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An einem sicheren Ort
Оглавление5. Juli
Ich hätte auf Martina hören sollen. „Versteck das irgendwo im Keller und vergiss es...“ Oder hätte besser gleich einfach nur harmlose Gedichte geschrieben. Oder angefangen, für den New York Marathon zu trainieren. Es gibt ja inzwischen Pensionäre, die machen sowas. Aber ich gehöre nun mal nicht zu denen, die zurückzucken, wenn sich irgendwas unerwartet als Herausforderung entpuppt. Also habe ich es mir selbst zuzuschreiben, dass ich mich jetzt auf einer in der Weite des Atlantiks verlorenen Insel verstecken muss, mit einer dicken Mappe voller Dokumente unter dem Bett, damit in meinem ‚Roman‘ am Ende nichts Wichtiges fehlt und auch wirklich jedes Detail stimmt.
Bin also selber schuld, dass ich hier mitten in der Hauptsaison statt am Strand zu liegen oder in den Bergen zu wandern, tagsüber an einem sichtgeschützten Plätzchen oberhalb meiner Höhle – und wenn es hier draußen zu dunkel wird, drinnen im Licht einer stinkenden Petroleumlampe – handschriftlich Seite um Seite mit diesem Bericht füllen muss. Ich könnte natürlich alle naselang ins Dorf runter laufen, um den Akku meines Laptops aufzuladen. Aber das Risiko wäre zu groß. Es könnte sich Gerede verbreiten über diesen seltsamen Alten aus Deutschland, der sich für Wochen, wenn nicht gar Monate hier oben versteckt hält und sich so gar nicht wie ein normaler Tourist benimmt. Man kann das Meer sogar sehen von hier aus. Wie gerne würde ich jetzt dort runterwandern und mal wieder ausgiebig schwimmen. Oder am Abend in eines der Restaurants an der Strandpromenade gepflegt essen gehen, um danach in einem bequemen Korbstuhl auf irgendeiner Terrasse sitzend bei einem Glas guten Rotweins versonnen dem einen oder anderen weiblichen Reiz hinterzusinnieren. Nein, einfach zu gefährlich das alles. Da unten wimmelt es nur so von Deutschen. Auch wenn es nicht sehr wahrscheinlich ist, so ist doch nicht auszuschließen, dass ich jemandem in die Arme laufe, der mich erkennt. Vielleicht sogar jemandem, der auf dieser entlegenen Insel gezielt nach mir sucht. Nach allem, was passiert ist, wäre selbst das nicht unmöglich. Mit meiner markanten Glatze und dem Vollbart bin ich ja auch gar nicht schwer zu identifizieren. Habe sogar schon erwogen, mich glatt zu rasieren. Aber so oder so bleibt mir gar keine andere Wahl, als die kommenden Monate möglichst unauffällig hier oben zu verbringen. Unser Plan sieht vor, dass ich mit der handschriftlichen Fassung dieses ‚Romans‘ über das Buch und dessen Folgen bis Anfang September fertig bin. So muss ein gelegentlicher kleiner Badeausflug in eine der kleinen, einsamen Buchten auf der anderen Seite der Insel oder eine kurze Wanderung in den Bergen reichen, damit ich hier in meiner Höhle nicht endgültig durchdrehe.
Übrigens: Ich nenne es meine Höhle, aber eigentlich ist es eine sicher schon viele Jahrhunderte lang genutzte und inzwischen wohntechnisch auf einen durchaus passablen Stand gebrachte regelrechte Höhlenwohnung. Sogar mit einem gar nicht so kleinen Fenster nach vorne raus. Es gibt hier oben noch mehr davon. Gleich links um die Biegung, bevor der Pfad endgültig vor einer Felswand endet, wohnt ein Althippie in einem ganz ähnlichen Loch. Der ist die meiste Zeit total zugekifft, was mir durchaus gelegen kommt. Ich bringe ihm regelmäßig etwas Obst oder Gemüse mit, weil ich denke, dass ihm ein paar Vitamine durchaus guttun könnten. Über den Rotwein freut er sich aber mehr. Für meinen Service darf ich sein altes Motorrad benutzen. Nur so geht das überhaupt. Zu Fuß bekäme ich meine Vorräte gar nicht hier hoch. Zumal ich das Dorf unten, wo ich ja eigentlich auch einkaufen könnte, vorsichtshalber weiträumig umfahre. Wie gesagt, das Gerede. Also Einkauf einmal die Woche im kleinen Supermarkt unten am Hafen. Um die Mittagszeit, wenn dort so gut wie nichts los ist. Und vorher noch den kleinen Schlenker am Strand vorbei, wo es Duschen gibt, die von der Promenade aus nicht einsehbar sind. Ansonsten lassen wir uns in Ruhe, der Althippie und ich. Er denkt, ich meditiere hier die ganze Zeit. Fand er offenbar auch völlig normal. „Well, happy enlightenment, then“, war sein einziger Kommentar. Und ich frage ihn ja auch nicht, wo er die Nacht verbracht hat, wenn er morgens gelegentlich von unten an meiner Höhle vorbeigeknattert kommt.
Nach rechts runter, wo es ins Dorf geht, gibt es noch weitere Höhlenwohnungen, die aber zum Glück derzeit unbewohnt sind. Teilweise machen sie schon einen sehr verwahrlosten Eindruck. Die Zeit, wo sowas bei Aussteigern aus Europa populär war, sind anscheinend vorbei. Nur zwei oder drei dieser Höhlen werden, so wie es aussieht, noch gelegentlich als Ferienwohnungen genutzt. Vor der, an der ich auf meinem Weg runter immer als erstes vorbeikomme, hat der stolze Besitzer sogar einen hölzernen Jägerzaun im klassischen deutschen Stil in die harte, staubtrockene Erde gerammt. Die mit einem schweren Vorhängeschloss gesicherte Eingangstür zu der Höhle wird auch noch von einem echten, ein wenig debil grinsenden Gartenzwerg bewacht. Dort hat wohl schon länger niemand mehr nach dem Rechten gesehen. Vielleicht ist der Besitzer verstorben und seine Kinder oder Erben haben noch nicht die Zeit gefunden, sich um dieses Kleinod zu kümmern. Sonst hätten sie den verstaubten Wichtel sicher auch schon durch einen dieser mittlerweile absolut angesagten Buddhas aus dem Gartencenter ersetzt.
Das Schlimmste jedenfalls ist, dass Martina und ich uns nun so lange nicht sehen können. Aber das hat sie sich ja nun auch selber mit eingebrockt. Schließlich war dies hier ihre Idee, nachdem Max uns die Augen geöffnet hatte, wie ernst die Lage tatsächlich war. Am Morgen danach haben wir nach außen hin ganz gemütlich bei ihm auf dem Achterdeck zusammengesessen. Max hatte die ganzen leeren Heineken-Dosen vom Vorabend in die Kombüse geräumt, hatte uns Dreien schon eine große Kanne so richtig schwarzen Tee zum wach werden gemacht, und vor uns auf dem kleinen Camping-Tischchen lag ein Berg frischer Brötchen und süßer Teilchen, die er in einer Bäckerei um die Ecke besorgt hatte. Da hatten wir noch geschlafen. Er selbst hatte es sich im Liegestuhl gemütlich gemacht, seinen Riesenbecher Tee in der Hand, und hat so getan, als verfolge er irgendwelche außergewöhnlich spannenden Aktivitäten auf der kleinen Werft drüben am anderen Ufer. Dabei ging es ihm offensichtlich nur darum, bei dem kleinen Disput zwischen Martina und mir nicht selbst in die Schusslinie zu geraten. Nach dem, was er uns am Abend zuvor eröffnet hatte, war es kein Wunder, dass wir beide ziemlich unter Druck waren. Martina war von drinnen gekommen und hatte sich scheinbar entspannt in den Korbsessel neben dem meinen fallen lassen. Sie atmete einmal hörbar tief ein. „Toll, diese friedliche Morgenstimmung hier.“ Ich hoffte schon, sie nähme das Ganze trotz allem noch einigermaßen gelassen. Dabei hätte mich ihr scheinbar tiefenentspannter Zustand gleich warnen sollen.
„Ihr könnt sagen, was ihr wollt, aber ich weiß jetzt, was zu tun ist“, eröffnete sie die Partie, „Du musst erst mal für eine Zeit lang von der Bildfläche verschwinden!“
„Daran habe ich gerade auch schon gedacht. Wir beide könnten uns doch für ein paar Monate auf irgendeine nette kleine Insel zurückziehen, bis etwas Gras über die Sache gewachsen ist. Irgendwo, wo wir noch nie gewesen sind. Malediven zum Beispiel.“
„Malediven? Wir beide? Du hast Nerven!“
„Wieso? Wir haben doch schon öfter davon gesprochen, wie toll es wäre, mal einen richtig langen Urlaub unter Palmen am Meer zu verbringen. Jetzt, wo wir endlich die Zeit haben und uns das auch leisten können.“
Martina blickte mir direkt ins Gesicht. Ihre Lippen waren aufeinandergepresst. Dann brach es los:
„Hast du denn immer noch nicht kapiert, was auf dem Spiel steht? Habe ich dich nicht von Anfang an gewarnt? Du musstest es ja unbedingt auf die Spitze treiben. Und jetzt willst du auch mich noch voll mit da reinziehen? Hat dir das mit eurem Unfall etwa nicht gereicht?“
Das war nun wirklich nicht fair.
„Ich gebe zu, ich habe dir das mit Michael nicht sofort in vollem Umfang gebeichtet. Aber doch nur, weil ich dir das schonend beibringen wollte. Und auch wenn du nicht gerade begeistert warst: Du hast nie wirklich ernsthaft versucht, mich von allem Weiteren abzuhalten. Ganz abgesehen davon, dass wir bisher auch nicht hundertprozentig sicher sein konnten, dass das, was passiert ist, tatsächlich etwas mit meinem Buch zu tun hatte.“
Der Blick, den mir Martina zuwarf, hatte die Bösartigkeit eines Giftpfeils. Trotzdem wagte ich noch, mein Plädoyer auf Freispruch oder wenigstens mildernde Umstände zu Ende zu bringen:
„Und im Übrigen beweist das, was wir jetzt wissen, dass ich mit dem, was ich in meinem Buch geschrieben habe, nur allzu recht hatte!“
„Recht haben ist ja toll – nützt bloß nichts, wenn man am Ende tot ist!“
Dem war kaum zu widersprechen. Ich hatte die Skrupellosigkeit der Gegenseite ja tatsächlich unterschätzt. Aber wo wären wir heute, wenn sich die Vorkämpfer der Aufklärung seinerzeit auch so schnell hätten ins Bockshorn jagen lassen. Dann würden wir heute noch von Gottes Gnaden regiert und Ideen wie individuelle Menschenrechte oder die Meinungsfreiheit wären auf dem Müllhaufen der Geschichte gelandet. Aber ich wusste, jeder weitere Versuch, mich zu rechtfertigen, würde so aussehen, als nähme ich die Lage nicht ernst genug.
„Du, es geht mir hier nicht darum, die Lage zu verharmlosen. Spätestens jetzt wissen wir ja, dass die es wirklich ernst meinen und im Zweifel selbst vor Mord nicht zurückschrecken. Ich wollte ja nur sagen, dass wir jetzt, wo wir nun mal beide so tief drinstecken, auch zusammen sehen sollten, wie wir da wieder rauskommen.“
"Und ich meine, dass jetzt vor allem erst einmal du gefordert bist. Und das kann ja wohl nicht bedeuten, unter Palmen rumzulungern und sich mal wieder einen schönen tropischen Sonnenbrand zu holen. Ich fordere von dir, dass du wenigstens jetzt Verantwortung zeigst. Und dazu wäre es meiner Meinung nach das Beste, wenn du dich so schnell wie möglich an irgendeinem Ort verkriechst, wo dich keiner kennt und möglichst auch keiner überhaupt bemerkt. Für ein paar Monate, erst mal.“
Bemüht langsam stellte ich meinen Teebecher auf das Tischchen zurück, ohne einen Schluck getrunken zu haben. Meine Martina wollte sich also tatsächlich auf unabsehbare Zeit von mir trennen! Und das war noch nicht einmal alles:
„Und dort solltest du eine detaillierte Aufzeichnung erstellen. Ein vollständiges und genaues Protokoll all dessen, was passiert ist, seitdem du mit deinem Buch hausieren gegangen bist. Mit allen Daten, Namen und Ortsangaben, so dass die möglichen Zusammenhänge klar werden und alle Verantwortlichen eindeutig identifiziert werden können.“
„Du willst also, dass ich so was wie einen Roman schreibe?“, fragte ich verblüfft, griff mir, weil mir so schnell nichts Besseres einfiel, ein Brötchen vom Tischchen und biss einmal kräftig ab. Dann sah ich zu Max hinüber. Der aber starrte nur weiter still rüber ans andere Ufer.
„Mein Gott!“, hörte ich Martina sagen. Normalerweise hätte ich darauf geantwortet, „Was hat denn der damit zu tun?“ So wie ich das immer zu sagen pflege, wenn sie „mein Gott“ sagt. Aber das passte in dem Moment überhaupt nicht. Immerhin hat die kleine Pause gereicht, dass mir dämmerte, worauf sie hinauswollte.
„Ich weiß ja, worauf du hinauswillst. Bin ja nicht blöd! Du willst, dass wir das dann bei irgendeinem Notar im Safe deponieren, mit der Anweisung, das Material sofort den Behörden zu übergeben, falls mir etwas zustoßen sollte. Wie man das so aus Abenteuerromanen kennt.“
„Mir etwas zustößt! Typisch!“ Energisch knallte sie ihren Teebecher auf das Tischchen, dass es nach allen Seiten spritzte. Dann wurde sie richtig laut:
„Du denkst mal wieder nur an dich. Ist dir noch gar nicht der Gedanke gekommen, dass wir auch beide zusammen Opfer deiner Abenteuer werden könnten? Und die Kinder dann nur noch in deinem ‚Roman‘ nachlesen könnten, warum und wie du sie zu Waisen gemacht hast?“
„Musst du denn immer jedes einzelne Wort auf die Goldwaage legen? Natürlich denke ich bei allem immer auch und zuallererst an euch“, schoss ich zurück. „Aber das ist vielleicht tatsächlich keine schlechte Idee. Wenn wir dafür sorgen, dass die von unserer ‚Vorsorgemaßnahme‘ erfahren, werden die wohl tatsächlich nicht das Risiko eingehen, mir oder gar uns beiden irgendwas anzutun.“
„So ist es“, stimmte Martina zu, und ruderte auch ihrerseits etwas zurück: „Du musst verstehen, dass ich ein wenig unter Schock stehe – nach allem, was Max uns hier eröffnet hat. Und natürlich sind die in erster Linie hinter dir her. Und ich für meinen Teil kann nun mal auch wenig dazu beitragen, uns aus diesem Schlamassel wieder zu befreien.“
„Und was ist mit dem Dritten im Bunde? Ich stecke da schließlich inzwischen auch voll mit drin.“ Endlich meldete sich Max mal wieder zu Wort.
"Na, wenn sich einer hier damit auskennt, wie man mit einer solchen Situation umgeht, bist du das ja wohl", versuchte ich, ihn noch weiter aus der Reserve zu locken. Was ein Fehler war, wie sich sofort herausstellte.
„Aber klar doch“, so Max in seiner lässigen Art. „Ich kenne da sogar einen idealen Ort, an dem du dich verstecken könntest. Eine nette kleine Höhle auf einer Insel, wo dich bestimmt so schnell keiner suchen wird. Das Loch gehört einem alten Kumpel von mir. Dorthin habe ich mich sogar selbst mal eine Zeit lang zurückziehen müssen.“
Spätestens an dem Punkt war mir klar, dass die Sache entschieden war. Trotzdem konnte ich es nicht lassen, noch einen kleinen Vorschlag zu machen: Ob wir nicht, solange ich mit meinen Aufzeichnungen noch nicht fertig wäre, vielleicht wenigstens schon mal mein Buch bei so einem Notar hinterlegen könnten. Wenn uns – was ich natürlich für völlig abwegig hielte – allen dreien etwas passieren sollte, könnte das die Ermittler möglicherweise auch schon auf die richtige Spur führen. Martina holte tief Luft.
„Dieses verdammte Buch ist anscheinend immer noch das Einzige, was dich wirklich interessiert! Du bist absolut unmöglich!“ Sie hätte wohl noch einen draufgesetzt, hätte Max nicht zu meinem Vorschlag so eindeutig zustimmend genickt. „Na ja, wenn es denn unbedingt sein muss,“ meinte sie schließlich, „Hauptsache, es wird nicht noch mehr Schaden angerichtet.“
Wenigstens das habe ich also doch noch erreicht. Es bedeutet ja immerhin, dass es noch eine kleine Chance gibt, dass die langen Stunden, die ich mit dem Verfassen des Buches zugebracht habe, vielleicht doch nicht ganz umsonst gewesen sind. Nur eins war dann noch zu klären:
„Und wie bringen wir das jetzt den Kindern bei – dass ihr Vater mal eben für ein paar Monate von der Bildfläche verschwindet?“
„Wir können ihnen ja sagen, du schreibst wieder ein Buch und willst jetzt erst mal ein paar Wochen völlig ungestört daran arbeiten.“
„Na ja – OK – aber ich glaube, es ist besser, wenn du ihnen das erklärst.“
Jetzt aber von vorne und der Reihe nach – ganz so, wie meine Martina das will. Nur dass ich mir die kleine Freiheit nehme, diesen Aufzeichnungen auch tatsächlich die Form eines Romans zu geben. Zeit genug dafür habe ich hier zwangsweise ja. Und die Ereignisse, die ich zu schildern habe, rechtfertigen das durchaus. Seinen Zweck erfüllt das Ganze auch in dieser Form, solange ich hier nur die Wahrheit, die reine Wahrheit und nichts als die Wahrheit aufschreibe. Mein eigentliches Motiv für dieses Vorgehen aber ist die Idee, die mir zugegebenermaßen erst auf der Überfahrt mit dem Schiff von der Hauptinsel hier rübergekommen ist: Vielleicht kann man diese Aufzeichnungen auch noch ganz anders und mit viel größerem Effekt nutzen, als so, wie wir es dort auf dem Achterdeck besprochen haben. Eigentlich wäre es doch ein Jammer, wenn man diesen Roman in einem Safe wegschließen würde, ohne dass ihn je jemand zu lesen bekommt. Vielleicht sollte ich das Ganze sogar in Kapitel einteilen – mit Überschriften, um dem Leser die Übersicht zu erleichtern. Wie das erste Kapitel heißen muss, ist jedenfalls schon mal klar: