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Begegnung auf dem Hauptfriedhof Wolfenbüttel
ОглавлениеVom Hotel in Frankfurt aus habe ich Martina angerufen und sie informiert, dass ich am nächsten Tag mit dem Zug nach Hause kommen würde.
„Kann dein Agent dich diesmal nicht mitnehmen?“, fragte sie.
„Nein“, erwiderte ich leichthin. „Übrigens, nicht dass du dich erschreckst, ich komme mit einem eingegipsten Arm.“
„Oh Gott“, meinte sie, „dann war euer Unfall wohl doch etwas heftiger. Aber sonst ist alles ok?“
„Ja“, sagte ich nur. Was tatsächlich passiert war, wollte ich ihr lieber erklären, wenn ich zu Hause war.
In dieser Nacht habe ich kaum geschlafen. Immer wieder durchdachte ich die Ereignisse der letzten Tage und suchte nach einer harmlosen Erklärung für alles. Vor allem aber legte ich mir immer wieder neu die Worte zurecht, mit denen ich Martina alles berichten wollte. Sie sollte sich nicht zu sehr aufregen und sich schon gar nicht irgendwelche überflüssigen Sorgen machen. Erst gegen Morgen fiel ich in einen unruhigen Schlaf. Im Traum stand ich im Halbdunkel unversehens vor einem Bühneneingang. Mein Verleger klopfte mir leicht auf die Schulter: „Zeit für Ihren Auftritt!“ Ich fasste mich und trat festen Schrittes auf die Bühne hinaus. Aber anstatt in helles Rampenlicht einzutauchen und – wie üblich – vom höflichen Beifall eines erwartungsvollen Publikums empfangen zu werden, war ich plötzlich von völliger Dunkelheit umhüllt. Nur ein leises Rascheln war zu vernehmen. Erst allmählich konnte ich Gestalten ausmachen, die sich langsam durch den Raum bewegten. Menschen, die ich nicht kannte und die Dinge sagten, die ich nicht verstand...
Zuerst hat Martina reagiert wie immer, wenn etwas Schlimmes passiert ist: Vollkommen ruhig und auf das konzentriert, was nun als Erstes zu tun war. Sie zog mir mein Hemd aus, inspizierte meinen eingegipsten Arm und klebte mir ein frisches Pflaster auf die immer noch deutlich sichtbare Platzwunde über dem linken Auge. Währenddessen versuchte ich, in Ruhe und der Reihe nach zu berichten, was geschehen war, und ihr nochmal zu erklären, dass ich ihr das alles nicht schon am Telefon hatte eröffnen wollen, um sie nicht unnötig zu beunruhigen. Erst, als wir beim Abendessen saßen, ging es los:
„Ich verstehe dich nicht! Du hast mir was von einem kleinen Unfall erzählt, und als ich nachgefragt habe, hast du sogar noch gesagt, es wäre nichts weiter passiert! Und das, obwohl gerade dein Freund Michael ums Leben gekommen war. Du hast mich also hemmungslos belogen, was du noch nie getan hast – soweit ich weiß. Nicht mal deine Stimme hat gezittert dabei. Ja, bist du denn völlig gefühllos? Ich erkenne dich gar nicht wieder!“
In der tiefen Stille, die diesem Ausbruch folgte, war mir plötzlich, als würde ein Schalter umgelegt. Auf einmal war ich hellwach. Wie aufgeweckt aus einer langen Trance. Ja, es klingt verrückt, aber erst in dem Moment habe in aller Klarheit realisiert, dass Michael wirklich und endgültig tot war. Und dass das auch meine Schuld war! Ich versuchte es ihr zu erklären:
„Du, bei diesem ersten Anruf stand ich noch voll unter Schock. Man hatte mir zwar gesagt, dass Michael diesen Unfall nicht überlebt hatte. Aber meine letzte und einzige Erinnerung war, dass er neben mir sitzt und plaudert. Er hat sogar Witze gemacht. Dass vielleicht der Papst ein Vorwort für mein Buch schreiben könnte und so... Alles danach, und dass er angeblich tot war, das habe ich nur wie hinter einer Glasscheibe wahrgenommen. Oder wie auf einer Leinwand. Ein Film, der mit meiner Realität nichts zu tun hatte.“
„Aber wir haben danach doch noch ein oder zwei weitere Male telefoniert. Spätestens dann hättest du doch etwas sagen können. Das heißt, eigentlich hättest du dich sowieso gleich in den Zug setzen und nach Hause zurückkommen müssen, statt da auf der Messe rumzulaufen und zwischendurch sogar noch auf irgendwelche ‚witzigen Veranstaltungen‘ zu gehen!“
„Du hast recht“, gab ich zu. „Vielleicht habe ich durch diesen Unfall doch so eine Art Trauma abbekommen. Ich wusste nur, was Michael und ich uns auf der Buchmesse vorgenommen hatten, und als ich dann dort war, habe ich das Programm automatisch so abgespult. Es war wie ein Versprechen, das man einhalten muss.“
Martina schwieg eine Weile. Dann fragte sie plötzlich: „Weißt du, wann und wo er beerdigt werden wird?“
„Wieso? Echt keine Ahnung.“
„Es ist doch wohl das mindeste, dass du einen Kranz schickst. Schließlich hat er diese Fahrt nicht zuletzt deinetwegen unternommen. Weißt du, ob er ursprünglich aus Berlin ist?“
Ich überlegte.
“Also, unterwegs – in der Nähe von Hannover – hat er erwähnt, dass er erst vor kurzem mal wieder in der Gegend gewesen war. In Wolfenbüttel. Zur Beerdigung seiner Mutter. Nehme an, dass er dann wohl von dort stammt. Aber was bringt uns das jetzt?“
„Männer!“, sagte Martina. „Dann wird wahrscheinlich auch er in Wolfenbüttel beerdigt.“
Erst da nahm bei mir der Gedanke Gestalt an, dass es doch eigentlich angemessener wäre, wenn ich bei der Trauerfeier dabei wäre, statt nur einen Kranz zu schicken.
„Dann sollte ich vielleicht sogar hinfahren zu dieser Beerdigung“, sagte ich.
Martina zögerte. „Ich weiß nicht so recht. Irgendwie habe ich da so ein komisches Gefühl. An deiner Stelle würde ich mich in nächster Zeit völlig unauffällig verhalten und nichts unternehmen, was irgendwie mit dem Unfall oder deinem Buch zu tun hat. Eigentlich ganz gut, dass wir bald erst mal eine Weile weg sind.“
Damit spielte sie auf unsere große ‚Nostalgiereise‘ an, die wir zwei Wochen später antreten wollten. Ich fand, jetzt übertrieb sie mal wieder ein wenig. So seltsam das ein oder andere gewesen sein mochte, einen wirklich konkreten Anhaltspunkt dafür, dass es sich nicht um einen ganz normalen Unfall gehandelt hatte, oder dass dieser Gregor Neumann mehr war als ein etwas seltsamer oder jedenfalls undurchschaubarer Mensch, hatten wir doch eigentlich nicht. Das sagte ich dann auch.
„Jetzt solltest du jedenfalls erst mal bei der Lokalzeitung in Wolfenbüttel anrufen“, meinte sie daraufhin nur. „Vielleicht gibt dir dort jemand Auskunft, ob es eine Traueranzeige für Michael in diesem Blatt gegeben hat. Und da wird üblicherweise dann auch der Tag und genaue Ort der Trauerfeier genannt. Ach, lass mal, ich mach das schnell selber.“
Wenig später hatte sie bei einer lokalen Gärtnerei, die ihr von der hilfsbereiten Dame von der Wolfenbütteler Zeitung empfohlen worden war, einen Kranz bestellt, der pünktlich zu der zwei Tage später angesetzten Beerdigung an die Grabstätte geliefert werden würde. Auf der Schleife nichts als mein Vorname. Als wir ins Bett gingen, sagte ich ihr dann, dass ich mir schäbig vorkäme, nur so einen anonymen Kranz zu schicken. Michael wäre zwar wohl auch ohne mich nach Frankfurt zur Buchmesse gefahren. Trotzdem hätte ich das Gefühl, es ihm schuldig zu sein, ihm persönlich ein letztes Geleit zu geben. Schließlich war ich der letzte gewesen, mit dem er zusammen war.
„OK!“, sagte sie schließlich. „Aber den Kindern sagen wir erstmal nichts von alldem. Wir wollen sie nicht unnötig beunruhigen.“
Zum Glück war die Beerdigung erst gegen Mittag angesetzt, so dass ich am gleichen Tag hin- und anschließend auch gleich wieder zurückfahren konnte. Ich parkte meinen Wagen am Rand der B 79, die direkt an der Rückseite des Friedhofs entlangführt, und wartete ab, bis ich sicher sein konnte, dass die Trauerfeier in der Friedhofskapelle begonnen hatte. Ich hatte Martina versprochen, mich dort nicht mit hineinzusetzen und mich überhaupt unauffällig im Hintergrund zu halten. Als ich mich der Kapelle näherte, hörte ich, dass schon die Orgel spielte. Ich schlenderte langsam zwischen den Gräbern in der Nähe der Kapelle herum, um den Aufbruch des Trauerzuges nicht zu verpassen, da ich nicht wusste, wo auf diesem weitläufigen Friedhof Michael seine letzte Ruhestätte finden würde. Ein untersetzter, kräftig wirkender Herr im dunklen Trenchcoat, der trotz des bedeckten Himmels eine Sonnenbrille trug, war die einzige Person, der ich unterwegs begegnete. Als das letzte Orgelstück verklungen war, positionierte ich mich ein Stück entfernt von der Kapelle, aber so, dass ich das Portal im Auge hatte.
Es dauerte noch eine ganze Weile, bis sich endlich die bronzebeschlagenen Türflügel öffneten. Als erstes erschien der Pfarrer. Michael war offenbar evangelisch gewesen. Es folgten die sechs Träger mit dem schlichten Sarg und dahinter die Trauergäste. Erstaunlich viele. Der alte Herr an der Spitze des Trauerzuges musste Michaels Vater sein. Eine gewisse Ähnlichkeit war unverkennbar. Er machte einen vollkommen abwesenden Eindruck. Wie ich wusste, hatte er ja erst vor kurzem auch schon seine Frau verloren. Die Frau, die ihn stützte, war wohl eine Tante von Michael. Dann kamen weitere Tanten und Onkel, nähere Verwandtschaft jedenfalls. Dann eine ganze Reihe jüngerer Leute. Hauptsächlich wohl ehemalige Schulkameraden, Studienfreunde oder sonstige Bekannte Michaels. Darunter sicher auch der ein oder andere aus seinem beruflichen Netzwerk: Autoren oder Mitarbeiter einschlägiger Verlage. Nein, so günstig die Gelegenheit auch war, für mich war dies weder der richtige Zeitpunkt noch der rechte Ort, um entsprechende Kontakte zu knüpfen. Ich wollte mich schon abwenden, weil ich den Trauerzug auf einem parallel verlaufenden Weg begleiten wollte, statt mich ihm unmittelbar anzuschließen, da trat noch jemand aus dem Dunkel der Kapelle: Ein älterer korpulenter Herr mit polierter Glatze und feistem Pausbackengesicht. Der Mann, der mir in Frankfurt auf dem Messeempfang aufgefallen war und den ich für den Verleger Josef Altzinger gehalten hatte! Damit hatte ich offenbar richtig gelegen. Aber dass der Chef des Wagenburg Verlags extra zu dieser Trauerfeier angereist war, kam mir nun doch etwas merkwürdig vor. Michael konnte für ihn als Autor oder kleiner Literaturagent kaum sonderlich wichtig gewesen sein. Die beiden waren ja auch nur ein einziges Mal persönlich zusammengetroffen, wie ich von Michael wusste.
Altzinger musste meinen Blick bemerkt haben. Jedenfalls schaute er auffällig lange in meine Richtung. Aber das hatte sicher nichts zu bedeuten. Er konnte ja gar nicht wissen, wie ich aussah. Wahrscheinlich hatte er nicht mal mein Manuskript zu sehen bekommen, weil Neumann es allem Anschein nach abgefangen hatte. Trotzdem kroch mir ein unangenehmes Kribbeln den Rücken hoch bis ins Genick, als er mich so ansah. Ich musste an Martinas Warnung denken. Inzwischen hatte sich der Trauerzug schon ein ganzes Stück weit entfernt. Altzinger beeilte sich aufzuschließen, nachdem er sich nochmal kurz zu mir umgedreht hatte. Ich nahm den Parallelweg, wie geplant, aber in noch größerem Abstand als ursprünglich beabsichtigt. Ich trat erst von der Seite an die vorbereitete Grabstätte heran, als alle anderen bereits am Fuß der Grube Aufstellung genommen hatten, neben der inzwischen auch der Sarg schon abgestellt war. Auch Altzinger stand etwas abseits, aber auf der anderen Seite des Grabes. Immerhin nahe genug, dass ich seine schnaufenden Atemzüge hören konnte. Der Fußweg von der Kapelle hierher hatte ihn wohl etwas angestrengt. Ich sah, wie einer der jüngeren Leute aus dem Trauerzug zu ihm hinübergrüßte – offenbar auch jemand aus der Buchbranche. Altzinger nickte nur kurz zurück. Von sich aus machte er keinerlei Anstalten, mit irgendjemandem aus der Trauergemeinde Kontakt aufzunehmen.
Während der Pfarrer seine Gebete sprach, stellte ich mir vor, was von Michael noch übrig sein mochte in diesem Sarg vor mir. Wie man mir im Krankenhaus gesagt hatte, war der Unfallwagen vollkommen ausgebrannt. Ich hatte eigentlich mit einem Urnenbegräbnis gerechnet. Vielleicht aber hatte sein Vater mit dieser Form des Begräbnisses den Gedanken an dieses Ende seines Sohnes einfach nur von sich schieben wollen. Völlig ohne Regung stand er vor der Grube, sein Gesicht grau und eingefallen. Ich hatte seinen Sohn ja kaum gekannt, aber seinem in Trauer versunkenen Vater fühlte ich mich auf einmal sehr nahe.
Ich bemerkte, dass plötzlich noch jemand neben mir stand. Mit einem kurzen Seitenblick stellte ich fest, dass es der Mann mit dem Trenchcoat und der Sonnenbrille war. Inzwischen ließen die Träger den Sarg auch schon in die Grube hinab. Anschließend nahm Michaels Vater, von einer Verwandten gestützt, mit einer kleinen Schaufel, die man ihm zugereicht hatte, etwas von dem vorbereiteten Erdhaufen auf. Mechanisch trat er zwei Schritte vor und ließ den Erdbrocken auf den Sarg fallen. Es gab ein polterndes Geräusch. Diesen Ritus hatte ich schon immer barbarisch gefunden. Aber unerbittlich griff jetzt ein Trauergast nach dem anderen zu der Schaufel. Der Herr im Trenchcoat beugte sich zu mir herüber und fragte leise, ob ich den Verstorbenen näher gekannt hätte. Ich fand das etwas aufdringlich und schüttelte nur wortlos den Kopf. Das schien ihn aber nicht zu stören.
„Wissen Sie, wie er ums Leben gekommen ist? Er war ja noch ziemlich jung.“
Bei diesem Wort wies er verstohlen auf das Datum auf dem Holzkreuz am Kopfende des Grabes. Mir fiel zum ersten Mal seine bayerisch gefärbte Aussprache auf. Ich sah mir den Mann jetzt etwas näher an. Er mochte so um die Fünfzig sein. Seine kurzen lockigen Haare waren noch tiefschwarz, aber vielleicht färbte er sie auch schon. Was suchte dieser Typ hier überhaupt, wenn er nicht mal wusste, um wen hier getrauert wurde? Gab es etwas sowas wie Trauer-Voyeure?
„Autounfall“, sagte ich nur.
„Waren Sie etwa dabei?“ Dabei warf er einen Seitenblick auf meinen Gipsarm.
Ich nickte kurz und warf ihm dabei einen Blick zu, der ihm zeigen sollte, dass ich seine Fragerei ziemlich ungehörig fand. Tatsächlich gab er sich nun erst mal zufrieden. Etwas auf der anderen Seite des Grabes schien dann aber seine Aufmerksamkeit zu erregen. Ich folgte seinem Blick. Altzinger war verschwunden! Kurz vorher war mir noch aufgefallen, dass der erneut interessiert beobachtet hatte, wie ich mich mit meinem Nebenmann unterhielt. Seltsam, wo er sich doch sonst für niemanden hier zu interessieren schien. Jedenfalls hatte sich nun auch die Idee erledigt, die mir auf dem Weg von der Friedhofskapelle hierher zum Grab kurz durch den Kopf gegangen war: Altzinger vielleicht nach Ende der Trauerfeier abzupassen und doch noch auf mein Manuskript anzusprechen. Hätte ich doch auf diese Weise und gerade an diesem Ort doch noch vollenden können, wofür Michael und ich überhaupt nach Frankfurt gefahren waren. Mein Ärger über den Typ neben wir wurde bei diesem Gedanken nur noch größer.
„Dürfte ich sie nochmal kurz unter vier Augen sprechen“, hörte ich den jetzt sagen, ausgesprochen höflich diesmal, aber mit einem sehr bestimmten Ton in der Stimme. Er wandte sich zum Gehen, offensichtlich in der Erwartung, dass ich ihm folgen würde. Tat ich dann auch. Ich hatte meinem Bedürfnis Genüge getan, Michael meinen letzten Respekt zu erweisen, und mehr hielt mich hier nicht. Die Sonnenbrille wartete ein paar Schritte weiter unter einem Baum. Als ich den mysteriösen Herrn erreichte, blickte er sich um, ob auch niemand in der Nähe war und stellte sich dann vor:
„Leuthäuser, Bundeskriminalamt. Verzeihen Sie, dass ich mich so an Sie herangemacht habe. Aber ich bin dienstlich hier und würde Ihnen gern noch ein paar Fragen stellen.“
„BKA, verstehe“, sagte ich. „Gerion, vormals AA – also gewissermaßen Kollege.“
Dabei fingerte ich eine der Visitenkarten heraus, die ich schon für unsere China-Reise hatte drucken lassen und von denen ich aus alter Gewohnheit schon einige in meiner Jackentasche verstaut hatte. Der BKA-Mann sah sie sich näher an und schien sichtlich beeindruckt zu sein, als er die chinesische Fassung auf der Rückseite entdeckte.
„Ich stehe Ihnen natürlich zur Verfügung“, sagte ich. „Fürchte allerdings, dass ich Ihnen kaum werde weiterhelfen können. Der Einzige, den ich auf dieser Trauerfeier näher kannte, ist der Verstorbene. Und auch den habe ich erst vor wenigen Wochen kennengelernt. Hat Ihre Anwesenheit hier etwas mit dem Unfall zu tun?“
„Sie werden verstehen, dass ich Ihnen zum Inhalt meiner Ermittlungen keine Auskunft geben darf“, erwiderte Leuthäuser. „Aber wie Sie schon meinen Fragen eben entnehmen konnten, weiß ich über den Verstorbenen oder diesen Unfall so gut wie nichts. Was mich interessieren würde, wäre vielmehr, ob Sie irgendetwas über die Beziehungen des Toten zu irgendeiner der anderen Personen wissen, die bei diesem Begräbnis eben anwesend waren.“
„Das einzige, was ich ihnen dazu sagen kann ist, dass Michael, also der Verstorbene, beruflich gelegentlich mit dem rundlichen Herrn zu tun hatte, der uns gegenüber auf der anderen Seite des Grabes stand und ebenso plötzlich verschwunden ist.“
Das schien den BKA-Mann nicht zu überraschen. Daraus musste man wohl schließen, dass tatsächlich Altzinger seine eigentliche Zielperson war.
„Und worum ging es bei dieser ‚beruflichen Beziehung‘?“, fragte er nach.
„Um Literatur – im weitesten Sinne“, antwortete ich.
„Wie darf ich das verstehen – im weitesten Sinne?“ Ein kurzes Grinsen huschte über sein Gesicht.
„Verstehen Sie mich nicht falsch“, erklärte ich rasch, „Michael, also der Herr Gräber, hat seit einiger Zeit als Literaturagent gearbeitet, also versucht, Autoren zu helfen, ihre Bücher an Verlage zu vermitteln. Aber dabei ging es nicht um Romane oder sowas, woran man ja wohl immer als erstes denkt, wenn von Literatur die Rede ist. Er war auf theologische oder philosophische Fachliteratur spezialisiert.“
„Verstehe“, sagte Leuthäuser gedehnt. Er klang ein wenig enttäuscht. „Ihr Herr Gräber war also nicht bei diesem Herrn oder seiner Firma angestellt oder hat irgendwelche Aufträge für ihn erledigt oder irgendwelche Auslandsreisen in seinem Auftrag unternommen?“
„Wie gesagt“, antwortete ich, „ich kannte Herrn Gräber erst seit wenigen Wochen. Aber ich denke, ich kann hundertprozentig ausschließen, dass seine Geschäftsbeziehung zu diesem Herrn mehr als höchst sporadisch gewesen ist und über die reine Vermittlung von Autoren beziehungsweise Manuskripten hinausging. Genau darum ging es übrigens auch bei meiner Beziehung zu dem Herrn Gräber.“
„Heißt das, das auch Sie selbst den Herrn Altzinger nicht näher kennen?“, setzte mein Gegenüber die Befragung fort.
„So ist es“, bestätigte ich. „Ich habe sogar nur indirekt geschlossen, dass es sich bei dem Herrn um den Verleger des Wagenburg Verlags handelt, da eine geplante Begegnung mit ihm wegen des Unfalls nicht zustande gekommen ist.“
Immerhin hatte der Herr Kommissar mir mit seiner Frage nunmehr endgültig bestätigt, dass der Dicke tatsächlich Altzinger gewesen war, und dass dieser – aus was für Gründen auch immer – das eigentliche Objekt seines Interesses war. Vielleicht war da jetzt sogar noch ein wenig mehr herauszuholen.
„Ich hatte übrigens mal eine interessante Begegnung mit Ihrem obersten Chef“, übernahm ich die Gesprächsinitiative, „genauer gesagt, mit dem Vorgänger Ihres derzeitigen Präsidenten. Der hat uns mal in Peking einen dienstlichen Besuch abgestattet, wo ich ihn bei einigen spannenden Terminen begleitet habe.“
„Interessant“, sagte mein Gegenüber und nahm – nach einem weiteren kleinen Blick in die Runde – jetzt sogar seine Sonnenbrille ab. Sein kantiges Gesicht war eher nichtssagend, aber seine Augen waren von einem auffälligen Stahlblau.
„Übrigens haben Sie mir durchaus ein wenig weitergeholfen. Es ist für uns ja auch schon von Nutzen, wenn wir nur etwas ausschließen können.“
„Freut mich“, gab ich zurück und warf einen Blick auf meine Uhr. „Ich habe heute noch gar nichts gegessen. Und Sie? Ich habe gesehen, gleich gegenüber gibt es ein China-Restaurant. Ich verspreche auch, keinerlei Fragen zu Ihrem dienstlichen Einsatz hier zu stellen. Ich kenne schließlich die Regeln.“
Jetzt schenkte er mir sogar ein freundliches Lächeln. Wenn überhaupt jemals, so hatte er es sicher schon sehr lange nicht mehr erlebt, dass ihn einer seiner Verdächtigten oder Zeugen zum Essen eingeladen hatte.
„Tut mir wirklich leid“, sagte er und langte in seine Manteltasche, um das Handy herauszuholen. „Ich hätte mich wirklich sehr gerne noch etwas länger mit Ihnen unterhalten, aber die Jagd geht weiter – sozusagen. Mein Mann hat in Kürze einen weiteren Termin, bei dem ich wieder in seiner Nähe sein sollte. Drogen und Geldwäsche sind nun mal auch für uns Fahnder ein besonders ...“ Abrupt brach er den Satz ab. „Besten Dank jedenfalls für Ihre freundliche Einladung.“
Er nickte mir – plötzlich wieder ganz dienstlich geworden – kurz zu, und machte sich auf in Richtung Haupteingang des Friedhofs. Offenbar war es ihm etwas peinlich, dass er sich von mir soweit aufs Eis hatte locken lassen. Ich lief langsam auf den Eingang an der Rückseite des Friedhofs zu, wo ich den Wagen geparkt und auch das Chinarestaurant gesehen hatte. Immerhin hatte ich jetzt noch herausbekommen, dass Leuthäuser seine Zielperson offenbar den ganzen Tag beschattete und auch schon wusste, wo er ihn jetzt als nächstes finden würde. Auf seine Bemerkung über Geldwäsche und Drogen konnte ich mir im Zusammenhang mit Altzinger und dessen christlichem Verlagshaus nun allerdings überhaupt keinen Reim machen. Oder ging es auch hier wieder nur darum, ‚etwas auszuschließen‘? War vielleicht Gregor Neumann, den ja schon Michael als ‚nicht ganz koscher‘ bezeichnet hatte, sein eigentliches Ziel? Ging es nur darum, festzustellen, ob der in Altzingers Auftrag arbeitete oder auf eigene Rechnung? Hatte Neumanns etwas seltsames Verhalten mir gegenüber vielleicht auch gar nichts mit meinem Buch zu tun, sondern mit irgendwelchen krummen Geschäften dieses Herrn? War der Unfall möglicherweise doch Gegenstand der Untersuchungen und hatte Leuthäuser mir das aus ermittlungstechnischen Gründen nur nicht preisgeben wollen? So aufschlussreich mein Gespräch eben gewesen war, am Ende warf es doch mehr Fragen auf, als es beantwortet hatte. Erst als ich im China-Restaurant saß und auf meine knusprige Ente wartete, fiel mir ein, dass ich Neumann gegenüber dem BKA-Mann doch hätte erwähnen sollen. Als eine wichtige Person im Kontext der Beziehung Michael – Altzinger, die Leuthäuser so interessiert hatte. Dann wäre Neumann auf jeden Fall schon mal im Protokoll meiner heutigen Aussage aufgetaucht, wenn er nicht ohnehin bereits Gegenstand der Ermittlungen war. Aber hinterher ist man ja immer schlauer...
Jedenfalls konnte ich Martina am Abend berichten, dass es doch gut gewesen war, dass ich an Michaels Beerdigung teilgenommen hatte. Auch für sie war die entscheidende Erkenntnis, die ich mitbrachte ‚irgendwie beruhigend‘: Das BKA hatte den Wagenburg Verlag – und damit wohl zwangsläufig auch Neumann – im Visier, und ich selbst war durch meine Teilnahme an Michaels Beerdigung zumindest ganz am Rande Teil des unter Beobachtung stehenden Umfelds geworden. Am Tag nach meiner Rückkehr aus Wolfenbüttel rief ich nochmals in Mainz beim Verlag an. Vielleicht würde das Gespräch mit diesem Lektor Büchner bestätigen, dass es für das, was ich in Frankfurt erlebt hatte, eine – zumindest was mich betraf – völlig harmlose Erklärung gab. Umso mehr war ich überrascht, als die Dame am Telefon sagte, „Oh, der Herr Büchner arbeitet seit kurzem nicht mehr bei uns. Darf ich Sie mit unserem Herrn Neumann verbinden? Wie war doch gleich Ihr Name?“ Ohne ein Wort beendete ich das Gespräch. Hier war ich endgültig in einer Sackgasse gelandet. Martina hatte wohl doch recht. Es war sicher besser, meine Versuche, das Buch bei irgendeinem Verlag in Deutschland unterzubringen, bis auf weiteres ruhen zu lassen. Insofern kam es mir durchaus gelegen, dass wir erst mal eine Zeit lang weit weg sein würden.