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Bali und Kigali
ОглавлениеUnser Schiff kreuzte derweil durch den Trollfjord. Hieß es jedenfalls. Ich hockte an dem Tischchen unter dem Bullauge und blätterte in meinem Manuskript herum. Draußen war nichts als grauer Nebel zu sehen. Der Kapitän hatte behauptet, so eine ausgeprägte Schlechtwetterperiode hätte er hier oben Ende Juni noch nie erlebt. Die einmalige Landschaft des Fjords, die angeblich da draußen vorbeizog, war unter diesen Umständen jedenfalls kein Grund, es nicht doch noch einmal ernsthaft zu versuchen.
„Ich bin nur der Meinung, die Menschheit sollte sich nicht länger an der Nase herumführen lassen.“
Martina, die es sich inzwischen wieder in der Koje bequem gemacht hatte, blickte nur kurz von ihrem Schmöker auf. „Finde ich auch“, sagte sie. Das Schicksal der Menschheit schien sie nicht sonderlich zu interessieren.
„Ich muss gerade an unseren Urlaub in Bali denken, damals von Manila aus. Und dann heißt es immer, die Religionen wären eine Kraft des Friedens und nur sie könnten ein zivilisiertes Zusammenleben der Menschen garantieren. Uns hätte eine der einzig wahren Religionen damals fast das Leben gekostet.“
„Was erzählst du da?“
„Der Terroranschlag in Kuta Beach, 2002. Über zweihundert Tote! Ich weiß noch, wie entgeistert du mich angesehen hast, als wir, kaum wieder zu Hause in Manila, die Bilder im Fernsehen gesehen haben.“
Endlich legte Martina ihr Buch zur Seite und richtete sich auf.
„Oh Gott, ja. Wenn der Botschafter dich nicht vorzeitig aus dem Urlaub zurückgerufen hätte, wären wir an dem Abend womöglich genau zu der Zeit an der Stelle vorbeigelaufen, wo es passiert ist. Unser Lieblingsrestaurant lag ja genau gegenüber.“
„Oder denk an Ruanda. All das, was uns dieser Jesuitenpriester mit der großen Sonnenbrille erzählt hat, den wir damals in Kigali kennengelernt haben.“
„Das Schlimmste, was ich je gehört habe!“, sagte Martina. Jetzt hatte ich ihre ganze Aufmerksamkeit.
Es war im Mai 1995 gewesen. Geberkonferenz in Kigali zur Sicherung der Finanzierung des geplanten großen Ruanda-Völkermordtribunals. Damit oder überhaupt mit Afrika hatte ich eigentlich gar nichts zu tun. Im Gegenteil. Martina und ich hatten uns damals auf unsere unmittelbar bevorstehende Versetzung nach Tokyo gefreut. In meinem bisherigen Referat hatte ich mich bereits verabschiedet. Unser Umzugsgut war eingepackt. Wir waren nur noch in Bonn, um letzte Termine wahrzunehmen und restliche Einkäufe zu erledigen. Da kam der Anruf aus der Personalabteilung. Der Kollege aus der Zentrale, der Deutschland auf der Konferenz vertreten sollte, sei kurzfristig krank geworden. Die Botschaft Kigali könne niemanden abstellen. Die seien ja alle mit den zahllosen neuen Hilfsprojekten und den damit verbundenen Delegationen und Koordinierungskonferenzen total überlastet. Ich sei doch im Moment gerade frei. Dabei hatte ich in dem Moment alles Mögliche im Kopf, nur keinen Ausflug in die Hauptstadt des ‚christlichsten Landes in Afrika‘. Aber das war ein Angebot von der Sorte, die man nicht ablehnen konnte. Ich freute mich nur, dass Martina bereit war mitzukommen. Sie hatte keine Lust, in der leergeräumten Wohnung auf meine Rückkehr zu warten oder zu meinen Eltern zu fahren, wo wir die Kinder schon ‚geparkt‘ hatten, um ihnen das Umzugschaos zu ersparen. Und ein wenig machte sie sich wohl auch Sorgen, mich da alleine runter zu lassen. Nach all den Horrormeldungen über das, was sich dort kurz zuvor abgespielt hatte.
Es muss gegen Ende unseres drei- oder viertägigen Aufenthalts gewesen sein. Der Mann mit der großen verspiegelten Sonnenbrille war uns schon vorher mehrmals aufgefallen. Nicht nur wegen der Brille, die er selbst in der nicht gerade grell erleuchteten Eingangshalle unseres Hotels nie abnahm. Er hatte sowas Asketisches. Und dann diese auffallend hohe Stirn. Ungewöhnlich war auch gewesen, dass er häufig in der Lobby zu arbeiten schien. Man sah ihn eigentlich immer nur in einem der Sessel in der Sitzecke im hintersten Winkel der Halle, wo er entweder Papiere sortierte und irgendwas aufschrieb. Als ich an jenem Nachmittag von meiner Konferenz zurück ins Hotel kam, sah ich Martina dort bei ihm sitzen. Sie winkte mich herüber und stellte uns einander vor. Er war Jesuitenpriester und arbeitete für seinen Orden in der Flüchtlingshilfe in Addis Abeba. Nach Ruanda war er mit dem Auftrag herübergekommen, zu erkunden, ob es hier vielleicht Ansätze für ein Engagement des ‚Jesuit Refugee Service‘ gab. Martina war mit ihm ins Gespräch gekommen, als sie zufällig mitbekommen hatte, dass er Deutsch sprach.
Der Mann interessierte sich natürlich auch für meine Geberkonferenz und was die aus meiner Sicht ergeben würde.
„Dieses Land wird jetzt zugeschüttet mit Geld“, antwortete ich ihm auf seine Frage, „Allein schon, weil alle ein schlechtes Gewissen haben.“
„Mit Recht“, antwortete er mit Nachdruck.
Er erzählte uns, dass sich auch die deutsche Botschaft nicht gerade mit Ruhm bekleckert hätte. Ein Oberst der deutschen Bundeswehr-Beratergruppe, die damals vor Ort war, hätte dem Botschafter nur wenige Tage vor Beginn des großen Mordens von regelrechten Massakertrainings regierungsnaher Milizen berichtet. Es werde zu einem Massenmord kommen. Der Botschafter hätte das süffisant als ‚Panikmache verrückter Militärs‘ bezeichnet. Die dächten eben immer nur an Leichen. Ein Teilnehmer einer ‚Herrenrunde‘ in der Residenz hatte das unserem Priester gesteckt. Ich habe nur den Kopf geschüttelt, denn dazu konnte ich natürlich nichts sagen. Wir merkten aber schnell, dass es unserem Mann sowieso um etwas ganz anderes ging. Er war bei seiner Erkundungsmission kreuz und quer durch das Land überall auf wahre Horrorgeschichten gestoßen. Schließlich hatte er angefangen, sich Notizen zu machen und systematisch Zeugenaussagen zu sammeln. Das war es also, was er dort in seiner Ecke in der Hotellobby („um dabei unter Menschen zu sein“, wie er uns am Ende anvertraut hat) die ganze Zeit tat: Aus all dem gesammelten Material eine Dokumentation zusammenzustellen, die er dann nachts in seinem Hotelzimmer oben ins Reine tippte. Er war offensichtlich froh, jetzt mit uns auch darüber reden zu können. Es war kaum zu ertragen. Selbst wenn man, wie wir, schon einiges über die monatelange mörderische Raserei in Ruanda gehört hatte. Er kannte Details.
„Jetzt weiß ich wieder: Hyacinthe…“ Martina war inzwischen aufgestanden und starrte hinaus in den undurchdringlichen Nebel.
„Wovon sprichst du?“
„Das Mädchen. Sie hieß so. Sie haben sie in Stücke gehackt, nachdem sie mit ihr fertig waren.“ Martina drehte sich zu mir um: „Weißt du das etwa nicht mehr? Dieser Priester hatte sich sogar ein eigenes Liebesnest eingerichtet. Im Mille Collines, unserem Hotel. Das lag so praktisch gleich um die Ecke von seiner Kirche.“
Endlich kapierte ich, was sie meinte. Das war einer der von unserem Jesuitenfreund dokumentierten ‚Fälle‘ gewesen. In der besagten Kirche hatten Hunderte von Flüchtlingen Schutz gesucht. Der dortige Priester war in Begleitung von Männern einer der Mördermilizen unter ihnen herumspaziert und hatte Tutsi, die er erkannte, laut als Kakerlaken bezeichnet und sie damit zum Abschlachten freigegeben. Eine Reihe besonders attraktiver junger Tutsi-Mädchen und Frauen hatte er dagegen ‚gerettet‘ – gegen das Versprechen, dass sie mit ihm schliefen. Dafür hatte unser Jesuit gleich ein halbes Dutzend Zeugen aufgetan. Darunter eine Mutter, die ihm versichert hatte, dass ihre sechzehnjährige Tochter dem Morden zum Opfer gefallen war, nachdem sie sich geweigert hatte, diesem Priester zu Willen zu sein. Daran, dass das Mädchen Hyacinthe hieß, hatte ich mich aber nun wirklich nicht mehr erinnert.
Dass in Ruanda in dreieinhalb Monaten fast eine Million Menschen hingeschlachtet worden waren – Christen von Christen im christlichsten Land Afrikas, das war für unseren Jesuiten eine Chronik himmelschreienden Versagens der Kirche. Allein der bittere Ton seiner spröden und manchmal brechenden Stimme hatte uns verraten, dass sich hinter den verspiegelten Gläsern seiner großen Sonnenbrille ein Mann verbarg, der aus dem Gleichgewicht geraten war und verzweifelt nach Halt suchte. Wir hatten an jenem Tag bis spät abends zusammengesessen. Er hatte uns auch erklärt, warum ihm seine Dokumentation so wichtig war. Er wollte, dass sich seine Kirche ihrer Verantwortung für das Geschehene stellte. Andernfalls hätte sie ihre Glaubwürdigkeit verspielt und den Glauben verraten.
Martina war in ihrer Rückerinnerung offenbar gerade an der gleichen Stelle angelangt.
„Er ist ja so weit gegangen, die Frage zu stellen, ob jemand überhaupt noch Priester sein könne, wenn er Zeuge solch ungeheuerlicher Taten von Menschen geworden sei, die sich selbst als Christen sähen.“
„Kann ich mich gar nicht mehr so genau dran erinnern“, sagte ich. „Ich weiß nur noch, dass er diesen berühmten Priester erwähnt hat, der zur Zeit der spanischen Eroberung Lateinamerikas die Grausamkeit der ‚christlichen Conquista‘ dokumentiert hat, und dass der trotzdem Priester geblieben wäre. Und er hat was von den Schutzgebieten erzählt, die Missionare des Jesuitenordens damals gegründet haben, um die Indios vor Versklavung zu schützen, und wie erfolgreich sie dort mit ihren Schützlingen gemeinsam blühende Gemeinwesen aufgebaut haben.“
„Ja, und du musstest ihn dann ja unbedingt daran erinnern, dass dieses soziale Experiment am Ende brutal ausgelöscht worden ist.“
„Das weißt du noch? OK. Aber ich hatte nun mal kurz zuvor den Film „Die Mission“ gesehen. Den mit dem tollen Soundtrack von Enrio Morricone. Hatten wir uns den nicht sogar zusammen angeguckt?“
„Deshalb erinnere ich mich ja so gut an deine Bemerkung. Aber ebenso an das anschließende Schweigen unseres Jesuiten. Das hat sich noch bedrückender angefühlt, als seine Aufzählung all dieser Grausamkeiten davor.“
„Trotzdem hat er mir am nächsten Tag, als wir uns von ihm verabschiedet haben, noch einen Durchschlag seiner Dokumentation in die Hand gedrückt – soweit er sie bis dahin schon abgetippt hatte.“
„Die müsstest du doch eigentlich noch irgendwo haben. Oder hast du die etwa weggeschmissen?“
„Das ist bestimmt in irgendeinem Umzugskarton gelandet. Wir sind dann ja gleich anschließend nach Tokyo umgezogen.“
„Dann guck mal, ob du es noch irgendwo findest. Das würde mich ja nun doch noch mal interessieren. Aber jetzt muss ich erstmal an die frische Luft.“
Die Aussicht an Deck war auch nicht besser, als die aus unserem kleinen Bullauge. Nirgendwo Land in Sicht. Es sah aus, als hätte sich unser Dampfer in die Wolken verirrt. Wir kuschelten uns in einen windgeschützten Winkel aneinander.
„Ich glaube, ich weiß, warum unser Priester damals seine Sonnenbrille nie abgenommen hat.“, sagte ich. „Nach allem, was er gesehen und gehört hatte, konnte er der Menschheit einfach nicht mehr ungeschützt in die Augen sehen.“
„Und ich musste gerade an Robert denken. Wie er nach seiner Scheidung von Elisabeth gesagt hat, ihm wäre plötzlich bewusst geworden, er hätte seine Frau eigentlich gar nicht richtig gekannt. Dabei kannten die sich doch schon aus Kindergartentagen.“
So richtig habe ich nicht verstanden, was die Scheidung unseres alten Freundes Robert mit unserem Jesuitenpriester zu tun haben sollte. Aber es wurde uns auch zu kalt da oben an Deck und wir haben es uns erst mal wieder in unserer warmen Koje gemütlich gemacht.
Meine Hoffnung, ich könnte Martina überzeugen, dass mein Buch veröffentlicht werden müsste, indem ich sie an Bali und Ruanda erinnerte, wurde enttäuscht. Sie blieb dabei:
„Wenn du tatsächlich meinst, mit deinem ‚Werk‘ unbedingt an die Öffentlichkeit gehen zu müssen, dann such dir dafür irgendeinen kleinen Fachverlag für Philosophie oder sowas aus. Dann gibt es wenigstens nicht gleich Schlagzeilen in der Bildzeitung.“
„Schade“, sagte ich, „dann wird es wohl so schnell nichts mit Bestseller. Dabei hatte ich schon überlegt, ob wir uns für das Geld nicht lieber eine kleine Villa in der Karibik anschaffen sollten, statt eine Luxuskreuzfahrt zu buchen. Auf den Bahamas ist es zumindest nicht so neblig wie hier.“
Wenigstens diese Idee fand sie „eigentlich gar nicht so schlecht“.
Der Rest unserer kleinen Kreuzfahrt wurde dann aber noch richtig schön. Kurz hinter Bergen kam endlich die Sonne aus den Wolken. Wir konnten mal länger raus aufs Deck und die Abstecher in die Fjorde wurden tatsächlich sehr eindrucksvoll. Das Gefühl, auf dem falschen Dampfer zu sein, stellte sich erst wieder ein, als es in Hamburg von Bord gehen sollte. Aus der Kabine nebenan wackelte ein alter Opa am Krückstock – allein, und offensichtlich schon längst jenseits von Gut und Böse. Entweder hatte es dort gegen Ende einen von uns unbemerkten Wechsel in der Belegung gegeben oder der alte Herr hatte sich die ganze Zeit irgendwelche Pornofilme reingezogen, die er nur bei voller Lautstärke überhaupt noch so richtig mitbekam.
Als wir vom Schiff runter waren, sagte Martina unvermittelt: „Tut mir echt leid.“
„Wieso das denn?“, fragte ich.
„Es war doch dein Geburtstagsgeschenk, und fast die ganze Zeit war das Wetter so schlecht.“
Ich habe sie in den Arm genommen.
„Ich finde, es war eine fantastische Geburtstagskreuzfahrt. Allein, wenn ich an das tolle Fischbuffet denke.“
Kaum waren wir wieder zu Hause, bin ich runter in den Keller. Zuallerunterst, in einem schon seit Jahrzehnten nicht mehr geöffneten Umzugskarton voller Bücher und Papiere, die ich schon längst mal hätte wegschmeißen sollen, habe ich sie ausgegraben: Die Mappe mit den Durchschlägen der Dokumentation über den Völkermord in Ruanda.
Das Wort Hyacinthe habe ich tatsächlich schon auf Seite sieben gefunden. Martinas Gedächtnis für Namen hat mich schon immer beeindruckt. Die Geschichte war sorgfältig dokumentiert. Der Name der Kirche (‚Sainte Famille‘) und dieses Priesters, Namen weiterer seiner Opfer, genaue Zeitangaben zu den einzelnen Vorkommnissen, Namen von Zeugen und ihre Aussagen im Wortlaut – alles ganz sachlich und nüchtern. Unser Jesuitenpriester hat damals wirklich sauber gearbeitet, Seite um Seite. Ich sah unseren Freund mit der Sonnenbrille wieder vor mir, wie er damals Fall um Fall vor uns ausgebreitet hat, hörte wieder, wie manchmal seine Stimme so stockte, genauso wie jetzt beim Lesen mein Blick.
An der Stelle zum Beispiel, wo der Priester einer Gemeinde südlich von Kigali seelenruhig zugesehen hatte, wie Kleinkinder vor seiner Kirche in Jutesäcke verschnürt und in den Fluss geworfen wurden, bevor sich die Mörder mit Macheten über ihre Mütter hermachten, die das hatten mit ansehen müssen. Die Männer und älteren Kinder waren schon Stunden zuvor aus der Kirche getrieben und abgeschlachtet worden.
Beim Bericht eines Überlebenden über den Bischof, der eine Gruppe von 90 Schülern überredet hatte, sich im Speisesaal ihres Internats zu versammeln, da ihnen dort nichts passieren werde. Er hatte gewusst, dass ihre Killer dort bereits warteten.
Beim Fall der zwei Benediktinerschwestern, die siebentausend Flüchtlinge, die sich auf ihr Klostergelände gerettet hatten, den Milizen ausgeliefert hatten. Als alles vorbei war, hatten sie noch mitgeholfen, die Opfer zu verbrennen.
Bei dem Priester, der aktiv Menschen in seine Kirche gelockt hatte, die dann in seinem Beisein mit Bulldozern eingerissen wurde...
An der Stelle, wo die Aussage einer deutschen Ordensschwester protokolliert war, die in Kadiha über hundert Kinder gerettet und in ihre Obhut genommen hatte, da das Morden sie zu Waisen gemacht hatte. Da standen die Namen Dutzender Priester und mehrerer Bischöfe, die nach ihren Erkenntnissen zu Tätern geworden waren.
Eben habe ich dieses über zwanzig Jahre alte knisternde Bündel muffig riechenden Durchschlagpapiers noch ein weiteres Mal durchgeblättert. Es gehört natürlich auch zu der Sammlung von Dokumenten, die ich hierher auf meine Insel mitgebracht habe. Gerade in diesem Fall darf ja nichts in meinem Bericht stehen, das nicht schwarz auf weiß zu belegen ist. Deshalb habe ich mich, bevor ich hierher aufgebrochen bin, auch extra nochmal an meinen Laptop gesetzt und im Internet das ein oder andere nachrecherchiert. Zahlreiche Geistliche aus Ruanda – von Priestern und Ordensleuten bis hin zu Bischöfen – sind tatsächlich wegen Mittäterschaft angeklagt und teilweise auch verurteilt worden. Der Priester der Kirche ‚Sainte Famille‘ in Kigali aber hat sich damals gleich nach Frankreich abgesetzt. Er ist dort weiter als Priester tätig gewesen. Die Kirche hat die besten Rechtsanwälte des Landes angeheuert, die schließlich erreicht haben, dass das letzte Verfahren gegen ihn wegen seiner Rolle im Völkermord im Jahr 2015 eingestellt worden ist. „Hat sicher auch weiter von Liebe und Barmherzigkeit gepredigt“, habe ich zu Martina gesagt, die während meiner Recherche im Internet die ganze Zeit neben mir saß. Auch andere beschuldigte Priester und Ordensleute leben heute noch unbehelligt und im Schutz und im Dienst der Kirche in Frankreich, Belgien oder Italien. Ein Verfahren in Ruanda gegen den Bischof, der die 90 Schüler ihren Mördern ausgeliefert hatte, endete im Jahr 2000 nach massivem Druck aus dem Vatikan mit einem Freispruch. Die deutsche Ordensschwester Milgitha – ganz offensichtlich diejenige, die mehr als hundert Waisenkinder gerettet und unserem Jesuitenpriester zahlreiche Namen in die Morde verwickelter Kirchenvertreter genannt hatte – wurde 2010 aus ihrem Orden der Clemensschwestern ausgestoßen. Wegen Unterschlagung. Sie hatte das schwere Vergehen begangen, Spenden für ihre Waisenkinder direkt vor Ort auszugeben, anstatt sie über ihr Mutterhaus in Deutschland zu leiten. Angeblich lebt sie heute unter erbärmlichen Verhältnissen in Kigali. Unser junger Jesuitenpriester hat sich damals also völlig vergeblich bemüht. Nirgendwo ein Hinweis, dass seine Dokumentation jemals irgendwo veröffentlicht oder auch nur diskutiert worden wäre. Kein Wunder: Der Papst hatte schon 1996 jegliche Mitverantwortung der Kirche für den Massenmord im christlichen Ruanda zurückgewiesen.
„Mein Gott“, hat Martina gesagt, als ich meinen Laptop zugeklappt habe.
„Was hat denn der damit zu tun?“, war meine routinemäßige Antwort.