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Teil II 3

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»Geheim. AHQ DAF Vorstoß Castello di Brazzà 15.00; 5 Meilen NNO Udine. Ref C.3427.«

Über dem Motorenlärm und dem Krachen und Quietschen der Federung des Jeeps, der mit hohem Tempo die unbefestigte Straße entlangfuhr, hörte man das Rauschen des Funkgeräts, unterbrochen von meist unverständlichen Stimmen.

Robert Foster, der Befehlshaber der Desert Air Force (DAF), fuhr im ersten Wagen, gefolgt von einer Kolonne aus rund fünfzehn Lastwagen mit Motorradeskorte. Sie fuhren nordwärts in Richtung Alpen. Vor ihnen erstreckte sich die gerade weiße Straße, zu beiden Seiten gesäumt von niedrigen Maulbeerbäumen, die in Fächerform beschnitten waren. Am nahen Horizont ragten die immer noch schneebedeckten Berggipfel in den Himmel. Sie erhoben sich aus der Ebene wie eine große Welle kurz vor dem Brechen.

Es war der 12. Mai 1945. Fünf Tage zuvor, als die Deutschen kapitulierten und der Waffenstillstand verkündet wurde, war Fosters Vorgeschobenes Hauptquartier (AHQ) gemeinsam mit dem Allgemeinen Hauptquartier auf halber Strecke auf der Hauptstraße zwischen Venedig und Treviso gewesen. Nun war es auf dem Weg nach Udine, einer mittelalterlichen Stadt in der Provinz Friaul nahe der jugoslawischen Grenze.

Der Tag war windstill und warm gewesen, und die Hitze stieg von der staubigen Straße auf. Mit der kühlenden Abendluft kam der Geruch von wildem Thymian, der auf den Feldern wuchs, und auf dem trockenen Boden bildete sich Tau. Foster lehnte sich zurück und atmete ein. Es war die vierte Verlegung seines Vorgeschobenen Hauptquartiers in einem Monat. Aber diesmal war der Krieg in Europa vorbei.

Für ihn hatte der Krieg mit einem Erfolg geendet. Sechs Wochen zuvor hatte er die Operation Bowler geleitet, eine der schwierigsten Bombardierungen in Italien. Das Ziel war ein Konvoi deutscher Schiffe, der in der Lagune von Venedig vor Anker lag. Er hatte den Codenamen selbst gewählt. Er hatte sich damit abgefunden, wie groß das Risiko eines Fehlschlags war, und sie mit einem Anflug von schwarzem Humor Operation Bowler genannt, denn er wusste, falls ein anderer Teil Venedigs getroffen würde als der Hafen, wo die Schiffe lagen, würde er seinen Hut nehmen und schmählich ins Zivilleben zurückkehren müssen.

Mit 47 Jahren hatte er eine lange und erfolgreiche Karriere in der Royal Air Force hinter sich. Er war im Ersten Weltkrieg Jagdflieger gewesen und mit zwanzig nach dem Abschuss von fünf feindlichen Flugzeugen mit dem Fliegerkreuz ausgezeichnet worden. Zu Beginn des Zweiten Weltkriegs hatte man ihn zum Befehlshaber des Stützpunkts Wyton gemacht, wo er während der Luftschlacht um England Dienst tat. Es folgten hohe Posten im Kommando Mittelmeer, die in seiner Ernennung zum Befehlshaber der Desert Air Force gipfelten. Seine Rückkehr nach Italien war wie eine Heimkehr, denn trotz seiner Erziehung an der Public School in Winchester und der Militärakademie in Sandhurst war er in San Remo an der Nordwestküste Italiens aufgewachsen, wo sein Vater, ein Arzt, die englischen Gäste des beliebten Kurorts behandelt hatte.

Foster hatte Wochen mit der Planung der Operation Bowler verbracht. Die Frage war, wie man Venedig bombardieren solle. Während die Alliierten noch vor einer so drastischen Maßnahme zurückschreckten, war der Hafen zu einer Drehscheibe feindlicher Schiffsbewegungen geworden. Die Zerstörung des Straßen- und Bahnnetzes in Norditalien bedeutete, dass die Deutschen ihren dringend benötigten Nachschub mit Schiffen nach Venedig transportierten. Dort wurde alles auf Kähne umgeladen und über Kanäle und Flüsse weiter verteilt. Die größte Schwierigkeit bestand darin, dass die Docks in der Südwestecke der Insel lagen, nur 300 Meter vom Canale Grande entfernt. Wohnviertel und unzählige wichtige historische Gebäude und Kulturdenkmäler befanden sich ganz in der Nähe. Wenn man sie schonen wollte, musste man irgendwie einen Plan entwickeln, durch den die Bomben direkt im Hafen landeten, einer Fläche von nur 650 mal 950 Metern.

Am Nachmittag des 21. März hoben die Maschinen um 14.30 Uhr ab. Die Gruppe bestand aus 48 Mustangs und Kittyhawks, eskortiert von einer Staffel Spitfires. Über dem Ziel gingen die Maschinen aus 3000 Meter fast senkrecht in den Sturzflug und warfen ihre Bomben erst in letzter Sekunde ab. Der dramatische Sturzflug gefolgt vom niedrigen Abwurfpunkt war der einzige Weg, um sicherzustellen, dass die Bomben das Ziel genau trafen. In vier Wellen überflogen die Maschinen die Stadt. Die Piloten zielten so genau, dass viele Italiener sich auf den Dächern der Paläste am Canale Grande versammelten und ihnen zujubelten.

In London und Washington wurde die Aktion als spektakulärer Erfolg gefeiert. Keines der historischen Gebäude der Stadt war beschädigt, und der Hafen war völlig zerstört worden und für die Deutschen unbrauchbar. Foster erhielt eine Flut von Gratulationstelegrammen. Eines kam vom Oberbefehlsheber der Royal Air Force für das Mittelmeer und den Nahen Osten, der den ungewöhnlichen Schritt unternommen hatte, eine Beschreibung der »sauberen kleinen Operation« an andere führende Militärs in Whitehall weiterzuleiten.

Die vorausfahrenden Motorradfahrer signalisierten der Kolonne, zu bremsen. Präzise und synchron zeigten sie nach rechts. Vor ihnen lag etwas von der Straße zurückgesetzt ein imposanter Torbogen.

Foster spähte durch die von den Motorrädern aufgewirbelten Staubwolken, um die Burg zu erkennen, deren Bombardierung er einen Monat zuvor spontan verhindert hatte. Er erinnerte sich an das Gelände von den Bildern der Luftaufklärung; die Ruinen einer anscheinend alten Festung und daneben die große Villa. Die etwas entfernten Scheunen und Bauernhäuser und die zurückgezogene Lage zwischen weitläufigen Wäldern und Feldern deuteten auf ein großes Landgut hin. Offensichtlich war es ein prächtiges Anwesen mit angelegten Wegen, die von einem kleeblattförmig angelegten See den weiten Park durchzogen. Er hatte sogar einen Swimmingpool gesehen.

Einen Moment lang war er wieder im Planungsraum außerhalb von Bologna, einem dumpfen, fensterlosen Raum voller Spannung und Zigarettenrauch. In den letzten Tagen der Kämpfe in Italien (die am 9. April mit der letzten alliierten Offensive begannen) war die Desert Air Force eine Rekordzahl von 21 215 Einsätzen geflogen. An einem jener Tage – die nun ineinander verschwammen – hatte ein Adjutant ihm die Bilder der Burg gezeigt. Sie hieß Brazzà, und eine Aufklärungsmaschine hatte sie als Hauptquartier eines deutschen Bataillons identifiziert. Irgendetwas an der Burg erweckte Fosters Interesse; wenn der deutsche Rückzug weiterging, konnte die DAF sie vielleicht übernehmen. Aus einer Laune heraus wies er seinen Adjutanten an, die Burg von der Liste der Bombenziele zu nehmen und als mögliches Vorgeschobenes Hauptquartier beim Vormarsch nach Österreich zu markieren.

Die Zufahrt zur Burg war über einen Kilometer lang. Man konnte nicht sehen, wo sie hinführte; die überhängenden Äste der Bäume beiderseits des Weges erzeugten den Eindruck, durch einen langen Tunnel zu fahren. Während der Fahrt konnte Foster kaum glauben, dass die Burg sein Hauptquartier werden solle. Noch im April hätte er jemandem, der ihm gesagt hätte, er werde sie binnen eines Monats übernehmen, nicht geglaubt. Das Tempo des deutschen Zusammenbruchs hatte alle überrascht. Nur fünfzig Kilometer entfernt wurden auf den Bergpässen nach Österreich Zehntausende Wehrmachtssoldaten von den Alliierten in Pferchen gefangen gehalten.

Ein von Steinkugeln gekröntes Tor war der Eingang zum Anwesen. Hinter einer Reihe von Stechpalmen wurde eine große Villa im palladianischen Stil sichtbar. An den Balkonen und Terrassen traten weiße Urnen im antiken Stil vor dem Schiefergrau des Hauses und dem tiefen Grün der umgebenden Bäume hervor. Die mittelalterliche Burg selbst erhob sich hinter der Villa und war viel stärker zerstört, als auf den Aufklärungsbildern erkennbar. In den hohen Wänden des Bergfrieds klafften Risse, und der befestigte Turm war weitgehend eingestürzt. Efeu und Clematis überwucherten die Steine, und im Garten rund um die Burg blühten die Rosen blassgelb, aprikosenfarben und scharlachrot.

Bei diesem Anblick musste Foster lächeln. Es war der schönste Ort, den man sich vorstellen konnte. Wieder hatte der Vorteil der Luftaufklärung dazu geführt, dass sie das Allgemeine Hauptquartier bei der Suche nach dem besten Standort übertrumpft hatten.

Es waren noch ein oder zwei Stunden bis Sonnenuntergang. Foster ließ den Offizier, der die Verlegung kommandierte, das Abladen der Lastwagen beaufsichtigen, während er die Burg und das Gelände erforschte.

Rasch ging Foster zur Farm, um sich nach der langen Fahrt die Beine zu vertreten. Kein Mensch war zu sehen. Das ganze Anwesen mit seinen Scheunen und Nebengebäuden – das rund vierzig Hektar Land umfasste – wirkte verlassen und vernachlässigt. Als er näher kam, sah er, dass die Gebäude in schlechtem Zustand waren; auf den Dächern fehlten Dachschindeln und Fensterscheiben waren zerbrochen. Hier und da standen Landmaschinen rostend in einer Ecke. Der Ort wirkte seit Langem verlassen.

Während er aber die Innenhöfe und engen Durchgänge zwischen den Gebäuden durchquerte, hatte er das unbehagliche Gefühl, es sei jemand da. Die Tore einiger Scheunen standen offen, und Landwerkzeuge waren an die Wände gelehnt – Sensen und Hacken mit schimmernden Klingen, als habe sie gerade jemand gesäubert. Eine Reihe von Stühlen und manchmal ein einzelner Stuhl standen draußen und zeigten an, dass eine Gruppe oder ein einzelner Mensch gerade dort gesessen hatten. Als er an einer Reihe von Landarbeiterhäuschen vorbeikam, bemerkte er Pflanzen und Küchenutensilien auf den Fensterbänken.

Die geisterhafte Anwesenheit von Leuten, die er nicht sehen konnte, verunsicherte ihn. Konnten sie ihn sehen? Wurde er beobachtet? In einer solchen Lage war er vorher noch nicht gewesen. Er und sein Stab hatten beim Vormarsch durch Italien einige große Landschlösser besetzt. Man hatte sie willkommen geheißen. Meist hatte der Besitzer oder ein Mitglied seiner Familie sie herumgeführt. Wo aber also die Besitzer der Burg? Die seltsame Leere und die Verwahrlosung des Anwesens deuteten auf nur kurz zurückliegende düstere Ereignisse hin.

Foster ging auf demselben Weg zur Villa zurück. Als er an dem halbmondförmigen Blumenbeet im Zentrum des Hofs vorbeikam, sah er, dass jemand hindurchgefahren war. Die Reifeneindrücke waren noch frisch, und die Blumen lagen zerdrückt in den Reifenspuren. Er nahm an, die Deutschen hätten ihre Lastwagen beim Abzug rückwärts vor den Hauseingang gefahren, um sie zu beladen.

Die Haustür stand halb offen. Er schob sie auf und betrat eine große Eingangshalle. Handgemalte Landkarten aus dem 16. Jahrhundert, Silberteller und ausgestopfte Antilopenköpfe mit spiralförmigen Hörnern zierten die Wände. In einer Ecke kam man hinter einem Gewölbebogen zu einer Steintreppe, die zum piano nobile führte, der Wohnetage.

Die Stufen waren breit und flach. Am schmalen oberen Treppenabsatz befand sich eine dicke getäfelte Tür, eingefasst mit filigranen Mustern. Foster erwartete, die Tür werde verschlossen sein, aber sie öffnete sich zu einer Reihe miteinander verbundener Zimmer entlang der ganzen Länge der Villa. Das erste war vollkommen quadratisch. Obwohl es aber gut eingerichtet war und auf drei Seiten einen Blick auf die Gärten bot, war es sparsam möbliert. Das einzige bedeutende Möbelstück war eine edle Glasvitrine, in der man Porzellan und Silber aufbewahren konnte. Er ging hin und sah an den Rändern im Staub, dass die Fächer erst vor Kurzem geleert worden waren. Hatten die Deutschen den Besitz der Hauseigentümer geplündert? Oder hatten die Eigentümer selbst ihre Wertsachen in Sicherheit gebracht? Auch an den Wänden fehlten Bilder. Leere Flächen zeigten, dass dort einmal Familienporträts und Landschaftsansichten gehangen hatten.

Alle anderen Zimmer waren groß, mit poliertem Holzparkett und wundervoll geschnitzten Kaminsimsen. Die Wände waren in hellen Farben gekalkt – Ocker, Aquamarin und Pistaziengrün. Es gab aber keinerlei persönlichen Besitz; nichts deutete an, wem das Haus gehörte oder welches Leben die Besitzer geführt hatten. Die fast andächtige Stille und die nachlässige Anordnung der wenigen Möbel erinnerten an die tote Atmosphäre eines Museums.

Als Foster die Galerie entlangging, die beide Flügel des Hauses verband, schreckte ihn plötzlich ein kratzendes Geräusch auf, das aus der Etage darüber kam. Rechter Hand führte eine schmale Treppe hinauf, und als er hinaufging, wurde das Geräusch lauter. Er hatte keine Ahnung, was es sein könne. Das Einzige, was ihm ähnelte, hatte er einmal in Afrika gehört; es erinnerte ihn daran, wie nach einem Sandsturm ein Teppich auf dem Rasen ausgebürstet worden war.

Die Treppe öffnete sich in einen riesigen, siebzig Meter langen Raum, der das gesamte Obergeschoss einnahm. Sofort war die Ursache des Geräuschs klar. Mit über zwanzig Tischen hatte man den Raum in eine provisorische Seidenfabrik umgewandelt, und Tausende Seidenwürmer fraßen Maulbeerblätter. Manche der Raupen waren geschlüpft, und auf den Tischen an den Fenstern flatterten die Motten gegen die unteren Scheiben, um ans Licht zu kommen. Offensichtlich wurden sie von irgendjemandem gefüttert, aber auch von diesen Personen gab es keine Spur.

Foster drängte sich an den Tischen vorbei zu einem Fenster. Die Berge waren jetzt blau, überglänzt vom Gold der letzten Sonnenstrahlen. Im Süden lag das Meer am Horizont – die Lagunen östlich von Venedig. In Richtung von Tarcento sah man die Glockentürme vieler Dörfer auf den Hügeln. Etwas näher – vielleicht anderthalb Kilometer entfernt – markierte eine Reihe von Pappeln die Hauptstraße nach Udine. Zwischen den Bäumen sah er den Verkehr. Er bewegte sich ausschließlich von Osten nach Westen.

Wenige Stunden zuvor war er selbst auf dieser Straße gefahren. Die Kolonne war durch eine Reihe von Karren aufgehalten worden. Sie waren hoch mit Möbeln und Getreidesäcken beladen, in denen die Besitztümer der Familien steckten, die hinter ihnen her gingen. Mütter hatten Säuglinge auf dem Arm, und es gab Gruppen müder Kinder und älterer Verwandter, von denen einige auf den Karren auf Betten lagen oder auf Stühlen saßen. Die Karren waren eine bunte Mischung gewesen, Einspänner und leichte Kutschen, sogar alte Kaleschen mit Holzrädern und offene Zweispänner.

Foster hatte die Lageberichte des Allgemeinen Hauptquartiers gesehen. Die Familien flohen aus ihrer Heimat im Osten der Provinz. Dieses Niemandsland, wo Italiener wie auch Slowenen wohnten, war ein umstrittenes Gebiet, das die Alliierten Italien zugesprochen hatten, um es für seinen Seitenwechsel im Ersten Weltkrieg zu belohnen. Nach Jahren der Verfolgung durch Mussolinis Faschisten forderten die Slowenen, alle hier lebenden Italiener als Faschisten zu brandmarken und das Gebiet Jugoslawien zuzuschlagen.

Schon jetzt hatten jugoslawische Truppen unter Marschall Tito die Grenze überschritten und terrorisierten Städte und Dörfer. Über tausend Italiener waren spurlos verschwunden und Hunderte festgenommen und in Konzentrationslager deportiert worden, die zuvor von den Faschisten betrieben wurden. In einigen Städten hatten Armeepatrouillen fast die gesamte Bevölkerung festgenommen. Sie hielten sie in provisorischen Gefängnissen fest, wo Männer zwischen 18 und 65 systematisch ausgehungert wurden, bis sie sich freiwillig zu Titos Armee meldeten.

Von seiner Position aus konnte Foster den Landschaftsgarten sehen, der sich bis zur Straße erstreckte. Seine Schönheit und Ruhe war unendlich weit entfernt von den Schrecken, die die Menschen erlebten, die jenseits der Pappeln vorbeizogen, und den vielen Morden, die Norditalien heimsuchten.

Bis wir uns wiedersehen

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