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China

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Unsere große Reise nach China hatten wir schon Monate zuvor gebucht. Gut ein Jahr nach meiner Pensionierung wollten wir noch einmal eine Rundreise durch das Land machen, das unser erster Auslandsposten gewesen war. Alles in allem hatten wir dort sechs spannende Jahre verbracht. Wir wollten noch einmal die Stätten besuchen, mit denen uns so viele Erinnerungen verbanden. Ein reiner Nostalgietrip also. Wir waren beide voller Vorfreude. Wir wussten ja noch nicht, was uns dort am Ende erwartete.

Am 28.Oktober, nur zehn Tage nach Michaels Beerdigung ging es los. Natürlich fiel Martina gleich das Gewicht meines Handgepäcks auf, als ich die Tasche auf das Laufband vor dem Gepäckscanner hob.

„Mein Gott“, sagte sie, „was hast du denn da schon wieder alles drin? Früher habe ich das ja verstanden, als du immer noch irgendwelche Unterlagen dabeihaben musstest. Aber jetzt, als Pensionär?“

„Ich habe nur noch schnell das Manuskript mit eingepackt“, erwiderte ich im Tonfall größtmöglicher Harmlosigkeit. „Das ein oder andere könnte ich da bestimmt noch verbessern. Und auf der Reise werden wir ja öfter viel Zeit haben. Schon die neuneinhalb Stunden Flug jetzt, dann die Bahnfahrt zum Wutaishan und so.“

„Aha?“, konnte Martina gerade noch sagen, da musste sie schon vor mir durch den Bodyscanner. Anschließend waren wir beide erst mal beschäftigt, die Sachen vom Band zu holen, die Jacken wieder anziehen (Martina auch noch ihre Schuhe, die sie hatte ausziehen müssen), Handy wieder in die Jackentasche, Tablet ins Handgepäck, Geldbörse hinten rein und dann auch noch orientieren, in welche Richtung es zum Gate B 26 ging. Danach kam Martina nicht mehr auf das Manuskript zurück. Sie hatte sicher durchschaut, dass es da bei mir gewisse Hintergedanken gab. Dass sie trotzdem nichts sagte, interpretierte ich als stillschweigendes Einverständnis. Auf dem Weg zum Gate legte ich den Arm um sie und drückte sie kurz. „Endlich geht es los“, sagten wir beide gleichzeitig und mussten lachen, weil uns das ja öfter passiert.

Beim Anflug näherten wir uns ‚unserem‘ Peking wie erwartet von Süden her. Ich hatte extra Sitze auf der linken Seite des Flugzeugs gebucht. Viel früher als damals tauchten die ersten Vorstädte auf. Riesige Cluster eng aneinander gedrängter Hochhäuser, dazwischen Flächen, auf denen sich große Fabrikhallen mit den typischen blauen Dächern aneinanderreihten, alles verbunden durch ein dichtes Netz vielspuriger Autobahnen. Diese Satellitenstädte hatte es so weit draußen selbst bei meinem letzten Anflug von Shanghai aus fünf Jahre zuvor noch nicht gegeben. Richtung Stadtzentrum verdichtete sich das immer mehr zu einem einzigen Wald aus Hochhäusern.

„Da hinten sieht man sogar schon die Westberge“, rief Martina, die sich weit über mich lehnte, um besser sehen zu können. Über dem eigentlichen Stadtzentrum lag dichter Smog, aus dem nur einige der kubistischen und runden Formen der neuen Skyline Pekings herausragten. Aber im Hintergrund erkannte man tatsächlich die vertraute dunkle Silhouette der Berge im Westen der Stadt.

„Weißt du noch?“, fragte Martina. „Unsere Wochenendausflüge damals in den Sommerpalast?“

Sophie erwartete uns schon am Ankunfts-Gate im Terminal 3. Wir machten uns gemeinsam auf den Weg in die Tiefgarage, wo sie ihren Wagen geparkt hatte. Wir kannten sie aus unserer Zeit in Tokyo, wo sie in der Kulturabteilung meine beste Mitarbeiterin gewesen war. Ja, es gefiel ihr echt gut hier in Peking. Diese atemberaubende Dynamik bis in den letzten Winkel des Landes. Sie war erst vor kurzem auf Dienstreise ganz im Südwesten gewesen, hatte viele Strecken davon mit den neuen Hochgeschwindigkeitszügen zurückgelegt. Alles brandneu, hypermodern, blitzsauber und perfekt organisiert. Die Megastädte dort drüben – Chengdu oder Chongqing und selbst das bis vor kurzem noch recht beschauliche Kunming – hatten auf sie vielfach einen moderneren und dynamischeren Eindruck gemacht als das altehrwürdige Peking. Bevor Sophie losfuhr, warf sie noch einen Blick auf ihr Handy. „Ihr habt Glück“, sagte sie. „Die Luftbelastung liegt inzwischen deutlich unter 200. Gestern hatten wir noch Feinstaubwerte über 300 ppm.“

Auf der Fahrt in die Stadt tauchten hinter dem mit Kiefern bewachsenen Streifen links und rechts der Flughafenautobahn bald schon erste Hochhauskomplexe auf, die es fünf Jahr zuvor ebenfalls noch nicht gegeben hatte. Aber als wir vom Airport-Expressway auf den dritten Ring abgebogen waren, am Lufthansa-Center mit dem Kempinsiki-Hotel vorbeifuhren, und dann das Great Wall Hotel in Sicht kam, erschien uns alles plötzlich wieder vertraut.

„Ich mache noch schnell einen Schlenker durch Sanlitun mit euch“, meinte Sophie, als sie unseren ersten kleinen Anfall von Nostalgie bemerkte. „Da seht ihr dann auch schon mal, wo ich wohne.“

„Unglaublich“, meinte Martina, „hier sieht ja alles noch genauso aus wie damals!“

„Bis auf die schicken Bars, Restaurants, Boutiquen und Discos hier ein Stück links runter. Die gabs zu eurer Zeit bestimmt noch nicht“, rief Sophie von vorne.

„Und die Botschaft ist seitdem auch ein paar Grundstücke die Straße weiter runtergerutscht“, ergänzte ich, da wir gerade die Dongzhimenwai-Straße entlangfuhren.

„Ihr wart damals noch in dem alten Botschaftsgebäude?“

„Ja, und der Tayuan Diplomaten-Compound, wo du jetzt wohnst, war gerade erst im Bau.“

„Krass!“, meinte Sophie. „Ich wohne da nur, weil ich von da aus in drei Minuten in der Botschaft bin. Die meisten Kollegen haben sich was Schickeres gesucht. Aber eben weiter draußen.“

Direkt vor dem Tayuan-Compound machte sie kehrt und setzte uns dann vor dem Great Wall ab. Dort wollten wir – natürlich auch wieder aus nostalgischen Gründen – unsere insgesamt zehn Tage in Peking wohnen. „Bis heute Abend“, verabschiedete Sophie sich. „Jetzt wisst ihr ja, wie ihr zu mir kommt.“

Obwohl Martina und mir am Anfang der Jetlag noch etwas zu schaffen machte, wurde es ein langer, anregender Abend – und für mich selbst unerwarteterweise sogar noch ausgesprochen erfolgreich. Nachdem wir erst mal noch von unserer gemeinsamen Zeit in Tokyo geschwärmt und uns gegenseitig auf den neuesten Stand gebracht hatten, was dieser oder jener der dortigen Kolleginnen und Kollegen jetzt machte, erzählte Sophie mehr von ihrer Reise in den Südwesten. Sie hatte es geschafft, mit Hilfe eines Kollegen von der französischen Botschaft, der inzwischen stellvertretender Generalkonsul in Chengdu geworden war, bis nach Larung Gar vorzudringen. Eine von tibetischen Mönchen aufgebaute Klosteruniversität, die innerhalb weniger Jahre auf über zehntausend Studenten angewachsen war. Das interessierte mich natürlich. Zumal dieser Ort vor kurzem sogar in den deutschen Medien erwähnt worden war. Tibet-Aktivisten hatten berichtet, die chinesischen Behörden hätten begonnen, die ganze Ortschaft zu zerstören.

„Zerstören ist gut“, meinte Sophie. Da sei tatsächlich viel abgerissen worden, aber nur, um das Ganze zu sanieren und teilweise völlig neu aufzubauen. Das alles wäre bis dahin völlig wild gewuchert und hätte wohl mehr einem großen Slum als einem Kloster geähnelt. 2014 hatte es sogar eine große Brandkatastrophe gegeben. Inzwischen sähe es für die dortigen Verhältnisse ganz ordentlich aus. Die Hütten und Meditationsbaracken seien saniert und bunt angestrichen, an eine rudimentäre Kanalisation angeschlossen und einigermaßen fachgerecht elektrifiziert. Was sie am meisten gewundert habe: Auch die größeren Tempelbauten seien durchweg aufwendig restauriert, aber teilweise auch abgerissen und an gleicher Stelle originalgetreu wiederhergestellt worden, einschließlich der schönen Goldmalereien.

„Das sieht echt so aus, wie man sich Tibet vorstellt. Obwohl Larung Gar ja noch zur chinesischen Provinz Sichuan gehört.“

„Wie ist das Ganze denn finanziert worden?“, fragte ich. „Hauptsächlich wohl aus Spenden“, erklärte Sophie uns. Wie man höre, sei das Kloster sogar ziemlich vermögend. Aber die Infrastruktur habe zum Teil die Regierung finanziert. Die letzten 80 Kilometer bis zu der Kreisstadt in der Nähe seien sogar vierspurig ausgebaut worden.

„Wie seid ihr überhaupt da hingekommen? Muss man da als Ausländer nicht eine Genehmigung haben?“, wollte Martina wissen.

„Leider ist das Gebiet seit einiger Zeit für Ausländer völlig gesperrt.“ Sophie grinste. „Wir haben es einfach auf gut Glück versucht. Und natürlich mit einem Auto ohne konsularisches Kennzeichen.“

Sobald sie sich draußen bewegt hätten, hätten sie sich dick angezogen, mit Steppjacken, Wollmützen und Schals, so dass man sie nicht gleich als Ausländer erkennen konnte. Die Anlage selbst läge über 4000 Meter hoch, so dass so eine Verkleidung nicht weiter auffalle. Natürlich hätten sie etwas Schiss gehabt, aber mit der diplomatic card könne einem ja eigentlich nicht viel passieren. Außer, dass die einen stoppten und wieder zurückschickten.

„Wir hatten echt Glück. Die haben uns an den Straßensperren meist schon von weitem einfach durchgewunken.“

Sophie war sichtlich stolz auf ihr Abenteuer. Konnte ich gut verstehen, und war sogar ein wenig neidisch. In diese wilde Gegend waren wir zu unserer Zeit nie vorgedrungen.

„Warum lässt die Regierung ein so großes religiöses Zentrum der Tibeter überhaupt zu?“, habe ich nochmal nachgefragt, „Ich dachte, die Politik gegenüber der tibetischen Minderheit wäre in letzter Zeit sogar noch verschärft worden.“

„Die wissen, wenn sie da durchgreifen würden, gäbe es einen Aufstand.“

Vor einiger Zeit hätten sich in mehreren Fällen tibetische Mönche in der Gegend aus Protest selbst verbrannt, erklärte Sophie weiter. Das habe die Regierung extrem nervös gemacht. Die versuche jetzt mit allen Mitteln, die moderateren Kräfte unter den Tibetern zumindest soweit für sich zu gewinnen, dass die für Ruhe unter ihren Leuten sorgten. So beschränke man sich offenbar auf den Versuch, wenigstens die Zahl der ständigen Bewohner dieses Klosterstädtchens zu begrenzen – auf nicht mehr als fünftausend. Interessant auch: Eine Mehrheit der Studenten oder Schüler seien gar keine Tibeter, sondern Han-Chinesen. Jedenfalls im Sommer. Ab Spätherbst seien die wieder weg. Da würde die Bedingung da oben einfach zu hart. Nur so hätten sie überhaupt etwas mehr Informationen bekommen, weil die Tibeter verständlicherweise den Kontakt zu Ausländern scheuten. Übernachtet hätten sie bei zwei chinesischen Bekannten des Kollegen aus Chengdu. Die wären öfter dort oben, um ein paar Wochen bei ihrem Guru zu meditieren.

„Irre“, fand ich.

„Echt spannend“, meinte Martina.

Als wir uns – da war es schon ein Uhr morgens – verabschieden wollten, fiel Sophie plötzlich noch etwas ein.

„Ach übrigens, fast hätte ich es vergessen, ich soll dir Grüße bestellen! Von Professor Wang. Wang Baojiang.“

Ich wusste erst gar nicht, wen sie meinte.

„Ich habe ihn bei einer Seminarveranstaltung der Hanns-Seidel-Stiftung in der Zentralen Parteihochschule getroffen“, erklärte sie. „Als er erwähnt hat, dass er vorher Direktor der Abteilung für internationale Angelegenheiten der Stadtregierung von Shanghai gewesen ist, habe ich ihm erzählt, dass du in Kürze nach Peking kommen würdest.“

Da fiel der Groschen bei mir. Ja, mit Abteilungsleiter Wang hatte ich in Shanghai regelmäßig zu tun gehabt. Und dass der an die Parteihochschule nach Peking gehen sollte, hatte er mir beim Abschied sogar noch gesagt. Mit dem Mann konnte man reden. Sogar ein wenig Schwäbisch. Hatte Philosophie in Heidelberg studiert.

„Unser alter Nietzsche-Verehrer! Was macht er denn da jetzt genau?“, fragte ich.

„Wenn ihr hier noch länger verhandelt, gehe ich nochmal schnell auf die Toilette“, meinte Martina.

„Der ist Direktor des Instituts für Sozialforschung dort“, klärte Sophie mich auf.

Das war eine Chance, die ich einfach nicht verpassen durfte.

„Du, den würde ich echt gern noch treffen, solange wir hier sind. Meinst du, du könntest das so schnell noch arrangieren?“

„Das wird schwierig“, Sophie überlegte. „Normalerweise kommt man da gar nicht rein. Aber ich kann mal unseren Hanns-Seidel-Mann fragen. Der sitzt übrigens gleich hier im Hause. Soweit ich weiß, trifft er den Professor regelmäßig. Das ist einer seiner wichtigsten Partner.“

„Du, da wäre ich dir echt dankbar!“ Martina war noch nicht wieder zurück. So ergänzte ich noch schnell, „Vielleicht könntest du ihm ausrichten lassen, ich hätte sowieso schon an ihn gedacht. Ich habe ein Manuskript dabei, das möglicherweise von Interesse für ihn ist.“

„Echt jetzt?“, fragte Sophie. „OK. Ich gebe das dem Alexander einfach mal so weiter. Vielleicht schafft der das ja. Aber versprechen kann ich nichts.“

„Was habt ihr denn da schon wieder ausgeheckt?“

Plötzlich stand Martina doch schon wieder bei uns.

„Ach, es ging nur um unser Programm für die nächsten Tage. So, jetzt aber los. Unsere Sophie muss morgen wieder früh raus. Ach nein, das ist ja schon heute!“

Die nächsten vier Tage waren Martina und ich von morgens bis abends unterwegs. An zwei Tagen sogar mit einer im Hotel gebuchten Bustour, um schnell und bequem einige unserer alten Lieblingsplätze abklappern zu können. Die Ming-Gräber waren eine kleine Enttäuschung. Damals waren wir oft an den Wochenenden dort rausgefahren. Hatten in der verwilderten Parkanlage mit den Kindern Drachen steigen lassen und im hohen, trockenen Gras unser Picknick ausgebreitet, am Fuß der teilweise ziemlich verwitterten Umfassungsmauer unseres Lieblingsgrabes nach schön erhaltenen Scherben der in kaiserlichem Gelb glasierten Deckziegel gesucht und waren sogar auf den Grabhügel selber geklettert. Außer uns oft keine Menschseele weit und breit. Jetzt war alles perfekt restauriert, die grünen Rasenflächen kurzgeschoren, die zahllosen Touristen schoben sich den gekennzeichneten Rundwegen folgend über das Gelände, und auf einen der abgesperrten Grabhügel zu klettern war natürlich völlig undenkbar. Auf der Großen Mauer war es noch schlimmer. Nachdem wir dort oben fast eine Viertelstunde im Stau gestanden hatten, vergeblich Ausschau haltend nach der Stelle, wo unsere Tochter damals ihre ersten Schritte getan hatte, schoben wir uns gegen den Strom der Besuchermassen zurück zum großen Parkplatz und warteten dort am Bus auf den Rest der Gruppe. War ja auch naiv gewesen von uns, zu erwarten, dass hier in den letzten dreißig Jahren alles unverändert geblieben sein könnte. Nach Jianguomenwai fuhren wir dann mit der U-Bahn. Der Diplomaten-Compound, wo wir damals gewohnt hatten, hatte sich in der Tat kaum verändert. Ebenso der Weg zum Ritan-Park, an den alten Botschaftsgebäuden vorbei. Vor den Einfahrten standen immer noch die Wächter in ihren stumpfgrünen Uniformen, die damals unserem Sohn im Sommer immer so kleine Bambuskäfige mit Grillen zugesteckt hatten, deren Zirpen dann nachts aus dem Schlafzimmer der Kinder zu hören gewesen war.

Am fünften Tag saßen wir schon frühmorgens im Schnellzug nach Taiyuan. Den Besuch des Wutaishan, eines der vier heiligen buddhistischen Berge Chinas, hatten wir als Höhepunkt unserer Reise eingeplant. Auch das ein Ort, mit dem ich besondere Erinnerungen verband. Dorthin hatte ich wenige Wochen nach meinem Dienstantritt in Peking den Botschafter begleitet. Wir waren mit der Bahn gefahren, über Nacht. Ich hatte oben gelegen in der doppelstöckigen Koje des Schlafwagenabteils, mit dem Kopf zum Fenster hin. Wir waren gerade erst aufgewacht, als wir schon in den Bahnhof von Taiyuan einfuhren und mussten uns mit dem Aussteigen beeilen. Draußen wartete schon das Empfangskomitee mit dem Provinzgouverneur an der Spitze. Gerade noch genug Zeit für unsere Botschaftsdolmetscherin, mir den kleinen Spiegel vorzuhalten, den sie hastig aus ihrer Handtasche hervorgekramt hatte: Alles war schwarz! Vor allem die beginnende Glatze, aber voll auch Stirn und Nase. Ruß von der alten Dampflok, der durchs halboffene Zugfenster hereingeweht war. Großes Gelächter auf allen Seiten, als ich vor das Empfangskomitee trat. Auch der Gouverneur amüsierte sich köstlich.

Mit großer Wagenkolonne war es damals gleich weiter nach Taihuai gegangen, dem zentralen Ort des Hochtals zwischen den fünf Berggipfeln. Der Besuch dieses 'heiligen' Ortes mit seinen zahlreichen Klosteranlagen war dann reichlich Entschädigung für den ertragenen Spott gewesen. Wie es hieß, waren wir die ersten Ausländer überhaupt, denen man nach der Kulturrevolution dort oben Zutritt gewährte. Einige der Tempelanlagen in der Umgebung lagen noch verwüstet da. Bei anderen hatten erste Renovierungen begonnen. Mönche hatten wir in den anderthalb Tage kaum zu Gesicht bekommen. Besonders erinnere ich mich noch an einen uralten Einsiedler, der auf einem der etwas entlegeneren kahlen Gipfel hauste. Mit finsterem Gesichtsausdruck stand er reglos vor seiner aus groben Steinen errichteten Klause, als wir in der dünnen Luft schwer keuchend langsam zu ihm hochstiegen. Als wir näher herankamen, versuchte er, sich hinter dem halbverfallenen Stupa unsichtbar zu machen, der neben seiner Klause aufragte, was ihm aber in seinem dick wattierten und orange leuchtenden Mantel nicht so recht gelang. Nach einem energischen Wink aus dem Kreis unserer Begleiter musste er sich schließlich doch unseren Kameras stellen, steif und mit unbewegter Miene. Wir aber waren da schon völlig durchgefroren in dem schneidenden Wind, der – aus den mongolischen Grassteppen im Norden kommend – um diesen Gipfel fauchte. Gegen den boten auf Dauer selbst die schweren Militärmäntel, die man uns für diesen kleinen Ausflug zur Verfügung gestellt hatte, keinen Schutz.

In den Höfen oder Hallen der Klöster unten im Ort sahen wir gelegentlich einen jungen Mönch im orangefarbenen Gewand etwas unmotiviert in einer Ecke herumstehen. Oder es tauchte plötzlich einer aus dem Nichts auf und wanderte dann gemessenen Schrittes an uns vorbei, wenn er nicht von einem unserer Begleiter angehalten wurde, damit wir ihm Fragen stellen konnten. Wir hatten den Eindruck, dass die sich alle noch nicht so richtig in ihre künstlich wieder zum Leben erweckten Rollen hineingefunden hatten. Übernachtet hatten wir damals in einem der Gebäude des Großklosters Xian-tong Si, das die Zerstörungen der Kulturrevolution einigermaßen unbeschadet überstanden hatte, da es unter der direkten Obhut des Zehnten Pantschen Lama stand. Der Höhepunkt unseres Aufenthalts erwartete uns dort mitten in der Nacht. Lautes Hämmern von Fäusten gegen die schwere alte Holztür unseres Tempelquartiers hatte uns aus dem Schlaf gerissen. Als der Botschafter nach einigem Zögern den großen, eisernen Riegel zur Seite geschoben hatte, hatten mehrere Mitarbeiter der Auslandsabteilung der Provinzregierung unter Anleitung ihres Chefs eine längliche Holzkiste in die Vorhalle geschleppt, von der unsere Schlafräume abgingen. Im Licht mehrerer Taschenlampen – der Strom war abgestellt, wenn es in dem Gebäude überhaupt welchen gab – war die Kiste geöffnet worden. Die Männer hatten vorsichtig einen etwa anderthalb Meter langen Gegenstand herausgehoben. Vor unseren Augen hatten sie dann sorgsam ein großes Bild entrollt. Es zeigte eine etwa viereinhalb Meter hohe siebenstöckige Pagode. Erst als wir auf einen Wink unserer Gastgeber ganz nah herangegangen waren, hatten wir im Licht der Taschenlampen entdeckt, dass dieses Bild aus klitzekleinen Schriftzeichen zusammengesetzt war. Ein langer Sutrentext, geschrieben von einem berühmten Mönch aus dem achten Jahrhundert mit seinem eigenen Blut. Was mich damals am meisten beeindruckt hatte, war die tiefe Ehrfurcht, mit der diese Kader der Kommunistischen Partei das heilige Bild behandelt hatten, das man knapp zwanzig Jahre zuvor vor dem Wüten der Roten Garden gerade noch in Sicherheit gebracht hatte.

Diesmal brachte ein blitzsauberer Schnellzug uns beide innerhalb von dreieinhalb Stunden von Peking nach Taiyuan. Von dort ging es im modernen Reisebus in zweistündiger Fahrt weiter hinauf an diesen magischen Ort inmitten der Berge. Im Hotel mieteten wir einen Wagen mit Fahrer, der uns in den nächsten zwei Tagen durch die kahle Berglandschaft in rund dreitausend Meter Höhe von einem Tempel oder Kloster zum anderen fuhr. Man hatte mittlerweile tatsächlich all diese religiösen Bauten weitgehend originalgetreu renoviert oder wieder neu aufgebaut. Am beeindruckendsten aber: Im Gegensatz zu manchen anderen berühmten heiligen Stätten Chinas, die inzwischen eher einem Disneyland für Touristen ähnelten, war hier das religiöse Leben und Treiben mit aller Macht zurückgekehrt. Schon im Ort wimmelte es von Mönchen in den roten Gewändern der tibetischen Gelbmützensekte, der die meisten Klöster dort angehören. In allen Tempeln traf man neben den Mönchen auch zahlreiche Pilger, die – wie wir erfuhren – zum Teil selbst aus dem fernen Tibet anreisten. Wenn ich all diese ernsthaft Gläubigen sah, beobachtete, wie sich alte Frauen und Männer auf dem Weg von Tempel zu Tempel alle paar Meter auf den Boden warfen, sie vor den Buddha-Statuen knien sah, ins Gebet oder Sutrenrezitationen versunken, mit tief beseeltem Gesichtsausdruck, sah, wie sie unermüdlich die 108 Gebetsmühlen am Fuß des Stupa im Tayuan-Kloster in Bewegung hielten, und dann an das Manuskript dachte, das ganz unten im Koffer vergraben in unserem Hotelzimmer ruhte, überkamen mich auf einmal Zweifel. War es wirklich richtig, all diese Menschen aufzuklären, dass sie sich hier völlig vergeblich mühten? Dass Sinn und Glück überall zu finden waren, aber bestimmt nicht auf diesem Weg?

„Siehst du“, gähnte Martina, als ich ihr das erzählte. Da lagen wir nach unserem zweiten langen und anstrengenden Tag endlich im Bett in unserem Hotel und hatten schon das Licht ausgemacht.

„Aber man kann doch diese armen Menschen nicht auf Dauer so in die Irre führen“, suchte ich noch ihre Bestätigung. Aber da war sie wohl schon fest eingeschlafen.

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