallele Straße sozusagen schräg von unten betrachten kann. Dort verkehren vor allem türkische Lastwagen.

Wegen der Schäden an der in die Jahre gekommenen Brücke schleicht der Zug über den Fluss. In aller Ruhe kann Karl die hier gar nicht blaue, sondern schlammgraue Donau betrachten. Dank der Waldgebiete an beiden Ufern liegt doch ein leichter Grünschimmer auf den sich kräuselnden Wellen. Auf bulgarischer Seite sind weitläufige Industrieanlagen ans südöstliche Flussufer gebaut, offenbar Schwerindustrie.

Nach der Flussüberquerung schwenkt der Bahnverlauf nach Westen, wo die Grenzstadt Russe am südlichen Flussufer liegt. In den letzten Tagen war Karl das Lesen leicht gefallen, weil auf den Schildern im teils russisch-, teils rumänischsprachigen Moldawien neben der kyrillischen auch die lateinische Schrift präsent war und in Rumänien natürlich alles in lateinischer Schrift geschrieben war. Hier am Bahnhof Russe aber steht Полиция, Polizija nur in Kyrillisch. „Aber was ist denn das?“ fragt sich der deutsche Bahnreisende. Am Bahnsteig ist eine Beschriftung in deutscher Sprache zu lesen: FAHRDIENST, daneben in kyrillischen Buchstaben Движение (Dwischenije), das Synonym auf Russisch/Bulgarisch. Als sich die Tür unter diesen Aufschriften öffnet und ein uniformierter Bahnbeamter mit Kelle hervortritt, folgert Karl messerscharf, dass dies wohl der Fahrdienstleiter ist. Er hebt seine Kelle, zeigt die grüne Seite … und schon geht es weiter in Richtung Bosporus. „Aber woher und von wann die deutschen Aufschriften“, fragt sich Karl, zumal an anderen bulgarischen Bahnhöfen ähnliche Tafeln folgen. Sind das etwa Überbleibsel der bulgarisch-deutschen „Waffenbrüderschaft“ im 2. Weltkrieg?

Als sich der verspätete Zug Veliko Tarnovo nähert, der wohl malerischsten Stadt Bulgariens, ist es zu Karls Leidwesen schon nach 20 Uhr. Die Dämmerung ist weiter fortgeschritten als erhofft. Die Bahngleise führen entlang des Jantra-Flusses von Norden an den heutigen Industrie- und Touristenort heran, von dem im Mittelalter das Zweite Bulgarische Reich regiert wurde. Die Jantra schlängelt sich um die drei Hügel, auf der der mittelalterliche Stadtkern errichtet ist. Die Bahn folgt diesen Schleifen nicht, sondern überquert den Gebirgsfluss in gerader Fortsetzung ihrer Fahrt, nachdem sie zunächst westlich am Trapesiza-Hügel entlang gefahren ist. Schon hier hat Karl staunend zu den Lichtern in den Häusern am Hang der Gegenseite hochgeschaut. Wie gerne hätte er den Kunststudenten und Kunststudentinnen Gesellschaft geleistet, die auf dem Titelbild seines bulgarischen Reiseführers lachend auf einem Mauersims sitzen und die idyllische Stadtlandschaft der anderen Flussseite auf ihre Skizzenblöcke bannen.

Doch dafür reicht nun das schwindende Tageslicht nicht mehr. Zudem erlaubt Karls Fahrplan nur die Stadtbesichtigung vom Zug aus. Die ist auf einmal schlagartig unterbrochen, denn der Zug verschwindet nach der Flussüberquerung in einem Tunnel, der unter dem Zarevez-Hügel hindurchführt. Nach langen Sekunden im Dunkeln tauchen die Reisenden wieder auf. Die Jantra hat mittlerweile eine weite Schleife um den Hügel gemacht und ist hier wieder zur Stelle. Also wird sie zum zweiten Mal überquert. Von der Brücke erhascht Karl einen Blick auf die Kirchen der Heiligen Kyrill und Method sowie des Heiligen Nikolaus. Sekunden später ist er wieder in einem Tunnel verschwunden, diesmal unter dem Ausläufer des Sveta Gora (Heiliger Berg). Dann kommt der Zug am Bahnhof von Veliko Tarnovo zum Stehen. Mittlerweile ist es fast nachtschwarz. „Eines Tages werde ich im helllichten Sonnenschein wiederkehren, und zwar mit einem Skizzenblock in der Hand“, schwört sich Karl. Bereits das Wenige, was er in der Dämmerung erblickt hat, kam ihm so reizvoll vor, dass ihm ein längerer Aufenthalt in diesem städtischen Kleinod inmitten des Balkan-Gebirges bei einer späteren Reise unumgänglich erscheint.

Über Stara Sagora, Dimitrovgrad und Svilengrad fährt der Zug weiter durch die bulgarische Nacht. Die Passkontrolle am Grenzübergang Kapikule zu nachtschlafener Zeit um halb fünf Uhr morgens sorgt für eine unangenehme Unterbrechung des Schlummerns. Die peniblen türkischen Grenzer nötigen die Transitreisenden zum Verlassen des Zuges und überprüfen die Reisedokumente an einem Tischchen auf dem Bahnsteig.

Als Karl schließlich um acht Uhr ausgeschlafen hat und an das Flurfenster tritt, huscht die türkische Landschaft vorbei. Junge Bäume stehen in Reih‘ und Glied. Auf den Feldern darbt das Sonnenblumenstroh, die vertrockneten Stängel, die zurückbleiben, wenn das Korn abgeerntet ist. Hinter Çerkezköy zeigt sich dem Bahnreisenden eine schöne Bruchlandschaft. Wenig später beginnen auf den Hügeln die Neubauten der westlichsten Trabantenstädte Istanbuls, hübsche dreigeschossige Häuser, großenteils noch im Rohbau.

Hinter dem riesigen Güterbahnhof von Halkali entdeckt Karl die ersten Wochenendsportler. Es ist Samstagmorgen. Auf dem Küçükçekmece-See sind Ruderer unterwegs. Der Schaffner taucht auf. Er gibt tatsächlich das Ticket zurück. Der Zug, der eigentlich schon längst hätte eingetroffen sein sollen, kann also von seinem Ziel nicht mehr weit entfernt sein. Tatsächlich, die Bahn fährt jetzt nah am Marmara-Meer entlang. Traditionelle, recht alte Holzhäuser säumen die Bahnstrecke zur Seeseite. Die Schienenstränge umkurven den Stadtteil Sultanahmed, der Zug fährt unterhalb des Topkapi-Palasts entlang, nimmt eine letzte Linksbiegung und trifft – mit über einstündiger Verspätung zwar – an seinem Bestimmungsort ein, dem Sirkeci-Bahnhof von Istanbul. An dem Kopfbahnhof, wo einst Agatha Christies Detektiv Hercule Poirot in den Orient-Express stieg, entsteigt Karl dem Bosporus-Express – direkt am Bosporus. Unter Getute fahren die Fähren nach allen Seiten davon. Er ist da, am weitesten Punkt seiner Südost-Tour. Günaydin, Istanbul! Guten Morgen, Istanbul!

Karkanischer Kreis

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