Читать книгу Bis wir uns wiedersehen - Catherine Bailey - Страница 12

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Der Mann stellte sich als Nonino vor. Er sagte, er stamme aus einem Dorf in der Nähe und sei seit 57 Jahren Diener in Brazzà. Die alte Gräfin hatte ihn eingestellt, als er elf Jahre alt war. Er hatte als Kutscher angefangen und außen auf der Familienkutsche gestanden. Dann war er in den 1880er-Jahren Aufseher des Haushalts geworden, einer Zeit, als viele Gäste zu Besuch kamen. Damals, so erzählte er Foster, gehörte es zu seinen Pflichten, sich um die Pferde und Kutschen zu kümmern und die großen Murano-Kronleuchter zu polieren, und wenn abends nach dem Diner keine Musiker da waren, die auf den Zinnen der Burg spielten, leitete er einen Chor, der alte friaulische Lieder sang.

Stolz erklärte er, drei Generationen der Familie gedient zu haben. Sein Vorname war Giuseppe, aber die Familie nannte ihn bei seinem Nachnamen. Sie sagten, er sei leichter auszusprechen und klinge freundlicher. Foster hoffte, dies werde die Geschichten auf die jetzige Generation lenken, aber der alte Mann scheute sich vor der Gegenwart und kehrte in eine noch entferntere Vergangenheit zurück. Die Familie heiße Pirzio-Biroli, sagte er, und stamme von den Savorgnans ab, einer der mächtigsten Adelsfamilien Norditaliens. Nach ihrer Niederlassung in der Burg um 1200 hätten sie jahrhundertelang das Friaul beherrscht und seien mit der Republik Venedig gegen Österreich verbündet gewesen. Sie hätten viele Anwesen besessen. Die Festungen, von denen aus sie die Region verteidigten, reichten auf einer fast hundert Kilometer langen Linie bis Venedig. Dann waren da die Familienpaläste, in denen er als junger Mann gedient hatte. Der Palazzo Savorgnan am Cannaregio-Kanal in Venedig, der Palazzo Brazzà in Udine und einer ganz in der Nähe des Trevi-Brunnens in Rom.

Er schwieg einen Moment und schaute zur britischen Fahne, die über den Ruinen der Burg wehte. Dann schüttelte er den Kopf und sagte, es tue ihm leid, aber er müsse sagen, dass zu seiner Zeit schon alle möglichen Fahnen dort geweht hätten. Im letzten Krieg hatte die österreichische Armee die Burg besetzt, was für die Familie ein großes Unglück war. In einer Winternacht 1917 hatte sich ein Offizier im Weinkeller bedient und war danach eingeschlafen, ohne ein Kohlenbecken zu löschen, worauf das Haus niederbrannte. Auch die Fahne des königlichen Hauses von Savoyen hatte über der Burg geweht. Das war 1941, als der König von Italien Brazzà für kurze Zeit als Armeehauptquartier genutzt hatte. Danach waren die Deutschen gekommen und hatten das Hakenkreuz aufgezogen. Doch die alte Gräfin Cora di Brazzà Slocomb hatte stets die Stars and Stripes gehisst. Sie war Amerikanerin – eine reiche Erbin aus New Orleans. Mit einer Geste zum Haus hinüber sagte er, ihr Geld habe die neue Villa bezahlt, nachdem die alte niedergebrannt war.

Eine amerikanische Gräfin? Foster war über diese unerwartete Information verblüfft. Sofort wollte er wissen, wie ihre Beziehung zu dem Mann war, den er auf den Fotos mit Hitler und Mussolini gesehen hatte. Hatte sie ihr Land verraten und mit den Faschisten paktiert? Aber er wollte den alten Mann nicht ausfragen. Es wäre unpassend, unangenehme Fragen zu stellen. Leute von der US-Army aus der Abteilung für Kriegsverbrechen waren bereits in der Gegend, und es war ihre Aufgabe, gegen mögliche Kriegsverbrecher und Kollaborateure zu ermitteln.

»Wo ist die Familie jetzt?«, fragte er stattdessen.

Der alte Mann schaute beiseite und schwieg längere Zeit, bevor er antwortete. Ruhig, aber mit zitternder Stimme sagte er, sie seien alle weg, denn in den letzten Jahren habe eine Reihe von Tragödien die Familie getroffen. Er erzählte Foster knapp, was geschehen war. Die alte Gräfin, die ihn als Jungen eingestellt hatte, war im letzten Jahr in einer Irrenanstalt in Rom gestorben. Ihre einzige Tochter war auch tot – mit fünfzig an Herzversagen gestorben. Graf Detalmo, der Brazzà von seiner Mutter erbte, war im Herbst 1943 verschwunden, als deutsche Truppen die Burg besetzten. Dann, am 27. September 1944, einem Datum, das er nie vergessen werde, hatte die Gestapo die Frau des Grafen und seine beiden zwei und vier Jahre alten Söhne verhaftet.

Er zeigte auf das Fenster hinter ihnen und sagte, dort hätten die Gräfin und die Kinder gewohnt, als sie abgeholt wurden. Dann winkte er Foster, ihm zu folgen. Während sie den Garten vor dem Haus durchquerten, sprach er voller Wärme von der Gräfin. Sie hieß Fey und war schön, mit blondem Haar und hellblauen Augen. Sie war natürlich Deutsche, aber una bella tedesca. Zuerst war sie im Winter 1940 nach ihrer Heirat mit Detalmo ins Schloss gekommen. Ein Jahr später wurde der älteste Sohn Corrado – der kleine Corradino – geboren und im Januar 1943 Robertino. Die Jungen waren ihrer Mutter wie aus dem Gesicht geschnitten, blond und blauäugig. Schöne Jungen.

Er blieb vor einer Holzbank stehen, die im Schatten einer Pinie stand. Die Bank sah in Richtung der Berge und war von Rosen eingerahmt, die an der weißen Wand dahinter emporrankten. Er erzählte Foster, dies sei Feys Lieblingsplatz im Garten gewesen. Nachdem der Graf fort war, habe er ihr bei der Leitung des Anwesens geholfen. In den Sommermonaten saßen sie jeden Morgen eine Stunde hier, um über die Seidenernte zu sprechen und welche Lebensmittel man anbauen solle. Sie waren ein Team, sagte er.

Er ging in Richtung des Eingangstors weiter. Als er auf die Geschichte der Festnahme zurückkam, wurde er immer erregter. Zuerst hatte es keinen Ärger mit den Deutschen gegeben. Ganz im Gegenteil, die Soldaten, die die Burg besetzten, vergötterten die Kinder und spielten oft mit ihnen. Dann kam eines Abends der Befehl aus Berlin. Der kommandierende Oberst informierte Fey sofort, dass sie und ihre Söhne nach Deutschland gebracht werden sollten. Am nächsten Tag müssten sie bei Sonnenaufgang bereit zur Abreise sein. Er sagte aber, es gebe keinen Grund zur Sorge, sie würden nur ein paar Wochen weg sein und bald zurückkommen.

Am Haupttor des Anwesens mit seiner Krone aus Steinkugeln und dem verschnörkelten Schnitzwerk blieb der alte Mann stehen und zog mit dem Fuß eine lange Linie in den Kies. Hier hatten sich alle versammelt, um Lebwohl zu sagen: die Angestellten, Freunde und Nachbarn und die Landarbeiter mit ihren Familien. Fey durfte nur so viel mitnehmen, wie sie tragen konnte, und er hatte ihr mit den anderen Angestellten in der Nacht geholfen, sich auf die Reise vorzubereiten. Sie hatten Salamis, Schinken und Dosen mit Kondensmilch für die Jungen eingepackt. Der Heeresarzt, der mit den deutschen Soldaten stationiert war, gab ihr sogar 300 Mark, die sie in den Saum ihres Mantels einnähen sollte. Bei der Erinnerung, wie Fey die schweren Koffer und die beiden für die Reise eingepackten Jungen zum Auto geschleppt hatte, traten ihm Tränen in die Augen. Jetzt waren sie verloren. Er glaubte nicht, sie je wiederzusehen.

Mit tränenüberströmtem Gesicht sagte er, einer der deutschen Soldaten habe ihm erzählt, was nach der Abfahrt geschehen sei. Die erste Nacht hätten sie auf dem Bahnhof in Villach verbracht, wo sie mit den Flüchtlingen auf dem Boden schliefen. Als sie nach Innsbruck kamen, verhaftete die SS Fey und nahm ihr die Kinder weg. Der Soldat sagte, man habe den Jungen falsche Namen gegeben und sie an einem Ort versteckt, wo niemand sie finden würde – einem Waisenhaus irgendwo in Deutschland, wie er glaubte. Fey war eine Weile im Gestapo-Gefängnis in Innsbruck geblieben, dann schaffte die SS sie weiter. Das war alles, was der Soldat ihm sagen konnte. Seitdem waren sechs Monate vergangen, und es gab keine Spur mehr von ihr.

Angesichts der idyllischen Szene um ihn herum konnte Foster kaum glauben, was er hörte. Auf den Feldern lag ein leichter Nebel, durch den sich die Zypressen erhoben, die Spitzen von den letzten Sonnenstrahlen beleuchtet. Drüben bei der Scheune lieferten Ochsengespanne Mehlsäcke ab. Die cremefarbenen Tiere standen friedlich und geduldig da, während die Karren abgeladen wurden. Welchen Grund konnte die SS gehabt haben, Fey und die Kinder festzunehmen? Der Befehl war aus Berlin gekommen, was darauf hindeutete, dass jemand von weit oben ihn gegeben haben musste. Es war ihm nicht gelungen, die Identität des Mannes mit den Schmissen zu erfahren, der mit Hitler und Mussolini fotografiert war. Zum zweiten Mal hielt Foster sich aber zurück, den alten Mann zu befragen. Seine Trauer war ihm unangenehm; er wollte ihn nicht noch mehr belasten. Also wechselte er das Thema. Die Desert Air Force hatte ein paar gute Pferde erbeutet, die er zur Burg bringen wollte. Ob er die Ställe sehen könne?

Sie lagen etwas entfernt in einem niedrigen Steingebäude hinter der Scheune. Beim Eintreten sah Foster die Reihen der leeren Boxen. Hier hatten die Deutschen ihre Pferde gehalten, und der Schweißgeruch der Tiere hing noch in der Luft.

Als sie an den leeren Boxen vorbeigingen, beschrieb Foster, was er nördlich von Ferrara gesehen hatte, nachdem die Desert Air Force die Brücken über den Po bombardierte. Am Südufer des Flusses hatten sich Tausende Pferde in allen Farben, Formen und Größen auf den Feldern gedrängt. Aus Mangel an Benzin hatte die sich zurückziehende Wehrmacht für den Transport meist Pferdewagen benutzt. Als sie an den breiten Fluss kam, konnte sie die Tiere nicht hinüberbringen und ließ sie frei. Hier hatte die DAF die Pferde erbeutet, die er in Brazzà unterstellen wollte.

Sie kamen zur letzten Box am Ende des Stalls, wo ein kleines weißes Pony stand. Der alte Mann blieb stehen, um ihm das Maul zu streicheln. Er sagte, es heiße Mirko und sei 27 Jahre alt. Er hatte den Jungen beigebracht, darauf zu reiten – wie zuvor schon ihrem Vater. Der Kleine – Robertino – hatte es angebetet. Sobald der Junge anfing zu laufen, war er jeden Morgen mit ihm hierhergekommen, um dem Pony einen Apfel zu geben.

Erneut spürte der alte Mann ein starkes Gefühl des Verlusts. Er drehte sich schroff um und ging weg, wobei er murmelte, er habe zu tun.

Auf dem Rückweg zum Haus beschäftigten die Geschichte der Mutter und ihrer zwei Söhne Foster weiter. Sein eigener Sohn war sechs Jahre alt. Trotz allem, was er im Krieg gesehen hatte, hinterließ der Gedanke, dass ihm so etwas hätte geschehen können, wenn die Deutschen England besetzt hätten, einen tiefen Eindruck bei ihm.

Wo waren diese zwei- und vierjährigen italienischen Jungen? Niemand wusste es, aber angenommen, sie waren tatsächlich in ein deutsches Kinderheim gesteckt worden, wie waren sie zu finden? In Deutschland herrschte völliges Chaos: Das Land war von Osten und Westen gleichzeitig besetzt worden, und die Zerstörungen durch alliierte Bombardements und die großen Landschlachten waren gewaltig. Es war für Zivilisten schwierig und gefährlich, das Land zu durchqueren, und es herrschte Hungersnot und allgemeines Elend. Über zwei Millionen Menschen zogen durch Deutschland und versuchten, entweder in ihre Heimatländer zurückzukommen oder vor der Roten Armee im Osten zu flüchten. Die Chance, zwei namenlose Kinder zu finden, die vom Chaos verschluckt worden waren, war sehr gering.

Außerdem konnten sie überall sein. Es gab viele dieser NS-Waisenhäuser, nicht nur in Deutschland, sondern auch in Österreich, Polen und der Tschechoslowakei. Hatte die SS die Jungen in Deutschland behalten oder sie in ein Kinderheim in den besetzten Ländern geschickt?

Am traurigsten war aber der Gedanke, dass niemand nach ihnen suchen würde. Nach allem, was der alte Mann gesagt hatte, schien es wahrscheinlich, dass beide Eltern tot waren.

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