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Mündliches und Schriftliches

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Es ist gut möglich, dass Snorri kleine geschriebene Sammlungen mit eddischer Dichtung vor sich liegen hatte, als er seine Prosa-Edda verfasste. Aber man unterschätzt leicht die riesige Stoffmenge, die Menschen im Mittelalter ihrem Gedächtnis anvertrauen konnten. Zweifellos war Snorris Geist mit einer Unmenge von Gedichten, skaldischen wie eddischen, gerüstet. Aus diesen Werken und vielleicht auch aus einigen Nacherzählungen in Prosa bezog er jene Informationen, die er brauchte, um seine Edda zu schreiben. Tatsächlich sollte Snorris Schrift die Form vieler altnordischer Mythen für künftige Generationen festschreiben – ein unvermeidliches Ergebnis, wenn vielgestaltige, wandelbare Geschichten in Schriftform gefasst werden. Doch die „Urform“ eines Mythos gibt es nie und hat es nie gegeben; es lässt sich unmöglich entscheiden, wer die Geschichte als Erster erzählt hat. Jede einzelne Nacherzählung trägt zu unserem umfassenden Verstehen von Struktur und Gehalt des betreffenden Mythos bei. Jede Neufassung gewährt Einblick ins mythische Denken und in jene Kontexte, die den einzelnen Mythos für die Kulturen relevant machten, die ihn verwenden – sei es als ein ganzes Gedicht, als Kenning, als Anspielung oder als Bildmotiv, in Stein oder Holz geschnitzt oder auf Malereien, Textilien oder Keramik.

Wie wir in Kapitel 2 sehen werden, gibt es in den nordischen Mythen mehr als nur eine Erklärung für die Erschaffung der Welt, aber wenn man behauptet, diese oder jene davon sei die „eigentliche“ oder „ursprüngliche“ Geschichte, ist damit nichts gewonnen. Genau wie im Niltal die ägyptischen Mythen in ihren Einzelversionen von Ort zu Ort beträchtlich voneinander abweichen, so waren auch die nordischen Mythen gemeinsames Kulturgut aller Völker mit Wikingerwurzeln, wo sie auch in der Welt des Nordens leben mochten. In diesem Raum, dem man den Namen „Wikingerdiaspora“ gegeben hat, wanderten nordischsprachige Menschen aus Skandinavien in Teile Großbritanniens und in die Normandie aus, dazu auf die Inseln im Nordatlantik – hauptsächlich nach Island, aber auch auf die Färöer, die Orkneys und die Shetland-Inseln. Später kolonisierten sie Südgrönland und gründeten sogar ein paar kurzlebige Siedlungen in Nordamerika. Skandinavier segelten den Dnjepr zum Schwarzen Meer hinab und fanden in Konstantinopel eine Anstellung als die Warägergarde des Kaisers; außerdem gründeten sie die ersten russischen Fürstentümer.


Reiter, Schiffe und stilisierte Bäume auf einem Wandteppich der Wikingerzeit aus dem schwedischen Överhögdal.

Diese geografische Zerstreuung bedeutete, dass es gar keine Einheitlichkeit geben konnte, keine maßgebliche Version der Mythen, die jeder glauben musste. Bei Dogmatik in der Lehre denkt man alles in allem an Buchreligionen: das Judentum, das Christentum und den Islam, Glaubensformen, innerhalb deren sich die heiligen Schriften herausbilden, dann als kanonisch anerkannt werden und sich schließlich zu orthodoxer Verbindlichkeit festigen konnten (so sehr es Interpretationsunterschiede geben mag). Jede nordischsprachige Gemeinschaft – es gab sie von der Halbinsel Jütland bis hinauf zur Grenze Lapplands im Norden, bis zum wikingerzeitlichen Dublin und sogar nach Grönland im Westen, zur Normandie im Süden und bis nach Konstantinopel im Osten – kannte und nutzte ein wechselndes Ensemble von Mythen zur Erklärung jener großen metaphysischen Fragen, die zu beantworten die Aufgabe des Mythos ist.

Während Legenden Landes- und Kulturgrenzen überschreiten, verändern sie sich. Wenn wir die Version der Sigurðr/Siegfried-Geschichte, wie sie das um 1200 entstandene südostdeutsch-österreichische Nibelungenlied enthält, mit den nordischen Gedicht- und Prosaversionen vergleichen – sie sind in Kapitel 4 nacherzählt –, stellen wir fest, dass die Beziehungen zwischen den Hauptpersonen völlig umgestaltet sind. In der südlichen Variante liegt der Schwerpunkt auf der Rache einer Schwester an ihren Brüdern, die ihren Mann getötet haben. In den nördlichen Versionen verzeiht die Schwester ihren Brüdern und nimmt furchtbare Rache an ihrem zweiten Mann, der sie später ermordet. Diese Abwandlungen verraten uns etwas über wechselnde kulturelle Normen; die Geschichten loten aus, wo wohl die wahre Loyalität einer Schwester liegen mag, wenn eine Ehefrau aus ihr geworden ist. Mythen und Legenden sind wandelbar, sind labil; falls sie kulturell eine Rolle spielen, werden sie erinnert, umgestaltet und – üblicherweise durch die Schrift oder ein anderes Medium der Fixierung – überliefert. Wenn sie keine Bedeutung mehr haben, verschwinden sie. Es muss eine Riesenmenge Götter- und Heldengeschichten gegeben haben, die es nicht in den nordischen ‚Mythensparstrumpf‘ geschafft haben, lokal oder in der ganzen Kultur gängige Geschichten, die für immer verloren sind.

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