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Auf dem falschen Dampfer
Оглавление„Ist das hier ein Altersheim, oder was?“
Wir hatten nur schnell unser Gepäck auf das Doppelbett in der Kabine (ohne Außenbalkon, aber immerhin mit einem Bullaugenfenster) geworfen, Martina hatte, wendig, wie sie nun mal ist, schnell noch die Toilettensachen aus der Reisetasche ins Bad geräumt, und jetzt standen wir an der Reling. Mal sehen, was da sonst noch so alles an Bord kam.
„Hast du vergessen, wie alt du selber morgen wirst? Außerdem ist es ausgesprochen stillos, an einem Geburtstagsgeschenk herumzumäkeln.“
„OK. Trotzdem hatte ich mir eine solche Kreuzfahrt irgendwie flotter vorgestellt.“
„Bist halt ein alter Romantiker...“
Martina hatte ja recht. Hatte mich auch wirklich auf diese Schiffsreise gefreut. Aber irgendwie kam ich mir jetzt trotzdem vor wie auf dem falschen Dampfer. Immerhin stürmte in letzter Minute noch eine größere Gruppe Jugendlicher über die Gangway und verschwand unten im Schiff. Alle mit dem gleichen T-Shirt, ein schwarzer Totenkopf vorne drauf, dem in blutroten Lettern „Abi 2016“ auf der Stirn geschrieben stand. Immerhin würde nun doch noch etwas Leben in die Bude kommen.
Schon am ersten Abend zeigte sich allerdings, dass es den frischgebackenen Abiturienten mehr um die Buddel mit Rum ging, als um die christliche Seefahrt. Oder um tätige Nächstenliebe in ihrer reinsten Form, mit Anfassen und so. Das haben wir aber erst bemerkt, als wir nach dem Dinner (super Fischbuffet!) schon in unserer Koje lagen und plötzlich so ein Stöhnen zu uns herüberdrang. Das wiederholte sich noch mal – und noch mal – und jetzt schon wieder. Mit jedem Mal schien es lauter zu werden. Es war nur allzu offensichtlich, was da in der Kabine neben uns abging. Martina tat erst so, als hörte sie nichts. Schließlich aber ließ sie mein Manuskript mit einem seltsamen Seufzer auf die Bettdecke sinken. Dabei war sie noch nicht mal mit dem ersten Kapitel durch und hatte noch mit keinem Wort zu erkennen gegeben, wie sie es fand. Mit einem Anflug von Bedauern musste ich feststellen, dass Geräusche manchmal offenbar inspirierender sind als gedruckte Worte. Und dass hörte ja auch gar nicht auf nebenan. Ich nahm das Manuskript und legte mich quer über das Bett, um den Stapel auf dem Fußboden abzulegen, damit die losen Seiten nicht durcheinandergerieten. Noch während ich Martinas weichen Körper unter mir spürte, war von nebenan ein leises Lachen und gleich darauf ein so lautes Stöhnen zu hören, als wäre das bei uns mitten im Raum. Da war der Funke bereits übergesprungen. Wie heißt es so schön: Man muss die Feste feiern, wie sie fallen. Gerade, wenn man nicht mehr der Jüngste ist. Inzwischen hatte meine Martina ja auch schon begonnen, sich unter der rutschigen Bettdecke zu räkeln und gab dabei so einen wohligen Laut von sich. Da war es mir dann auch egal, dass die Decke ganz aus der Koje flog und meine Manuskriptseiten bestimmt über den ganzen Boden zerstreute. Wir hatten ja noch sechs Tage, und auf diesem Dampfer würde Martina mir nicht entkommen können. Sie würde die dreihundert Seiten also auf jeden Fall durchbekommen. Selbst wenn das Bordprogramm weiter so anregend bleiben sollte. Seltsamerweise kann ich mich an dieses leise Triumphgefühl noch bestens erinnern. Dabei gab es in dem Moment weiß Gott Aufregenderes zu fühlen. Vielleicht, weil Martina offenbar auch etwas bemerkt hatte.
„Hey“, meinte sie, „bleib bei der Sache!“
Inzwischen war es nebenan endlich still. Auch wir lagen bald ruhig umschlungen da, und der ruhige Seegang der nächtlichen Nordsee, begleitet von den pulsierenden Vibrationen, die das Stampfen der Maschinen durch den Schiffsrumpf schickte, wiegte uns sanft in den Schlaf.
Der nächste Morgen begann eher düster. Das schwache Licht der Leselampe und das Rascheln mal zögernd, mal energischer beiseitegelegter Seiten zog mich Stück für Stück aus einem tiefen Traum ohne klare Konturen. Draußen vor dem Bullauge nichts als grauer Dunst. Martina hatte offenbar schon eine ganze Weile in meinem Manuskript geschmökert. So traf mich ihr erster kritischer Kommentar zu meinem Werk schon vor dem Frühstück: „So kannst du das doch nicht schreiben!“
„Wieso nicht? Und was überhaupt?“
„Na, das mit dem Kruzifix. Das ist doch makaber!“
„Aber genau das ist es doch auch.“
„Mag sein, aber das widerstrebt mir einfach, so wie du das ausdrückst.“
So ganz hat meine Martina ihre katholische Erziehung wohl doch noch nicht überwunden. Obwohl sie immer behauptet, dass sie einen direkten Draht zu ihrem Gott hat, das ganze Drumrum mit Jesus und der Jungfrau Maria nicht braucht, und ihr die Wiederauferstehung und letztlich auch die ewige Seligkeit herzlich egal sind, „weil über das Jenseits, wenn es das gibt, sowieso kein Mensch so richtig was wissen kann.“
„OK, dann mach einen Strich dran. Oder meinetwegen ein Kreuz. Überhaupt, streich einfach alles an, was dir auffällt. Auch Tippfehler oder wenn dir etwas nicht klar genug ausgedrückt ist. Ich gehe das alles sowieso nochmal durch.“
Ich drehte mich noch einmal auf die andere Seite. Jetzt war aber öfter das leise Klicken des Kugelschreibers zu hören und wie sie damit irgendetwas markierte oder an den Rand kritzelte. Das schien ihr regelrecht Spaß zu machen. Manchmal, finde ich, übertreibt Martina es ein wenig.
„Komm, wir gehen Frühstücken!“
Ansonsten ist so eine Kreuzfahrt ja doch ziemlich ereignislos. Wir hatten wohl auch nicht gerade die optimale Saison erwischt. Draußen goss es immer wieder in Strömen, und die Küste, an der wir entlangfuhren, hüllte sich die meiste Zeit in Wolken. Im Speisesaal vertrieben wir uns am Anfang noch die Zeit damit, zu raten, welches der Paare, die an den Tischen ringsum ihren Frühstückstoast oder Berge von Rührei und rosigem Lachs in sich hineinschaufelten oder am Abend ihre Schnitzel, Steaks oder Scholle mit Nordseekrabben mit reichlich Bier, Aquavit oder Rum – mit und ohne Cola (all inclusive...) – wohl in der Kabine neben uns wohnte. Wir hatten dort bisher nie jemanden hineingehen oder herauskommen sehen. Die Hauptverdächtigen waren natürlich die jungen Leute mit den Totenköpfen und dem Rum. Aber irgendwie passten die Gesichter nie so richtig zu den Geräuschen, die weiterhin mit einiger Regelmäßigkeit zu uns in die Koje drangen. Schließlich einigten wir uns darauf, dass die ihre Kabine nebenan wahrscheinlich überhaupt nie verließen und nur von Luft und Liebe lebten.
Immerhin aber war Martina unter diesen Umständen notgedrungen schon am dritten Tag durch, und ich erwartete gespannt ihr abschließendes Urteil: „Und?“
„Ja toll!“
„Echt jetzt?“
„Ja, wirklich nicht schlecht. Auch super geschrieben. Aber ehrlich gesagt: Ich fände es am besten, wenn du das Manuskript irgendwo im Keller verstecken und einfach vergessen würdest.“
„Wieso das denn?“
Normalerweise spreche ich nicht so laut.
„Weil ich möchte, dass wir unseren Ruhestand weiter in Ruhe genießen können. Du weißt doch, mit was für einem Shitstorm man in Deutschland rechnen muss, wenn man nur mal ein klein bisschen gegen irgendein Gebot der politischen Korrektheit verstößt. Und wenn es dann auch noch um religiöse Gefühle geht, wird es erst richtig ernst!“
„Was findest du denn hier drin“, ich zeigte auf das Manuskript, „nicht überzeugend? Nenn mir eine Feststellung, die ich nicht bestens begründet habe.“
„Kann ja sein, aber ich hatte gedacht, das mit dem Buch wäre nur ein harmloses Hobby von dir.“
„War es ja auch. Aber jetzt ist es nun mal fertig.“
„Das Leben ist aber kein Spiel und dieses Buch kein harmloser Diätratgeber. Du weißt doch, welchen Einfluss die Kirchen in Deutschland haben. Und die Evangelikalen sind sogar zu Gewalttaten fähig. In Amerika ermorden sie zum Beispiel Abtreibungsärzte!“
„Wir sind hier ja nicht in Amerika. Und Babys abtreiben will ich schon gar nicht!“
„Jetzt werd' nicht albern! Islamisten jedenfalls morden auch hier in Europa. Die erschießen sogar Karikaturisten. Und was du hier schreibst, ist noch viel schlimmer als Abtreibungen oder Karikaturen. Es ist pure Ketzerei.“
„Findest du es etwa normal, dass Leute heute noch glauben, dass man nach dem Tod wieder aufersteht, aber dann zur Strafe für seine Sünden in der Hölle landet, wenn man sich nicht rechtzeitig um Absolution gekümmert hat? Oder dass du als Katholikin daran glauben musst, dass sich bei der Abendmahlsfeier Wein des Jahrgangs 2017 real in das Blut eines Menschen wandelt, der ungefähr im Jahr 23 unserer Zeitrechnung gewaltsam zu Tode gekommen ist? Das sind doch nichts als kuriose Blüten, die ein altpersischer Sumpf hervorgetrieben hat. Ist es nicht Zeit, dass die Menschheit erwachsen wird und diesen Sumpf endlich trockenlegt? Du weißt was ich meine?“
Martina sah mich kopfschüttelnd an.
„Natürlich weiß ich, was du meinst. Ich habe dein Buch ja jetzt gelesen. Na und? Warum musst ausgerechnet du das alles plötzlich zu deinem persönlichen Problem machen? Du hast doch selber noch vor kurzem über ehemalige Kollegen gespottet, die meinen, im Ruhestand unbedingt ihre Memoiren oder sowas schreiben zu müssen, bloß weil sie auf einmal zu viel Zeit haben. Sei doch mal locker, und genieß einfach unsere Kreuzfahrt.“