Читать книгу Die Freisprechung - C.D. Gerion - Страница 7
Berliner Verabredungen
ОглавлениеSchon vier Tage später (eher hatten wir keinen Flug bekommen) waren wir in Berlin. Martina hatte sich dort ohnehin schon länger mal wieder mit alten Freundinnen treffen wollen, und ich freute mich darauf, bei dieser Gelegenheit auch noch bei einigen ehemaligen Kollegen im Auswärtigen Amt vorbeischauen zu können. Erst mal aber saß ich in einer schönen Altbauwohnung in der Markelstraße in Steglitz. Ich wusste gleich, wo das ist, denn in der Zeit, als ich in der Zentrale in Berlin eingesetzt war, hatten wir gleich um die Ecke in der Hackerstraße gewohnt.
„Diese Wohnung habe ich vor kurzem von meiner Mutter geerbt“, eröffnete mir Michael, als wir uns den Weg durch den mit noch unausgepackten Umzugskartons vollgestapelten Flur in sein Arbeitszimmer bahnten.
„Schlage vor, wir duzen uns“, hatte er schon bei der Begrüßung gesagt – mit einem Ausdruck fröhlichen Willkommens im runden Gesicht – kaum, dass er mir die Tür geöffnet hatte. Er war offenbar einer von der ganz unbefangenen Sorte. Schließlich war ich deutlich älter als er. Aus seiner völlig spontanen Offenheit mir gegenüber schloss ich, dass er die Unterlagen (Lebenslauf, Exposé und das Manuskript meines Buches), die ich ihm gleich nach unserem Telefonat zugemailt hatte, tatsächlich bereits gelesen hatte. Und sie bedeutete wohl auch, dass er ernsthaft interessiert war.
„Ganz schön krasser Stoff“, meinte er grinsend, als er sich in seinen Schreibtischstuhl fallen ließ und mich aufforderte, es mir auf dem kleinen Sofa daneben bequem zu machen.
„Ich bin durchaus bereit, den Text hier und da noch ein wenig zu glätten, falls das notwendig sein sollte. Oder sehen Sie – sorry, siehst du – ein grundsätzliches Problem mit dem Manuskript?“
„Ganz und gar nicht. Sowas Aufregendes und gleichzeitig Unterhaltsames habe ich zu dem Thema ehrlich gesagt noch nie gelesen. Obwohl es sich hier, wie du weißt, um mein Fachgebiet handelt. Nein, Probleme werden damit höchstens ganz andere haben...“
„Meinst du nicht, dass Leute vom Fach – die kennst du ja besser als ich – die Art der Argumentation und Präsentation in meinem Buch als zu wenig seriös empfinden könnten? Dass sie das Buch gar nicht ernst nehmen?“
„Im ersten Moment vielleicht“, antwortete er. „Wenn sie zunächst nur den Titel des Buches lesen, wahrscheinlich sogar. Ehrlich gesagt ging es mir auch so. Bis ich mir dann den Text vorgenommen habe. Theologen und Philosophen meinen ja in der Regel, ‚letzte Fragen‘ seriös nur mit höchstem Ernst, enormem argumentativen Aufwand und möglichst komplizierten Formulierungen angemessen abhandeln zu können. Dein Buch aber beweist, dass der simple Einsatz von gesundem Menschenverstand, verbunden mit ein wenig logischem Denken und einer Prise Humor in der Regel völlig ausreicht, all die religiösen Offenbarungen, theologischen Konstruktionen und ausgefeilten Rechtfertigungslehren als Hirngespinste und Glasperlenspiele zu entlarven. Echt verblüffend. An vielen Stellen habe ich schallend gelacht!“
„Aber“, warf ich schnell ein – er musste ja nicht unbedingt merken, wie sehr ich mich gebauchstreichelt fühlte – „meinst du wirklich, das sehen auch andere so? Und vor allem: siehst du überhaupt eine Chance, jemanden zu finden, der bereit und vielleicht auch mutig genug ist, das so zu veröffentlichen? Meine Frau meint ja, es wäre besser, wenn ich das irgendwo in einer Schublade verstecken und nur dann mal rausholen würde, wenn gerade niemand in der Nähe ist.“
„Ketzer werden heutzutage ja glücklicherweise nicht mehr verbrannt“, beruhigte Michael mich. „Aber, dass du das trotzdem lieber unter einem Pseudonym veröffentlichen willst, verstehe ich natürlich.“
Es war offensichtlich: Wir beide waren auf gleicher Wellenlänge. Wir hatten noch nicht mal eine Viertelstunde zusammengesessen, und schon schien alles Wesentliche geklärt.
„Ich telefoniere dann mal rum. Kenne da jemanden, der sich vielleicht da ran traut. Wenn wir Glück haben, können wir das sogar schon jetzt auf der Buchmesse eintüten.“
Dass es jetzt so schnell gehen sollte, hatte ich nicht erwartet. Die Buchmesse würde ja, wie ich wusste, in der ersten Oktoberhälfte stattfinden, also schon in gut einem Monat! Ich hatte mich offenbar zu früh ins Bockshorn jagen lassen, als ich mit meiner Verlagssuche am Anfang nicht so recht vorangekommen war. Trotzdem war ich froh, jetzt diesen Michael an meiner Seite zu wissen. Schließlich kannte ich mich auch mit den technischen Aspekten des Buchgeschäfts wie Autorenhonoraren oder sonstigen Fragen der Vertragsgestaltung überhaupt nicht aus. Ich verabschiedete mich dann bald. Ich hatte ja noch meine Verabredungen im Amt. An der Haustür fiel mir aber doch noch eine wichtige Frage ein.
„Du, wir haben überhaupt nicht über die vertragliche Seite gesprochen!“
Mein künftiger Agent winkte ab.
„So wie ich dich jetzt kennengelernt habe, werden wir uns da problemlos einig. Ich schicke dir einfach mal meinen Standard-Mustervertrag zu. Ganz die branchenüblichen Konditionen. Wenn du Fragen hast, ruf' kurz an oder schick' mir 'ne Mail. Sonst gib mir das einfach gelegentlich unterschrieben zurück.“
Als ich im Fahrstuhl nach unten fuhr, atmete ich tief durch. War also doch alles ganz einfach. Martina würde sich wundern...
Auch auf dem Weg durch den Nieselregen zur U-Bahn-Station Walter-Schreiber-Platz und während der halbstündigen Fahrt bis zum Hausvogteiplatz hielt meine leichte Euphorie an. Als ich das Amt erreichte, goss es in Strömen. Auch das konnte meine Hochstimmung nicht dämpfen. Ich durchquerte die große Vorhalle mit dem Glasdach, kramte meinen alten Dienstausweis aus der Tasche meines Jacketts und hielt ihn vor den Lichtpunkt neben der Drehtür. Die Plastikkarte hatte ihre Gültigkeit noch nicht verloren. Die Tür setzte sich wie gewohnt in Bewegung. Schlagartig fühlte ich mich in alte Zeiten zurückversetzt, lief automatisch durch die Halle des modernen Vorbaus und auf der anderen Seite wieder nach draußen in den offenen Innenhof, in den gerade eine kleine Kolonne schwarzer Limousinen einfuhr. Der erste Wagen hielt direkt gegenüber, vor dem Treppenaufgang zum Altbau. Dort kam schon einer der Kollegen aus der Protokollabteilung mit einem Schirm in der Hand die Stufen herabgeeilt, um dem Hauptgast den Wagenschlag zu öffnen. Der musste dem Stander des Wagens nach zu urteilen Repräsentanten eines kleineren afrikanischen Landes sein. Sicher nur ein Minister, denn für einen Präsidenten war die Kolonne nicht lang genug. Es war tatsächlich ein stattlicher Herr in einer der typischen Nationaltrachten Subsahara-Afrikas, der etwas behäbig der Limousine entstieg und dann gut beschirmt gemächlich die Stufen erklomm, während seine Begleiter nach kurzem Abwarten aus ihren Wagen sprangen und hinter ihm her die Treppe hinaufrannten, um nicht allzu nass zu werden in ihren dunklen, perfekt geschnittenen Anzügen. Ich wartete geschützt zwischen den Säulen des Vorbaus, bis der vertraute, heute wegen des Regens ein wenig gehetzt ablaufende Empfangsritus vorbei war, und lief dann selbst über den Innenhof der kleinen Delegation hinterher in den Hauptbau. Alles wie immer: Der rote Teppich auf den knapp zwanzig Stufen, die man innerhalb des Gebäudes weiter hinaufmusste, ehe sich automatisch eine der schweren Glastüren öffnete. Die große Vorhalle, die immer noch den Charme einer repräsentativen Großbank-Schalterhalle ausströmte, der grobgemusterte, überwiegend ochsenblutrote Marmor an den Wänden, der rasche Sprung in einen der aufwärtssteigenden Paternoster (schon früher hatte ich die stets den ordinären Fahrstühlen gegenüber vorgezogen), dann der ebenso gekonnte Absprung im richtigen Stockwerk, und schließlich erneut durch diverse schwere Glastüren und lange Gänge, bis man mit einer gewissen Erleichterung feststellte, dass man tatsächlich am Ziel war. Es konnte nämlich leicht passieren, dass man in diesen Kreuzgängen der deutschen Diplomatie an der falschen Stelle abbog. Die Abteilung AP (Asien und Pazifik) war erst kürzlich neu geschaffen worden, wie mir der Kollege am Telefon erzählt hatte. Auch dass der Organisationsplan des Amtes laufend neugestaltet wurde, ohne dass sich in der Sache groß etwas änderte oder gar verbesserte, war mir nur allzu vertraut. In diesem Fall war wenigstens eine neue Abteilungsleiterstelle dabei herausgekommen. Ich gönnte es der Kollegin. Die Poster mit touristischen Highlights dieser Weltregion, die den Flur zwischen den einzelnen Bürotüren zierten, waren jedenfalls noch dieselben wie früher. Die ganze Zeit war ich keiner Menschenseele begegnet. Aber gerade, als ich vor der gesuchten Tür stand, rief jemand laut meinen Namen. Eine Kollegin kam strahlend auf mich zu.
„Sieht man Sie auch mal wieder hier! Wie geht es Ihnen denn so als Pensionär?“
„Bestens“, rief ich und fragte schnell zurück, wo sie denn jetzt gelandet sei. So gewann ich Zeit, um in meinem Gedächtnis nach ihrem Namen zu kramen und mich zu erinnern, woher wir uns kannten.
„Mache hier gerade meine Abschiedsrunde“, erklärte sie freudestrahlend. „Diesmal geht es nach Rom. Botschaft beim Vatikan!“
„Na, herzlichen Glückwunsch“, sagte ich, und in dem Moment wusste ich es wieder: Monika Leistner. Sie hatte in meiner Zeit in der Wirtschaftsabteilung in der Zentrale als junge Legationssekretärin angefangen. Eine besonders nette und zupackende Kollegin. Ich hatte sie aber in den Jahren danach aus den Augen verloren. In dem Moment öffnete sich die Tür neben uns und ein Kollege, den ich nicht kannte, stürmte im Laufschritt grußlos an uns vorbei, den Gang hinunter.
„Ach, da sind sie ja! Herr Timmermann erwartet Sie schon“, rief eine tiefe Stimme aus dem Vorzimmer. Die schon etwas ältere Kollegin dort am Schreibtisch kannte ich auch. Aus Chicago. Lange her. Bevor ich die üblichen Fragen stellen konnte (Seit wann? Wo zuletzt? Wie lange noch?) rief Walter mich durch die offenstehende Tür in sein Büro, ohne von dem Bildschirm vor sich aufzublicken. „Sorry!“, meinte er schließlich und erhob sich halb aus seinem bequemen Drehstuhl, um mir über den Schreibtisch hinweg die Hand zu schütteln.
„Toll, dass du reinschaust. Bin nur etwas unter Druck. Das Ministerbüro hat gerade angerufen. Die wollen die Vorlage noch heute Abend. Dabei kommt der Minister, wie ich zufällig weiß, erst morgen Mittag aus Washington zurück und hat dann sicher erst mal wichtigeres zu tun...“
Auch in dieser Hinsicht hatte sich offenbar nichts geändert.
„Erzähl! Was machst du jetzt? Hast dir doch bestimmt einen dieser netten Berater-Jobs an Land gezogen.“
Ich grinste nur.
„Dann schreibst du sicher gerade an deinen Memoiren. Lass mich raten: ‚Die Welt, von innen gesehen‘. Oder: ‚Ich und der Kaiser von Japan‘ – ja, das wär‘s doch!“
Genau deshalb mochte ich meinen Crew-Kollegen Walter so. Er gehörte zu den wenigen, die sich manchmal deutlich anmerken ließen, dass sie diesen ganzen Laden oder zumindest viele der Akteure hier nicht so richtig ernst nehmen konnten. Wahrscheinlich hatte er es auch deshalb immer noch nicht weiter als bis zum Referatsleiter gebracht. Trotzdem fand ich es besser, ihm lieber nicht zu gestehen, dass ich inzwischen schon etwas ganz anderes geschrieben hatte.
„Ich ziehe es vor, einfach meine neugewonnene Freiheit zu genießen“, sagte ich stattdessen. „Wie siehts denn bei dir aus? Allzu lange hast du ja auch nicht mehr.“ Walter gehörte mit zu den jüngsten in unserer Crew. Drei oder vier Jahr jünger als ich.
„Nächstes Jahr im Sommer geht's nochmal raus. Meine letzten drei Jahre will ich möglichst unter Palmen verbringen. Die neue Vakanzenliste ist gerade rausgekommen. Miami wird frei. Auch Antananarivo wäre nicht schlecht.“
„Jedem das Seine“, meinte ich großzügig. „Ich drück' dir die Daumen.“
Er blickte schon wieder unruhig zu seinem Bildschirm rüber.
„Wäre gern noch auf eine Tasse Tee mit dir in den Club rauf, aber...“ Er winkte mit dem Kopf vage in Richtung Leitungsbereich.
Ein wenig war ich schon enttäuscht. Aber, was hatte ich eigentlich erwartet? Das Leben ging weiter.
„Ich besuch' dich dann in Antananarivo.“
„Super“, rief er mir hinterher, im Gesicht einen leichten Ausdruck des Bedauerns. Oder war es eine Spur von Neid? Dass ich schon die Freiheit hatte, hier einfach so nach Belieben zu kommen und zu gehen? Vielleicht hätte es ihn ein wenig getröstet, wenn ich noch erwähnt hätte, dass auch die Freiheit eines Ruheständlers nicht grenzenlos ist...
Ich machte mich auf den Rückweg nach draußen. Inzwischen herrschte reger Betrieb auf dem Korridor. Die Nahostreferate hatten gerade eine nachmittägliche Koordinierungsbesprechung beendet. Alle paar Meter verwickelten mich alte Bekannte in den üblichen verbalen Was-machst-du-denn-jetzt-eigentlich-Ping Pong. Im Neubau geriet ich in eine Gruppe Kollegen, die gerade aus einem der dortigen Sitzungsräume herauskamen. Eine Planungsrunde des Arbeitsstabs ‚Friedensverantwortung der Religionen‘.
„Seit wann gibt's denn sowas?“, fragte ich die Kollegin, die gleich auf mich zukam, als sie mich entdeckte. In der Zeit meines letzten Einsatzes in der Zentrale hatte sie in den Abteilungsrunden immer so engagiert aus der Arbeit ihrer Arbeitsgruppe Islamdialog berichtet. Zum Glück hatte sie den ironischen Unterton meiner Frage gar nicht wahrgenommen.
„Sind gerade dabei, eine Riesenkonferenz zu dem Thema zu organisieren.“ Ihren offenbar unerschütterlichen Enthusiasmus hatte ich schon damals bewundert.
„Super“, meinte ich und musste plötzlich an mein Buch denken. „Ich hätte da etwas für euch“, hätte ich am liebsten hinzugefügt. Habe ich mir natürlich verkniffen. Hatte schon Mühe genug, ein aufkommendes Grinsen zu unterdrücken bei der Vorstellung, das Buch würde tatsächlich an alle Teilnehmer dieser Konferenz verteilt.
„Viel Erfolg, jedenfalls – Oh, ich muss los!“
Damit machte ich mich davon. Mit einem Gefühl der Erleichterung trat ich hinaus in den strömenden Regen.
Gerade noch rechtzeitig traf ich am Bundesplatz ein, wo ich mit Martina verabredet war. Auf dem Weg hinauf zur Wohnung unserer Freunde berichtete ich ihr kurz von meinem erfolgreichen Gespräch mit Michael Gräber und wie begeistert der von meinem Buch gewesen war. Sie blieb auf der Treppenstufe hinter mir stehen.
„Noch so ein Verrückter“, sagte sie leise, zog spontan meinen Kopf zu sich herunter und küsste mich auf die Stirn. „Hast hoffentlich nicht auch noch jemandem im Amt von dem Buch erzählt.“
„So verrückt bin ich nun auch wieder nicht“, konnte ich gerade noch klarstellen, da wurde über uns schon die Tür geöffnet und Klaus rief: „Da seid ihr ja!“