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Ebenhausen, Bayern, 6. März 1943

Das Haus, das einmal Hassells Schwiegervater Großadmiral von Tirpitz gehört hatte, stand allein am Rand des Dorfes. In der Nähe lag versteckt hinter alten Eiben eine Kirche, im Übrigen hatte man vom Haus aus freien Blick über das ganze Tal.

Vom oberen Stock spähte Hassell durch die Ritzen der Fensterläden. Niemand war zu sehen, aber er wurde den Eindruck nicht los, dass er beobachtet wurde. Er nahm sein Fernglas aus der Schreibtischschublade, öffnete die Läden einen Spalt weit und fixierte den baumbestandenen Hügelkamm gegenüber. Als er das letzte Mal geschaut hatte, meinte er, zwei Männer am Waldrand gesehen zu haben.

Nach einigen Minuten war er sicher, dass dort niemand sei. Er legte das Fernglas zurück in die Schublade und nahm einen Stapel Blätter heraus, die er in die Tasche stopfte. Dann ging er nach unten und hinaus in den Garten. Er blieb kurz stehen, um sich zu vergewissern, dass niemand in der Nähe sei, dann lief er über den Rasen zu einem alten Steinhäuschen. Der Garten war schön angelegt, und das Häuschen wirkte wie eine bewusst geplante Grotte. Hassell hatte die Rosen aber mit Absicht über die Ruine wuchern lassen. Er bückte sich, schob das Gestrüpp beiseite und suchte nach dem Loch.

Es war ein Ritual, das er jedes Mal bei der Rückkehr nach Ebenhausen befolgte. In seiner Tasche steckten die letzten Seiten des Tagebuchs. Er machte nicht jeden Tag Eintragungen, denn es war nicht sicher, mit belastenden Papieren durch Deutschland zu fahren, und viel zu riskant, sie in seiner Berliner Wohnung zu lassen. Stattdessen wartete er, bis er in Ebenhausen war, um die Ereignisse der letzten ein oder zwei Wochen aufzuschreiben. Grundlage dafür waren Notizen, die er auf Zettel geschrieben und im Futter seines Jacketts verborgen hatte. Dann steckte er die neuen Einträge in die Teedose, die er nahe dem Häuschen versteckt hatte.

Seine Einträge waren nicht so zurückhaltend wie seine römischen Tagebücher. Hassell konzentrierte sich auf die Verschwörung zum Sturz Hitlers und notierte jedes geheime Treffen, jedes Gerücht, das er über die körperliche und geistige Gesundheit des Führers hörte, und jedes Anzeichen für Widerstand. Seine Informanten gehörten zu den höchsten Rängen des NS-Regimes: Generäle beim Oberkommando der Wehrmacht, Agenten der Abwehr (des Militärgeheimdiensts), Außenamtsbeamte und Männer aus Hitlers unmittelbarem Umfeld. Es gab auch Berichte von Hassells Treffen mit Vertretern der amerikanischen und britischen Regierung, die einen Staatsstreich fördern könnten, wie er und Beck hofften.

Für Hassell war das Tagebuch ein Dossier. Er arbeitete eng mit Hans Oster und Hans von Dohnányi zusammen, führenden Verschwörern bei der Abwehr, die ebenfalls Material über die Verbrechen des Regimes sammelten: Gräueltaten von SS und hohen Nazis, kriminelle und unmoralische Praktiken in der HJ, Profitmacherei und Gesetzesverstöße, Misshandlung von Gefangenen in Deutschland und den besetzten Ländern und Verfolgung der Juden. Das Material sollte nicht nur dazu dienen, Schlüsselpersonen von der Notwendigkeit eines Regimewechsels zu überzeugen, sondern auch die Täter bei Gerichtsverfahren zu belasten.

Die Gefahr für Hassell war so groß und der Inhalt des Tagebuchs so explosiv, dass er es im Mai 1942 unterbrechen musste. Er ließ es im Versteck und hatte erst im Spätsommer wieder den Mut es weiterzuführen. »Ich habe leider seit mehreren Monaten keine Aufzeichnungen machen können, weil mir Ende April gewisse Nachrichten, die ich erhielt, gesteigerte Vorsicht zur Pflicht machten«, schrieb er am 1. August.

Die Informationen kamen von Ernst von Weizsäcker, Hassells Maulwurf im Außenamt. Obwohl er als Staatssekretär einer der höchsten Beamten des Ministeriums war, traf er sich regelmäßig mit Hassell, um ihn auf dem Laufenden zu halten. Sie waren seit Langem befreundet, und Weizsäcker wollte zwar nicht seinen Posten aufgeben, bekundete aber Unterstützung für den Sturz Hitlers. Am 29. April hatte er Hassell gebeten, ihn in seinem Haus zu besuchen. Hassell nahm an, es gehe um Hitlers jüngste Umbesetzung des Außenamts, doch zu seiner Bestürzung hatte Weizsäcker ihn zu sich gerufen, um den Kontakt abzubrechen. »Er schloß sorgfältig Fenster und Türen, erklärte sehr scharf betonend, er müsse sehr ernste Sachen mit mir besprechen, lehnte scherzhafte Antwort brüsk ab«, schrieb Hassell. »Er müsse mich ersuchen, ihn bis auf weiteres ›mit meiner Gegenwart zu verschonen‹.«

Der Staatssekretär hatte Gerüchte gehört, man habe Hassell das Regime kritisieren und Hitlers Ablösung fordern hören, und sagte, dies habe ihn selbst in große Gefahr gebracht und »schlaflose Nächte gekostet.« »Als ich aufbegehrte, unterbrach er mich schroff«, fuhr Hassell fort. »Er überhäufte mich dann, erregt umhergehend, mit schwersten Vorwürfen. Ich sei unerhört unvorsichtig gewesen, ganz unerhört, ebenso übrigens ›mit Respekt zu vermelden‹ meine Frau. Das wisse man an gewissen Stellen [d. h. bei der Gestapo], behaupte auch, Material zu haben. Er müsse mich aufs schärfste auffordern, diese Art und Weise einzustellen usw. Sobald ich zu unterbrechen suchte, fuhr er auf und sagte immer wieder: ›Verstehen Sie mich doch! Wenn Sie mich nicht verstehen wollen, dann muß ich abbrechen!‹ … Ich ahnte gar nicht, wie ›die Leute hinter mir her‹ seien; ich würde auf Schritt und Tritt beobachtet: ich sollte nur ja alles verbrennen, was ich etwa an Aufzeichnungen hätte, womöglich über Gespräche, bei denen man das eine oder das andere sage (offenbar er selbst).«

Als Hassell es im August für sicher hielt, das Tagebuch wiederaufzunehmen, schmerzte die Behandlung durch seinen Freund immer noch: »Dagegen ärgert mich dauernd der Gedanke an meine Unterhaltung mit K. [Weizsäcker], weil – auch wenn man alle taktischen Überlegungen, die denkbar sind, berücksichtigt und sogar anerkennen will – ein Verfahren übrig bleibt, was mir milde gesagt unbegreiflich bleibt.« Er bemühte sich, das Verhalten seines Freundes zu entschuldigen, und gab die Schuld den Umständen, unter denen die Gegner des NS-Regimes handeln mussten: »2. die von ihnen angewendeten Tscheka-Methoden, 3. ihre Minderwertigkeitskomplexe gegenüber der Oberschicht, 4. ihre instinktive Abneigung gegen jede wirkliche Persönlichkeit, 5. die Tatsache, daß jede Opposition und Kritik auch aus den deutschesten Motiven als Verbrechen angesehen wird.«

Seine Zusammenfassung endete mit einer für ihn charakteristischen trotzigen Bemerkung: »Persönlich war mir am interessantesten, daß nach beglaubigten Nachrichten eine unmittelbar gegen mich (und angeblich auch Ilse) gerichtete Abneigung Hitlers vorliegt. Nach der ganzen Entwicklung, die dieser Mann leider genommen hat, muß ich das als eine Ehre ansehen.

Die Seiten, die Hassell an diesem kalten Märzmorgen im Versteck deponierte, zeigen seine Frustration: »Manchmal bin ich Berlin sehr satt. Ich habe Lust, nach E[benhausen] auszuwandern und nur zu schriftstellern. Aber es wäre doch wohl falsch und feige.«

Wie Hassell und sein Kreis erkannten, bedeutete ein Staatsstreich nicht nur, Hitler zu ersetzen; man musste dem Machtapparat, der von Hundertausenden SS- und Gestapomännern gestützt wurde, die Kontrolle entwinden. Durchführung und Erfolg des Staatsstreichs hingen darum vom Militär ab: Einzig die Wehrmacht besaß die Waffen und die Macht, die für einen Regimewechsel nötig waren.

Noch vor Kriegsbeginn hatten Beck, Goerdeler und Hassell ihre Energie darauf gelenkt, hohe Wehrmachtsoffiziere auf ihre Seite zu ziehen. Obwohl aber einige von ihnen von der Notwendigkeit überzeugt waren, Hitler zu stürzen, hatten sie keine aktive Unterstützung angeboten.

Es gab zahlreiche Hindernisse. Jeder deutsche Soldat hatte einen Treueeid auf Hitler geschworen. Rein juristisch war er Oberster Befehlshaber. Solange er also nicht beseitigt war, konnte man nicht auf die Wehrmacht zählen. Außerdem war auch ohne den Treueeid die Haltung der meisten Offiziere vom Erfolg von Hitlers Kriegführung bestimmt. Solange der Diktator Schlachten gewann, sahen die Verschwörer kaum eine Chance, die Wehrmacht zur Mitarbeit zu gewinnen. In den ersten Kriegsjahren erkannten sie, dass die schnellen Siege bis zur Invasion der Sowjetunion und zunächst auch dort Hitlers Stellung gestärkt hatten. »Man kam zu dem Ergebnis, daß auch diesmal wieder nichts zu erwarten sei«, schrieb Hassell im Sommer 1941. »Es ist erstaunlich, daß in breiten Kreisen grade der Wehrmacht das Prestige von Hitler (nicht der Partei) immer noch groß ist und durch den Russenfeldzug bei Offizieren zunächst noch wieder gewonnen hat.«

Für die kleine Gruppe von Generälen, die für die Argumente der Opposition aufgeschlossen waren, gab es ein weiteres Hindernis. Keiner war bereit, sich gegen Hitler zu stellen und einen Frieden mit den Alliierten abzuschließen, solange er nicht die Bedingungen kannte. Die beschämende Niederlage von 1918 und der Friedensvertrag von Versailles hatten zu Hitlers Aufstieg beigetragen, und kein General wollte Deutschland einer zweiten Demütigung aussetzen.

Hassells Hauptaufgabe bei der Verschwörung, das Auskundschaften, ob günstige Friedensbedingungen mit den Alliierten möglich seien, war daher von zentraler Bedeutung. Um die Generäle zur Unterstützung eines Staatsstreichs zu bewegen, war seine größte Sorge, die Bedingungen zu klären, unter denen Deutschlands Feinde einem Waffenstillstand oder einem Separatfrieden mit dem »anderen« Deutschland zustimmen würden. Im Austausch gegen einen Regimewechsel und eine Beendigung des Krieges wollte Hassell die britische Zusicherung der künftigen Reichsgrenzen und vor allem das Versprechen, ein durch Hitlers Beseitigung geschaffenes Vakuum nicht militärisch auszunutzen.

Zu diesem Zweck arbeitete er seit 1939 unermüdlich und unter hohem persönlichem Risiko an der Ausweitung seiner Kontakte im Ausland. Nach der Rückkehr aus Rom trat er einem Interessenverband namens Mitteleuropäischer Wirtschaftstag bei, der die europäische Wirtschaft studierte. Sein Beruf erlaubte es ihm, frei zu reisen, und er benutzte die Reisen als Deckmantel für seine Widerstandstätigkeit. Obwohl die Stempel in seinem Pass bedeuteten, dass die deutschen Behörden über seine Bewegungen informiert waren, konnte er die Treffen mit Vertretern der britischen Regierung geheim halten.

Im Februar und Mai 1940 reiste Hassell nach Arosa in der Schweiz, wo er Kontakt zu James Lonsdale-Bryans aufnahm, einem Mittelsmann des britischen Außenministers Lord Halifax. Da er in Hitlers Beseitigung ein zentrales Kriegsziel sah, schien Halifax bereit, den Verschwörern Anreize für einen maßvollen Friedensschluss zu bieten. Sir Alexander Cadogan, der ständige Staatssekretär im Außenministerium, sah es jedoch anders. Nach einem Treffen mit Lonsdale-Bryans notierte er: »Lächerliche, abgedroschene Geschichte von einer deutschen Opposition, die Hitler stürzen will … diese Geschichte hörte ich zum 100. Mal.«

Im Mai 1940 löste Anthony Eden Halifax ab, und Cadogans Haltung setzte sich durch. Hohe Beamte im Außenministerium glaubten nicht, dass ein Staatsstreich gegen Hitler wahrscheinlich oder dass Hassell glaubwürdig sei. In ihren Augen war er als Schwiegersohn von Großadmiral Tirpitz, dem Flottenchef des Kaisers, ein typischer Vertreter der einflussreichen preußischen Kaste, die für den Ersten Weltkrieg verantwortlich gewesen sei, die größte militärische Katastrophe des 20. Jahrhunderts. Außerdem hatte diese Kaste Hitler in den vergangenen Jahren unterstützt, nicht zuletzt Hassell selbst – zumindest auf den ersten Blick –, als er Botschafter auf dem wichtigen Posten in Rom war.

Dieser politischen Linie blieb das Außenministerium treu. Anfang 1941 gingen an die britischen Botschaften in Bern, Stockholm und Madrid Telegramme mit dem ausdrücklichen Verbot, künftig auf Friedensfühler von möglichen Anführern eines deutschen Staatsstreichs zu reagieren. Erst nach einem Regimewechsel war England zu Verhandlungen bereit. »Ich bin sicher, daß wir unsere Linie absoluten Schweigens nicht verlassen dürfen. Nichts würde für unsere neuen Freunde in den Vereinigten Staaten verwirrender und im Verhältnis zu unserem neuen Alliierten Rußland gefährlicher sein als die Vermutung, daß wir solchen Ideen nachgehen. Ich bin absolut gegen den geringsten Kontakt«, schrieb Churchill im September 1941 an Eden.

Hassell wollte nicht aufgeben. Im Januar 1942 traf er mit Carl Jacob Burckhardt, dem Vizepräsidenten des Roten Kreuzes, in Genf zusammen. Burckhardt sagte ihm, führende Kreise in England seien überzeugt, »mit einem anständigen Deutschland müsse man doch zu einem Arrangement kommen können.« Diese Botschaft widersprach der offiziellen britischen Haltung und Politik. Bei Hassell nährte sie jedoch die Hoffnung, eine Verständigung sei immer noch möglich.

Diese Hoffnungen zerschlugen sich, als Churchill nach der Casablanca-Konferenz mit Roosevelt und Stalin im Januar 1943 verkündete, die Westmächte forderten die »bedingungslose Kapitulation« Deutschlands.

Churchill bedauerte später, nicht auf die Friedensfühler der deutschen Opposition eingegangen zu sein. Nach dem Krieg gab er zu, er habe Stärke und Größe der Widerstandsbewegung unterschätzt: »In Deutschland gab es eine Opposition, die zu den edelsten und größten zählte, die es in der politischen Geschichte aller Nationen je gegeben hat. Diese Männer kämpften ohne Hilfe von innen oder außen, einzig angetrieben von der Unruhe ihres Gewissens.«

»Wenn die Josephs [Generäle] den Ehrgeiz hatten, mit ihrem Eingreifen so lange zu warten, bis klar ersichtlich ist, daß uns der Gefreite in den Abgrund führt, so hat sich dieser ihr Traum erfüllt«, schrieb Hassell als Reaktion auf die alliierte Forderung nach einer bedingungslosen Kapitulation. »Das Schlimme ist nur, daß auch unsere sichere Voraussicht sich bestätigt hat, es werde dann zu spät und jedes neue Regime eine Liquidationskommission sein.«

Hassell und sein Kreis erkannten, wenn die Wehrmacht Hitler nicht stürzen wolle, brauche man »irgendeine Teilaktion« – mit anderen Worten, seine Ermordung – in der Hoffnung, »das ganze Gebäude [werde] wie ein Kartenhaus zusammenstürzen.«

Ein Mordanschlag schuf aber eigene Probleme. Hitlers jeweiliger Aufenthaltsort war zwar relativ leicht festzustellen, aber es war selten möglich, seine Bewegungen im Voraus zu kennen. Vielleicht wegen seines ausgeprägten Überlebensinstinkts vermied Hitler feste Zeitpläne und reiste, wenn irgend möglich, ganz kurzfristig. Er trug dann eine kugelsichere Weste und eine sehr schwere kugelsichere Kappe mit Bleieinlage, wie sein Adjutant Schmundt berichtete. Auf seinen Reisen waren die Sicherheitsvorkehrungen fast undurchdringlich; er hatte eine eigene SD-Leibwache sowie eine schwer bewaffnete SS-Eskorte. Sein Arzt war immer bei ihm, und er reiste mit einem eigenen Koch. Hitlers Privatflugzeug, eine Focke-Wulf Condor, besaß eine gepanzerte Passagierkabine, und an seinem Sitz war ein Fallschirm befestigt. Er fuhr immer im eigenen Wagen, und vier verschiedene Wagenkolonnen standen in seinen Hauptquartieren ständig in Bereitschaft. Die Autos hatten kugelsichere Reifen und Fenster und waren stark gepanzert.

Es war also entscheidend, dass Hitlers Mörder jemand war, der Zugang zu ihm hatte. Da ein Attentäter nicht aus den Sicherheitskräften kommen würde, die dem Führer fanatisch ergeben waren, standen Hassell und sein Kreis bei der Suche nach einem potenziellen Kandidaten wieder ganz am Anfang. Der Attentäter musste der Wehrmacht angehören – jemand, der Hitler bei seinen Besuchen im Oberkommando nahe genug kommen konnte oder der ihn regelmäßig bei militärischen Lagebesprechungen sah.

Hassell war pessimistisch. »Aber was trotz aller Bemühungen immer noch fehlt, ist die Initialzündung.« Er war auch über die Folgen eines gescheiterten Attentats besorgt: »Auch heute ist das Prestige Hitlers noch groß genug, um – wenn er auf den Beinen bleibt – ihm eine Gegenreaktion zu ermöglichen, die mindestens Chaos und Bürgerkrieg bedeutet.«

Wenige Tage nach der Konferenz von Casablanca stiegen für kurze Zeit seine Hoffnungen wegen der Ereignisse an der Ostfront. Am 31. Januar kapitulierten 91 000 deutsche Soldaten bei Stalingrad nach einer der heftigsten Schlachten der Weltgeschichte, nachdem die Wehrmacht bereits 200 000 Mann verloren hatte.

Obwohl Deutschland schon vorher Rückschläge erlebt hatte – etwa in der Luftschlacht um England und auf See –, war Stalingrad der erste große Rückschlag zu Lande. »Die letzten Wochen haben die schwerste bisher erlebte Krise dieses Krieges gebracht«, schrieb Hassell am 14. Februar 1943 in sein Tagebuch. »Zum ersten Male gelingt es Hitler nicht, die Verantwortung abzuwälzen, zum ersten Male bezieht sich das kritische Raunen unmittelbar auf ihn. Insofern liegt eine echte Führungskrise vor: Die militärische bisher durch einige intuitive Lichtblicke, durch geglücktes Hasardieren, gegnerische Unfähigkeit und Zufälle verdeckte Unfähigkeit des ›genialsten Feldherrn aller Zeiten‹, das heißt des größenwahnsinnigen Gefreiten, steht im Vordergrunde. Das Opfern kostbarsten Blutes für unsinnige oder verbrecherische Prestigegesichtspunkte ist weithin klar. Da es sich diesmal um militärische Dinge handelt, gehen nun endlich auch Generälen die Augen auf, so daß sie erkennen, wohin die Wehrmacht gebracht worden ist und Deutschland im Begriffe steht gebracht zu werden. Angesichts eines Ereignisses, das in der deutschen Krieggeschichte einzig dasteht, sollten ja nun auch dem Blindesten die Schuppen von den Augen fallen.«

Am 6. März, nachdem der erhoffte Staatsstreich ausgeblieben war, drückte Hassell seinen Zorn ungebremst aus: »Die zu Beginn meiner letzten Aufzeichnung erwähnte schwere Krise hat leider nicht das berühmte und bitter notwendige, sehnlich erhoffte reinigende Gewitter, nämlich den Systemwechsel gebracht … Alle Bemühungen, den Leuten Eisen ins Blut zu gießen, die mit ihrem Machtinstrument eine halb wahnsinnige, halb verbrecherische Politik stützen, blieben vergeblich. Dabei hätten allein schon die militärischen Ereignisse, das heißt die verantwortungslose Führung durch diesen größenwahnsinnigen, leichtfertigen Gefreiten ihnen den letzten Stoß geben müssen, wenn schon die innere Zersetzung und Zerstörung nicht dazu genügten.«

Ungeachtet der Niederlage von Stalingrad konnte Hassell nicht verstehen, wie die Generäle mit ihrem Gewissen lebten. Wenn sie nicht aus politischen oder militärischen Gründen von der Notwendigkeit zum Aufstand überzeugt waren, warum hatten sie nicht auf die Brutalität von Hitlers Kommissarbefehl reagiert, der der Wehrmacht befahl, alle gefangen genommenen Politkommissare an der Ostfront zu ermorden, und vor allem auf den Massenmord an den Juden im Osten?

Er konnte die Unbekümmertheit der Generäle kaum glauben, und sein Urteil war vernichtend: »Sie haben wohl technisches Können und physischen Mut, aber wenig Zivilcourage, gar keinen Überblick oder Weitblick und keinerlei innere, auf wirklicher Kultur beruhende geistige Selbständigkeit und Widerstandskraft, daher sind sie einem Manne wie Hitler völlig ausgeliefert. Der Mehrzahl sind außerdem die Karriere in niedrigem Sinne, die Dotationen und der Marschallstab wichtiger als die großen, auf dem Spiele stehenden sachlichen Gesichtspunkte und sittlichen Werte. … Alle, auf die man gehofft hatte, versagen, und zwar insofern in besonders elender Weise, als sie alles, was ihnen gesagt wird, zugeben und sich auf die tollsten Gespräche einlassen, aber den Mut für die Tat nicht aufbringen. Mitmachen würden sie alle.«

Hassell hatte recht in seiner Meinung über die Generäle als Gruppe, aber er täuschte sich darin, dass kein Einziger bereit sei, bei einem Attentat sein Leben zu riskieren. Während er schrieb, bereitete Generalmajor Henning von Tresckow mit Unterstützung von Generaloberst Beck und hohen Abwehroffizieren einen Anschlag auf Hitler an der Ostfront vor. Weil Hassell seit März 1942 von der Gestapo beobachtet wurde, hatte Beck, sein enger Vertrauter und der anerkannte Kopf seiner Widerstandsgruppe, keine Wahl, als ihn im Dunkeln zu lassen.

Der 43 Jahre alte Tresckow war Erster Generalstabsoffizier der Heeresgruppe Mitte an der Ostfront. Er entstammte einer preußischen Adelsfamilie mit langer militärischer Tradition. Im Lauf von 300 Jahren hatten 21 Generäle dieses Namens dem preußischen Staat gedient. Tresckow selbst hatte mit sechzehn Jahren das Eiserne Kreuz erhalten, als er 1918 an der Marne kämpfte. Ein Kommandeur hatte ihm früh prophezeit, er werde entweder Chef des Generalstabes oder als Rebell auf dem Schafott enden.

Noch vor Beginn des Zweiten Weltkriegs wurde Tresckow engagierter Nazigegner. Wie Hassell trieb ihn die Pogromnacht vom 9. November 1938 in die Opposition. Er empfand sie als persönliche Demütigung und erkannte, »daß Pflicht und Ehre von uns forderten, alles zu tun, um Hitler und den Nationalsozialismus bei der ersten sich bietenden Gelegenheit zu Fall zu bringen und damit Deutschland und Europa vor der Gefahr der Barbarei zu retten.«

Nachdem er im Oktober 1941 eine Gruppe von ähnlich gesinnten Offizieren um sich gesammelt hatte, schickte Tresckow seinen Cousin und Adjutanten Fabian von Schlabrendorff nach Berlin, um Beck die Nachricht zu überbringen, der Stab der Heeresgruppe Mitte sei »zu allem bereit«. Zuerst wollte Tresckow aber eine Garantie, dass England bald nach einem Regimewechsel Frieden schließen würde – eine Garantie, die Beck und Hassell ihm nicht geben konnten.

Während im Winter 1942 – 43 die Kriegslage drückender wurde, schickte Tresckow eine zweite Botschaft an Beck, seine Gruppe sei jetzt bereit, Hitler zu beseitigen und damit die »Initialzündung« für den Staatsstreich zu liefern. Bei der ersten Gelegenheit würde sie in Aktion treten.

Diese Gelegenheit kam erst Monate später, als Hitler im Januar 1943 das Hauptquartier der Heeresgruppe Mitte in Smolensk besuchen sollte.

Tresckow plante, Hitler während des Essens im Offizierscasino zu töten. Alle um den Tisch herumsitzenden zwei Dutzend Offiziere sollten auf ihn schießen – wodurch die Verantwortung kollektiv wurde und sicher war, dass wenigstens eine Kugel den Sicherheitsgürtel der SS durchdringen und ihr Ziel treffen würde. Es war aber notwendig, den Kommandeur der Heeresgruppe Mitte, Feldmarschall Günther von Kluge, einzuweihen, wenn auch nur, damit er nicht in die Schusslinie geriet. Obwohl Kluge sich als Gegner Hitlers bekannte, würgte er den Plan ab. Er sagte Tresckow, dies verletze die Grundsätze des Offizierskorps, denn es gehöre sich nicht, einen Mann einfach beim Essen zu erschießen.

Dann wurde bekannt, dass Hitlers Besuch in letzter Minute abgesagt und auf den 13. März verschoben war.

Diesmal wollte Tresckow ihn ermorden, wenn er das Hauptquartier verließ. Ausgesuchte Soldaten entlang des Weges sollten das Feuer mit Maschinenpistolen eröffnen. Auch diesmal musste Kluge informiert und seine Erlaubnis eingeholt werden. Doch in letzter Minute fehlte ihm die Charakterstärke, um dem Plan treu zu bleiben. Nach Schlabrendorffs Zeugnis wandte er immer wieder ein, »weder das deutsche Volk noch der deutsche Soldat würden im damaligen Zeitpunkt eine solche Tat verstehen. Man müsse warten, bis durch die ungünstige militärische Entwicklung die Notwendigkeit der Beseitigung Hitlers allgemein eingesehen werde.«

Das Argument war spitzfindig. Tresckow wie Schlabrendorff meinten, der Widerstand des Feldmarschalls rühre wahrscheinlich daher, dass Hitler ihm gerade 250 000 Reichsmark zum Geburtstag geschenkt hatte.

Da sie wussten, dass auf Kluge kein Verlass war, fassten sie einen Ausweichplan, von dem der Feldmarschall nichts wusste: »Wir wollten Hitler nicht erschießen, sondern ihn mittels einer in sein Flugzeug geschmuggelten Bombe während des Fluges beseitigen, um dadurch die politischen Nachteile eines Attentats zu vermeiden und ein Flugzeugunglück vorzutäuschen.«

Es war Schlabrendorff gelungen, an britischen Sprengstoff zu kommen, der von gefangen genommenen SOE-Agenten* stammte – ein wichtiger Faktor, denn britische Zünder waren lautlos, während die deutschen leise zischten. Nachdem er den Sprengstoff in zwei Cognacflaschen gefüllt hatte, bat Tresckow Oberst Brandt, der in Hitlers Gefolge reiste, die Flaschen einem Freund im Hauptquartier Rastenburg in Ostpreußen mitzubringen. Die scheinbar unschuldige Bitte wurde erfüllt.

Später am Tag flog Hitler nach Rastenburg. Schlabrendorff brachte das Paket zum Flugplatz und wartete auf Tresckows Signal. Dann machte er die Bombe scharf und übergab Brandt das Paket. Die Maschine hob in Begleitung von Jagdflugzeugen ab. Nach Tresckows Berechnungen sollte die Bombe dreißig Minuten nach dem Start explodieren. Schlabrendorff schrieb später: »Wir nahmen an, daß die erste Nachricht über den Unfall durch eines der begleitenden Jagdflugzeuge mittels Funkspruch gemeldet würde. Unsere Erregung während dieser Wartezeit war beträchtlich. Aber es geschah nichts.«

Nun musste Schlabrendorff sich eine Entschuldigung ausdenken, um das Paket zurückzubekommen: »Wir waren zutiefst erschüttert. War es schon schlimm genug, daß das Attentat selbst mißglückt war, so schien es uns beinahe noch schlimmer, daß die Entdeckung der Bombe unsere Entlarvung und darüber hinaus den sicheren Tod für einen weiten Kreis wichtiger Mitarbeiter bedeutete.« Zu seiner Erleichterung bekam er heraus, dass Oberst Brandt die beiden Cognacflaschen noch hatte. Er flog nach Rastenburg, behauptete, das Paket sei verwechselt worden, und nahm es zurück. Erst im Zug vom Führerhauptquartier zurück nach Berlin konnte er die Bombe entschärfen. Er schloss die Tür seines Schlafwagenabteils ab und packte das Paket vorsichtig aus. »Sorgsam entschärfte ich die Bombe und nahm den Zünder heraus. Als ich diesen untersuchte, stellte ich zu meinem Erstaunen folgendes fest: infolge der Betätigung der Zündvorrichtung war die oben beschriebene Flasche mit der ätzenden Flüssigkeit ordnungsgemäß zerbrochen. Die Flüssigkeit hatte den Draht zersetzt, der Schlagbolzen war nach vorne geschlagen, aber das Zündhütchen hatte sich nicht entzündet.« Schlabrendorff suchte die Schuld bei den Briten, denn er glaubte, der Zünder sei einer der wenigen Blindgänger, die bei der Endkontrolle durchgerutscht seien. Es war aber auch möglich, dass der Zünder wegen der extremen Kälte über Russland nicht funktioniert hatte.

Eine Woche später, am 21. März, unternahmen Tresckow und Schlabrendorff ihren dritten Attentatsversuch auf Hitler. Anlässlich der Feierlichkeiten zum Heldengedenktag sollte Hitler eine Ausstellung eroberter Waffen im Zeughaus Unter den Linden besichtigen. Um etwaige Fragen zu beantworten, war ein Offizier der Heeresgruppe Mitte zu seiner Begleitung abgestellt.

Diese Rolle übertrug Tresckow Rudolf-Christoph von Gersdorff, einem überaus mutigen 38 Jahre alten Oberst, der freiwillig diese Selbstmordmission übernommen hatte, um Deutschland zu retten. Gersdorff sollte die Bombe mit einem britischen Zehnminutenzünder unter seiner Kleidung verbergen und sich mit Hitler in die Luft sprengen.

Hitler traf pünktlich um dreizehn Uhr in Begleitung von Himmler, Göring und Feldmarschall Wilhelm Keitel, dem Chef des Oberkommandos der Wehrmacht, am Zeughaus ein. Er hielt eine kurze Rundfunkrede und ging dann zum Eingang. Hier begrüßte Gersdorff mit erhobener rechter Hand den Führer und löste gleichzeitig mit der linken den chemischen Zünder aus.

Während die Säure sich durch die Drähte fraß, versuchte Gersdorff so nah wie möglich bei Hitler zu bleiben. Doch als habe dieser eine Vorahnung von Gersdorffs Absicht, weigerte er sich stehen zu bleiben, um Ausstellungsstücke anzusehen. Er durchquerte rasch die Halle und verließ das Zeughaus nach zwei Minuten. Sein rascher Abgang, der seinen Zeitplan durcheinanderbrachte, wurde sogar in London bemerkt, wo die BBC die Radioübertragung abhörte.

Wenige Minuten vor der Explosion eilte Gersdorff in eine nahe Garderobe, um die Selbstmordweste abzulegen. Im Hauptquartier der Heeresgruppe Mitte lauschte Tresckow der Radioübertragung mit einer Stoppuhr in der Hand. Als der Kommentator kurz nach Hitlers Betreten der Ausstellungshalle verkündete, er sei nun zum Ehrenmal gegangen, war Tresckow klar, dass auch dieser Anschlag gescheitert war.

In Berlin hatte Hassell, der von Tresckows Attentatsversuchen nichts wusste, neuen Grund zur Verzweiflung. Am 11. März, zehn Tage vor Hitlers Besuch im Zeughaus, hatte er erfahren, sein jüngerer Sohn Hans Dieter sei an der Ostfront schwer verwundet worden. Eine Kugel hatte die Lunge durchschlagen, und er war in Gefahr, an der Wunde zu sterben. Man hatte ihn in ein Feldlazarett gebracht, und Hassell hoffte, er könne von der Front weggebracht werden. Er machte sich auch Sorgen um seinen älteren Sohn Wolf Ulli, der in Frankreich kämpfte. Aber wenigstens Fey und seine beiden kleinen Enkel Corrado und Roberto waren sicher.

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