Читать книгу Die Freisprechung - C.D. Gerion - Страница 9
Auf der Buchmesse
ОглавлениеDen Stand des Wagenburg Verlags fand ich nach einigem Suchen in Halle 3.1, gar nicht so weit weg vom Ausgang der U-Bahn, mit der ich angekommen war. Ich wollte mich erst mal unauffällig umschauen. Griff mir irgendeins der am Stand ausgestellten Bücher und tat so, als ob mich das interessierte. Schon der Klappentext klang so betulich erbaulich, dass ich das Werk sofort wieder zurückstellen wollte. Aber da kam schon eine sehr junge Dame – Typ Stewardess, von Outfit und Lächeln her – auf mich zu.
„Kann ich Ihnen helfen?“
„Nun ja, ich dachte, dass ich hier vielleicht Ihren Herrn Büchner antreffen würde.“
„Meinen Herrn Büchner?“, fragte sie, offensichtlich ein wenig irritiert. „Ach so, Sie meinen einen Herrn Büchner von diesem Verlag?“
„Ja, der ist doch Lektor bei Ihnen, oder?“
„Tut mir leid. Ich habe mit diesem Verlag eigentlich gar nichts zu tun. Die haben mich nur angeheuert, damit ich aufpasse, dass nichts wegkommt, solange keiner von denen selbst hier am Stand ist. Aber ich kann Ihnen ein paar Prospekte mitgeben.“
Natürlich hatte ich nicht damit rechnen können, hier gleich Büchner oder gar den Verleger selbst anzutreffen. Aber etwas enttäuscht war ich schon, als die Stewardess mir mitteilte, dass die Vertreterin des Verlages, eine Frau Weidenfeld, wohl erst am Spätnachmittag wiederauftauchen würde. Die Prospekte ließ ich mir trotzdem geben. Meine Hoffnung, darin wenigstens ein Foto des Verlegers zu finden, welches ich schon auf der Verlagswebsite vergeblich gesucht hatte, erfüllte sich auch nicht. So hätte ich den wenigstens erkennen können, wenn er mir zufällig über den Weg lief. Aber dieser Lektor Büchner war für mich ohnehin wichtiger. Bevor ich am Morgen das Hotel verlassen hatte, hatte ich mich an der Rezeption nach einem Herrn dieses Namens erkundigt. Er hatte aber offenbar woanders gebucht. Michael schien ihn auch nicht mal über unser Hotel informiert zu haben. Sonst hätte Büchner dort ja sicher eine Nachricht hinterlassen, nachdem wir uns nicht bei ihm gemeldet hatten.
Ich holte mir einen Becher Kaffee an der Getränkebar in der Agora, der großen Veranstaltungshalle, fand einen freien Stehtisch als Ankerplatz und dachte nach. Ich wollte eigentlich nicht den ganzen restlichen Tag mit warten verschwenden, bis es so weit war, dass mir diese Frau Weidenfeld vielleicht verraten würde, wo ich meinen Mann finden konnte. Schließlich kam ich auf die glorreiche Idee, direkt im Verlag anzurufen. Die würden mir ja sicher die Handynummer ihres Lektors geben können. Ich zog einen der Prospekte aus meiner Jackentasche und fand die Nummer auch gleich. Es meldete sich der Anrufbeantworter. Auch beim zweiten und dritten Versuch. Die liefen wohl alle hier irgendwo auf der Messe herum und die Sekretärin hatte freigenommen, weil während dieser Woche im Verlagshaus sowieso nichts passierte. Schließlich beschloss ich, die Zeit bis zum Spätnachmittag zu nutzen, um mich einfach mal so auf der Buchmesse umzutun. Für einen Buchautor, der ich ja nun unversehens geworden war, gab es schließlich keine bessere Gelegenheit, Kontakte zu knüpfen, die einem vielleicht mal nützlich sein konnten. Für mich als ehemaligem Diplomaten war Kontakte knüpfen ja nun bestens geübte Routine. Ich machte mich auf einen kleinen Rundweg durch die Halle und begann, Ausschau nach Leuten zu halten, die einen so wichtigen oder wenigstens interessanten Eindruck machten, dass es lohnend erschien, sie anzusprechen. Irgendein Vorwand fand sich ja immer. Aber jetzt, wo ich erst mal wieder Zeit, aber kein festes Ziel mehr hatte, meldeten sich mein angebrochener Arm und auch die Zerrungen und Prellungen wieder. Auch die leichten Kopfschmerzen stellten sich erneut ein. Ich begann, ein wenig zu humpeln und dann bemerkte ich, dass manche Leute mir auch ins Gesicht starrten. Die Abschürfungen und Kratzer fielen wohl doch ziemlich auf. Ich brach mein Unternehmen ab, bevor es richtig begonnen hatte, verließ das Messegelände, packte mir unterwegs noch einen Hamburger ein, und ließ mich mit dem Taxi zurück ins Hotel fahren.
Es war schon kurz vor 17:00 Uhr, als ich wieder in Halle 3.1 eintraf und direkt den Stand ansteuerte, an dem ich nun endlich diese Frau Weidenfeld zu treffen hoffte. Stattdessen sah ich dort nur einen sehr intellektuell und noch dazu etwas asketisch wirkenden, nicht mehr ganz jungen Mann vor der Wagenburg-Bücherwand stehen. Der wurde gerade von einem deutlich älteren weißhaarigen Herrn in ein Gespräch verwickelt. Bei Letzterem konnte man schon an der mit Büchern und Prospekten gut gefüllten Plastiktüte erkennen, dass er kein Fachbesucher war. Ich fragte mich, wie der es geschafft haben mochte, hier unter der Woche hereinzukommen, wo die Messe doch erst am Wochenende für das allgemeine Publikum geöffnet wurde.
Der Mann vom Verlag sah eigentlich nicht so aus, wie ich mir Herrn Büchner vorgestellt hatte, aber vielleicht hatte ich Glück und er war es tatsächlich. Während er versuchte, den Alten, den er erkennbar als lästig empfand, irgendwie abzuwimmeln, sah ich ihn mir noch etwas genauer an: Ziemlich groß und schlank, ein Kopf, dessen ovale Form durch die Glatze und eine auffallend hohe Stirn noch betont wurde, ein in der Tat sehr asketisch wirkendes Gesicht, kurzgetrimmter, ins rötliche schimmernder Bart, der links und rechts des Kinns schon grau wurde, eine etwas klobige schwarze Brille. Unter dem eng geschnittenen Anzug in gedecktem Blau trug er ein weißes Hemd mit offenem Kragen, aber keine Krawatte. Alles eigentlich ein wenig zu smart, wie ich fand. Jedenfalls hatte ich mir einen Lektor etwas lässiger in Haltung und Kleidung vorgestellt. Mehr so wie die Autoren, mit denen die ja ständig zu tun hatten. Aber als Erstlingsautor machte ich mir da wohl völlig falsche Vorstellungen. Endlich verabschiedete der mögliche Herr Büchner den Alten mit einem energischen Kopfnicken. Inzwischen hatte er offenbar registriert, dass er beobachtet wurde. Jedenfalls wandte er sich jetzt direkt in meine Richtung. Entschlossen trat ich auf ihn zu.
„Herr Büchner?“, fragte ich und streckte ihm lächelnd die Hand entgegen.
Ungewöhnlich lange – so kam es mir vor – musterte er mich mit einem fragenden, ja geradezu bohrenden Blick durch seine klobige Brille.
„Tut mir leid“, sagte er dann ungerührt, „einen Herrn Büchner gibt es hier nicht.“
Statt meine ausgestreckte Hand zu ergreifen, richtete er seine dunklen Augen mit einem zwischen Skepsis und Strenge einzuordnenden Blick auf die Schlinge, in der ich meinen Arm trug, und auf das Stück Gipsverband, das aus dem Ärmel meines neuen Jacketts hervorsah. Ich musste an einen Lehrer denken, der einen Schüler zur Rede stellen will, der sich mal wieder auf dem Schulhof geprügelt hat. Wen glaubt der eigentlich hier vor sich zu haben, schoss es mir durch den Kopf.
„Habe ich denn eine Chance, dass der Herr Büchner hier heute noch einmal vorbeikommt?“ Ich bemühte mich, demonstrativ freundlich zu sein.
„Ich glaube kaum, dass Sie ihn überhaupt nochmal hier antreffen werden“, gab der Asket zurück, wobei sich seine Züge jetzt immerhin doch noch zu so etwas wie einem kleinen Lächeln verzogen. Ich setzte mich mit einem Kopfnicken, das dem ähneln sollte, mit dem er selbst kurz zuvor den Alten entlassen hatte, in Bewegung. Dann reihte ich mich in den Strom der Messebesucher ein, die inzwischen in größerer Zahl in Richtung Hallenausgang strebten.
Ich ließ mich mit der Menge weiter Richtung U-Bahn treiben. Irgendwie schien sich alles gegen mich und mein Buchprojekt verschworen zu haben. Mein Agent tot, der Lektor, der von dem Buch schon so begeistert gewesen war, unerreichbar, und der einzige Vertreter des Verlages, den ich bisher kennengelernt hatte, seltsam abweisend. Meine letzte Chance, hier auf der Buchmesse weiterzukommen, war jetzt der große Messeempfang, für den Michael uns eine Einladung besorgt hatte – auch wenn ich immer noch nicht wusste, wie der Verleger, den ich dort ‚zufällig‘ treffen wollte, überhaupt aussah. Dieser Empfang war auch erst morgen Abend. Irgendwie musste ich die Zeit bis dahin überbrücken. Im Hotel würde mir nur die Decke auf den Kopf fallen und schlafen würde ich kaum können, nachdem ich schon den halben Tag verpennt hatte und mir so viel im Kopf herumging. Ich beschloss, in die Stadt zu fahren und ins Kino zu gehen. In der Stadtzeitung FRIZZ, die im Hotel auslag, hatte ich den Hinweis auf die lange Kino-Nacht im Pupille gesehen. Einen dieser verfilmten Vatikan-Thriller nach dem anderen. Eine offenbar ironisch gemeinte Hommage an das Genre. Sicher nicht so interessant, wie die lange Lesenacht im Café Exzess, die ich verpasst hatte, aber in meiner Verfassung genau das Richtige. Ich habe dann aber nur bis zum ‚Inferno‘ (mit Tom Hanks) durchgehalten. Der Plot war noch schwachsinniger als beim ‚Da Vinci Code‘, dem Film davor. Kurz nach Mitternacht war ich wieder im Hotel, hängte noch das Bitte-nicht-stören-Schild raus und schlief dann tatsächlich durch bis gegen Mittag am nächsten Tag.
Kurz nach 18:00 Uhr betrat ich die große Halle der ‚Agora‘, wo im Halbkreis um das Podium herum die Stehtische für den Empfang aufgebaut waren. Wie ich erwartet hatte, war noch nicht allzu viel los. Aber ich wollte von Anfang an dort sein, weil ich nicht wusste, wann Joseph Altzinger, der Herr Verleger, hier aufkreuzen würde. Allzu viel Zeit würde ich nicht haben, um eine Gelegenheit zu finden, ihn anzusprechen. Und dafür musste ich ihn ja auch erst mal identifizieren. Wenigstens war ich in dieser Kunst dank langjähriger Erfahrung geübt. Nach Michaels Beschreibung musste der Chef des Wagenburg Verlags ein schon etwas älterer Herr sein. Auch schon von der Kleidung und vom ganzen Habitus her würde ich ihn von den zahlreichen Literaturagenten, Autoren und deren Verehrern, den hoffnungsvollen Möchtegern-Schriftstellern und allen sonstigen Randfiguren der Buch- und Literaturszene, die hier versammelt waren, leicht unterscheiden können. Er würde als Vertreter eines eher unbedeutenden Verlages auch kaum je im Mittelpunkt einer größeren Zahl von Personen stehen. Er würde einzeln, allenfalls noch von einer Mitarbeiterin oder einem Mitarbeiter begleitet, langsam seine Kreise ziehen, hier und da einen Herren oder eine Dame eher seriösen Typs begrüßen oder auch einen Moment mit ihnen plaudern. Und ich würde mich den Herren, die diesem Steckbrief in etwa entsprachen, unauffällig nähern müssen, um aus den Wörtern oder Gesprächsfetzen, die ich aufschnappen konnte, schließen zu können, ob es tatsächlich der Gesuchte war. Vielleicht würde das Wort ‚Wagenburg‘ fallen. Oder sogar von einem ‚wirklich außergewöhnlichen religionskritischen Manuskript‘ die Rede sein, welches ein unbekannter Autor gerade eingereicht hatte...
Ich war so mit meinen Gedanken beschäftigt, das ich erst jetzt einen ziemlich großen, fülligen älteren Herrn bemerkte, der sich in Begleitung einer schlanken Dame im Business-Kostüm auf der anderen Seite des Podiums gemächlich zwischen den mittlerweile schon recht zahlreichen Gästen hindurchschob. Seine von einem grauen Haarkranz umfasste, glänzendpolierte Glatze und das pausbäckige Gesicht mit dem Doppelkinn darunter waren auch aus größerer Entfernung gar nicht zu übersehen. Das musste er sein! Kaum hatte ich mich auf den Weg durch die Menge in seine Richtung gemacht, als mich ein lauter Zuruf stoppte.
„Ach, da sind Sie ja auch wieder!“
Den Tonfall kannte ich! Und diese etwas burschikose Begrüßung hatte tatsächlich mir gegolten. Der asketische Typ, der mich am Vortag am Wagenburg-Stand so knapp abgefertigt hatte, verbaute mir regelrecht den Weg. Immerhin lächelte er diesmal etwas freundlicher.
„Oh, der freundliche Herr von Wagenburg“, begrüßte ich ihn meinerseits.
„Ja“, antwortet er und zauberte jetzt sogar ein ausgesprochen gewinnendes Lächeln auf sein Gesicht. „Darf ich mich vorstellen: Gregor Neumann mein Name. Verlag Wagenburg, in der Tat. Es tut mir leid, dass ich gestern Abend etwas kurz zu Ihnen war. Aber Sie werden verstehen, dass man sich als Vertreter eines nicht allzu großen Verlages hier auf der Messe erst einmal voll aufs Geschäftliche konzentrieren muss.“
„Dafür habe ich natürlich vollkommen Verständnis“, antwortete ich höflich und versuchte, meine Überraschung und Ungeduld zu verbergen. Ich hatte also tatsächlich diesen Herrn Neumann vor mir, vor dem Michael mich ausdrücklich gewarnt hatte. Aber da musste ich jetzt durch.
„Gerion“, sagte ich und reichte ihm die Hand.
Diesmal griff er danach und schüttelte sie.
„Freut mich wirklich sehr, Sie kennenzulernen.“
Mir kam der Verdacht, er könnte von Anfang an gewusst haben, wer ich war. Jedenfalls stellte er keine der Fragen, die andernfalls an dieser Stelle zu erwarten gewesen wären. Was ich auf dieser Messe denn täte, zum Beispiel. Oder gar, ob ich Buchautor wäre. Er schien nicht mal zu erwarten, dass ich ihn meinerseits nochmal was fragen oder ein Anliegen an ihn haben würde. Stattdessen machte er eine belanglose Bemerkung über den Rotwein, der hier ausgeschenkt würde. Nicht gerade berauschend sei der.
„Schade“, sagte ich. „Wo ich doch gerade jetzt einen kleinen Rausch gut gebrauchen könnte.“
Er lachte kurz auf, und wieder warf einen Seitenblick auf meinen Gipsarm. Aber auch diesmal war der ihm keine mitfühlende Bemerkung oder wenigstens eine Frage wert. Ganz so, als ob er es selbstverständlich fände, dass ich hier so lädiert herumlief. Stattdessen meinte er kryptisch:
„Es gibt Dinge, mit denen sollte man nicht spaßen. Das dürfen Sie nie vergessen.“
Das konnte sich durchaus auf das Berauschen beziehen. Oder vielleicht doch auf den Gipsarm? So oder so, diese Bemerkung hatte einen eindeutig warnenden Unterton. Das war mir in dem Moment aber egal, denn ich wollte auf keinen Fall die Gelegenheit verpassen, mich an den Mann heran zu machen, der möglicherweise Neumanns Chef war. Genau das aber schien dieser undurchsichtige Herr verhindern zu wollen. Oder schon verhindert zu haben. Ich konnte den großen Dicken mit der Glatze nämlich nirgendwo mehr entdecken. Neumann folgte meinem Blick in Richtung Bühne und wandte sich dann mit einem zufrieden wirkenden Gesichtsausdruck wieder mir zu. Wie jemand, der glaubt, ganze Arbeit geleistet zu haben. Die schmalen Augen hinter den dicken Brillengläsern musterten mich noch mal kurz, aber eindringlich.
„Passen Sie auf sich auf“, sagte er leise. Dann wandte er sich ab, hob die Hand wie zum Abschied, aber es sah eher wie ein Abwinken aus. Da strebte er auch schon mit energischen Schritten direkt dem Ausgang der Halle zu.
Mich ließ er ein wenig ratlos zurück. Der einzige Reim, den ich mir auf diese seltsame Begegnung machen konnte, war der, dass Neumann soeben nur deshalb von sich aus auf mich zugekommen war, um sich ein noch etwas klareres Bild von mir zu machen. Das aber konnte tatsächlich nur bedeuten, dass er inzwischen – wenn nicht sogar von Anfang an – bestens über alles unterrichtet war. Warum ich hier auf der Messe war. Über mein Manuskript. Über meine Verbindung zu Michael. Ja, auch dass der nicht bei mir war, weder hier auf dem Empfang noch am Vorabend an seinem Stand, hatte ihn offenbar in keiner Weise gewundert. Warum aber hatte er mich dann nicht wenigstens noch auf das Manuskript angesprochen? Er schien es gezielt darauf abgesehen zu haben, zu verhindern, dass ich seinem Chef mein Anliegen bezüglich des Buches vortrug. Mehr noch: Er wollte mich offensichtlich verunsichern. Jedenfalls musste ich nun wohl davon ausgehen, dass er mein Manuskript abgefangen hatte, bevor es unserem Lektor gelungen war, es an ihm vorbei direkt dem Verleger vorzulegen. Wenn meine Interpretation seines Verhaltens zutraf, gab es für mich offenbar auch keine Chance mehr, diesen Altzinger hier auf der Messe doch noch irgendwo zu erwischen. Damit blieb mir also nur noch eine Möglichkeit, Licht in diese mysteriöse Angelegenheit zu bringen. Ich musste nochmal versuchen, mit diesem Büchner in Verbindung zu kommen.
Langsam bahnte ich mir einen Weg durch das Gedränge in Richtung Ausgang. Hier hatte ich jetzt nichts mehr zu gewinnen. Den Bereich der Stehtische hatte ich schon hinter mir, als mich erneut jemand ansprach. Eine Dame mittleren Alters, also ein wenig jünger als ich, propere Figur in einem enganliegenden schwarzen Kleid mit auffallend großzügigem Ausschnitt und einem eigentlich ganz sympathischen, wenn auch für meinen Geschmack ein wenig übertrieben extravagant geschminkten Gesicht.
„Sie sehen aus, als ob sie ein bedeutender Autor wären“, flötete sie mit gewinnendem Augenaufschlag.
„Hm“, machte ich erst mal nur. Ich war etwas unsicher, wie man als bedeutender Autor auf so eine Eröffnung reagiert.
„Was für ein Buch wird es denn diesmal?“
Ich warf einen kurzen Blick in die Runde, wie um mich zu vergewissern, dass niemand uns zuhörte und antwortete leise: „DAS Buch.“ Dabei hob ich meinen bandagierten Arm etwas an, um die Ernsthaftigkeit dieser Aussage zu unterstreichen.
„Wie interessant! Wissen Sie, ich bin eine große Bewunderin der Kunst. Und für mich ist die Literatur die allerhöchste der Künste. In welchem Genre darf ich denn ihr Werk verorten?“
„Es ist ein Werk der Aufklärung“, verkündete ich. „Seriös, natürlich, aber doch voller Humor. Und wissen Sie, was der spannendste Aspekt des ganzen Themas ist?“ Ich machte eine kleine, bedeutungsvolle Pause, blickte ihr direkt in die fragend geweiteten tiefblauen Augen und fügte leise hinzu: „Das Verhältnis von Religion und Sex!“
„Oh“, hauchte sie. „Wie aufregend.“ Dann lachte sie laut auf. „Sie sind mir einer! Aber ich liebe Menschen mit Humor. Eigentlich hatte ich vermutet, dass Sie so etwas wie Krimis oder Romane schreiben. Oder über gefährliche Abenteuer in fremden Ländern.“
Dabei blickte sie vielsagend auf meinen Gipsarm. Ich folgte ihrem Blick.
„Auch die seriöse Literatur ist nicht ohne Risiken“, sagte ich.
Wieder brach sie in lautes Gelächter aus. Ich war mir inzwischen nicht mehr ganz sicher, wer hier wen auf dem Arm nahm. Ihre Absichten schienen aber doch ein klein wenig ernsthafter zu sein.
„Wirklich, ich mag Ihren Humor. Ich würde unsere kleine Unterhaltung liebend gern bei einem Glas Wein fortsetzen. Ich kenne da ein wunderschönes kleines Lokal in Bockenheim, gar nicht weit.“
Fragend neigte sie sich zu mir vor, so dass sich ein tieferer Blick auf ihre so freizügig dargebotenen Reize gar nicht vermeiden ließ. Es wurde höchste Zeit, den Rückzug anzutreten. Ich wandte meinen Blick ruckartig meinem linken Handgelenk zu und dann ebenso ruckartig dem rechten, wo ich meine Armbanduhr wegen des Gipsverbandes jetzt trug.
„Oh, schon so spät! Das tut mir jetzt wirklich leid, aber mein Verleger hat noch etwas arrangiert für heute Abend. Und vorher muss ich nochmal schnell ins Hotel. Dabei hätte auch ich nur zu gern...“, ich fummelte in meiner Jackentasche herum, „Ach, und meine Visitenkarten sind mir auch ausgegangen.“
„Zu schade“, sagte sie, öffnete ihre Handtasche und überreichte mir die Ihre. Sie schien tatsächlich aufrichtig enttäuscht zu sein. Höflich studierte ich kurz ihre Karte. Ihr Name in geschwungener Schrift. Ansonsten nur noch, rechts unten ganz klein, eine Handynummer. Kein Titel oder sonstiger Hinweis, der mir weitere Rückschlüsse erlaubt hätte.
„Ich habe ja jetzt Ihre Telefonnummer“, tröstete ich sie.
Da sie ihre Hand, mit der sie mir die Karte gereicht hatte, weiterhin ausgestreckt hielt, fiel mir nichts Besseres ein, als sie zu ergreifen und einen Handkuss darauf zu hauchen. Nichts anderes hatte sie offenbar erwartet. Mit einem huldvollen Lächeln entließ sie mich. Ich verließ mit schnellen Schritten und entschlossenem Gesichtsausdruck die Agora, um bloß nicht noch jemandem Gelegenheit zu geben, mich anzusprechen. Dabei musste ich diesem Literatengroupie eigentlich dankbar sein, dass sie mich aus meinen düsteren Gedanken gerissen hatte.
16. Juli
Endlich eine erste Nachricht von Martina über unseren ‚Familienchat‘! Wir hatten zwar vereinbart, diesen Kommunikationsweg aus Sicherheitsgründen nicht allzu häufig zu benutzen, aber meine erste Message, in der ich gemeldet habe, dass ich mich hier auf meiner Insel (geschrieben habe ich ‚hier in Bayern‘) inzwischen gut eingerichtet habe und mit meinen Aufzeichnungen gut vorankomme (‚ich mich schon gut erholt habe‘), habe ich schon vor neun Tagen an Max abgesetzt. Ich habe mir Martinas Nachricht ausgedruckt: „Ich vermisse dich so. Inzwischen finde ich deine Idee mit dem gemeinsamen Urlaub unter Palmen doch nicht so schlecht. Hoffe, wir können das möglichst bald doch mal realisieren.“
Adressiert ist diese Nachricht natürlich an Max. Der hatte übrigens auch die Idee zu diesem ‚Familienchat‘, der zu den diversen Sicherheitsmaßnahmen gehört, die wir noch bei ihm in Amsterdam vereinbart haben. Es handelt sich um ein für die Gegenseite hoffentlich nicht so leicht zu knackendes vertrauliches Verfahren für die gesamte Kommunikation unter uns dreien. Dazu kann ich hier aus sicher verständlichen Gründen nur Andeutungen machen. Facebook oder WhatsApp, wo Gruppen-Chats bis heute immer noch nicht verschlüsselungsfähig sind, nutzen wir jedenfalls nicht. Auch mein persönliches Handy habe ich hier natürlich nie eingeschaltet und bewahre es getrennt von der Chipkarte auf. Stattdessen nutze ich meine gelegentlichen kurzen Ausflüge mit dem Bus auf die andere Seite der Insel, wo ich in einem kleinen Kaff ein Internetcafé entdeckt habe, um Nachrichten mit Martina und Max auszutauschen. Dabei haben wir für bestimmte Dinge (vor allem Ortsangaben) auch noch gewisse Codewörter oder (bei Datumsangaben) Umrechnungsregeln vereinbart. Als zusätzliche Sicherung läuft alles über Max. Es soll so aussehen, als hätte Martina sich von mir getrennt und würde jetzt etwas mit ihm angefangen haben. Falls ‚die‘ trotz allem in der Lage sein sollten, Maxens Kommunikation zu überwachen, ist es uns lieber, sie glauben, Martina ‚hätte was‘ mit ihm, als dass sie mir und meinem derzeitigen Aufenthaltsort auf die Spur kommen. Auch wenn die wissen, dass Martina ein Stück älter als Max ist: Wer mal ihr strahlendes Lächeln gesehen hat oder hört, wie herrlich sie lachen kann, glaubt sofort, dass sie auch bei jüngeren Männern noch Chancen hat. Wenn ich denke, wie Max sie manchmal ansieht...