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DIE GESELLSCHAFT FÜR PROLETARISCHEN TOURISMUS

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Mittlerweile sind die Brüder 25 und 24 Jahre alt. Witali ist diplomierter Maschinenbauingenieur und Jewgeni hat die Kunstakademie abgeschlossen. 1931 muss man sie sich in einem Zug vorstellen, der in die kleine kaukasische Republik Kabardino-Balkarien fährt. Die Brüder Abalakow sind kräftige und starke junge Männer geworden. Jewgeni ist noch stämmiger als sein großer Bruder, mit tiefblauen Augen, hellbraunem Haar wird er als immer heiter beschrieben. Witali seinerseits spricht schnell und scharf, er hat einen ungestümeren Charakter. Er hat ein schmales Gesicht, das später faltig wird und nie rund. Seine knochige Gestalt spiegelt die Askese wider, der er sich verschrieben hat. Seine Kahlheit schreitet voran, aber noch hat er nicht diesen Kahlkopf mit abstehenden Ohren, der der Nachwelt bekannt ist.

Eine junge Frau, Valentina Tscheredowa, ist mit dabei. Sie ist ebenfalls aus Krasnojarsk, auch sie hat das Klettern an den Stolby gelernt. Sie ist Witalis Jugendliebe. Ein erstes Herzklopfen, das ewig bleibt. Die ganzen Studienjahre lang hat Valentina brav in Sibirien am Ufer des Jenisseis gewartet. Es sei denn, sie lebte die freie Liebe, um gegen die überholten bourgeoisen Sitten aufzubegehren. Wer weiß? Wie dem auch sei, schließlich zog sie zu ihrem Zukünftigen in die Hauptstadt. Das ist der Lauf der Dinge in Sachen Ehe in diesem weiten Land. Hier ziehen die jungen Männer als Aufklärer den Trugbildern der Großstadt entgegen. Wenn sie dort einmal Fuß gefasst haben, lassen sie ihre Verlobten nachkommen, die sie im hintersten Winkel des trostlosen Flachlandes zurückgelassen haben und die befürchten, von einer eleganten Dame auf einem Moskauer Boulevard in den Schatten gestellt zu werden.

Witali hat Valentina nicht vergessen. Sicher betrachtete er am Abend nach seinen Kursen die sportliche und kräftige junge Frau, die zu Beginn der UdSSR und ihres Lebens posiert, ein Moment, den ein schmachtender Verehrer auf einem Sepiafoto verewigt hat. Mit ihrem Bubikopf ist sie der Inbegriff einer jungen und emanzipierten Kommunistin. Jetzt, da sie zivilrechtlich verheiratet sind, rollt der Zug in Richtung Kaukasus. Diesen haben Witali und Jewgeni nur das eine Mal im vorigen Sommer von den üppigen Ufern des Schwarzen Meers aus gesehen. Keiner von ihnen hat jemals einen Fuß auf einen Gletscher gesetzt. Sie sind nicht in Tälern groß geworden, nicht im Schatten schwindelnd hoher Berge geboren. Sie sind in den unendlichen Ebenen auf die Welt gekommen, die einen an Galileo zweifeln lassen, am Ufer des Jenisseis. Dieser Fluss durchzieht den gesamten Bauch Eurasiens, mächtig, glatt, faszinierend ist er das einzig Bemerkenswerte in dieser Landschaft.

Drei Tage auf Schienen. Die Sibiriaken kennen das Zugfahren. Sie verbringen ganze Monate ihres Lebens im Zug. Bis dahin sind die Brüder Abalakow fast jeden Sommer nach Krasnojarsk zurückgekehrt. Wochenlanges Reisen, natürlich um Valentinas schöner Augen willen, aber auch, um ihrem Abenteuergeist Freiraum zu geben, ermöglicht durch die Ersparnisse, die der Ingenieur Witali mit seinen ersten Patenten erwirtschaften konnte. Der Künstler Jewgeni verdient noch keinen müden Heller. Nichts Neues unter der Sonne, selbst wenn sie kommunistisch war, und sicherlich nichts, das ihre Eintracht stören könnte. In diesem Alter scheinen sie unzertrennlich zu sein, wie sie wochenlang in die unbekannten Gebirgsmassive des Altai oder Sajan vorstoßen.

Es wäre ein zu großer Exkurs, von diesen äußerst wilden initiatorischen Streifzügen zu erzählen. Ich würde einfach sagen, dass sie die Brüder Abalakow definitiv geprägt haben. Die Bären sicherlich, aber auch die zugefrorenen Flüsse, die Nächte auf einer von der Glut aufgewärmten nackten Erde, die „ohne jeden Nagel“ zusammengebauten Flöße. Welch strahlende Jugend, die ihre Schritte nach den Sternen oder dem Kompass richtet und sich zu den Quellen des Jenisseis aufmacht! Jewgeni wird darüber schreiben: „Unsere Vorräte waren aufgebraucht, wir ernährten uns von Kräutern und Beeren … Die meiste Zeit schwammen wir neben dem Floß, das in den Stromschnellen überschwemmt wurde … Wir haben uns definitiv das Reisevirus eingefangen.“

Und dieses Mal endlich der Kaukasus! Der Zug bremst laut an der Endstation, an der Pforte zum Orient, die die Russen so sehr fasziniert. Valentina, Witali und Jewgeni treffen in Naltschik ein, von wo aus man den 5642 Meter hohen Vulkan Elbrus schimmern sieht. Sie beziehen ihr Quartier in den mehr als dürftigen Unterkünften der Gesellschaft für proletarischen Tourismus4. Anders gesagt: Sie richten sich voller Freude in einem Aul ein, jenen seit Urzeiten unveränderten Steindörfern der balkarischen Hirten. Was für ein Name, diese Gesellschaft für proletarischen Tourismus! Sie wurde gerade von einer Handvoll Lenins ehemaliger Exilgenossen gegründet. Als sie in den Schweizer Bergen auf eine Revolution warteten, die selbst Wladimir Iljitsch nicht mehr zu erleben glaubte, brachen einige zu Gipfeltouren auf, manche beabsichtigten sogar, die Bergführerprüfung abzulegen. Nun ist es ihr Ziel, jungen Sowjets die Kunst des Bergsteigens beizubringen, und zwar in ihren eigenen Bergen, auch wenn sie es weiterhin alpinism nennen.

In Auf kühner Reise – Von Moskau in den Kaukasus5 teilt die Schweizer Abenteurerin Ella Maillart die plötzliche Begeisterung der Sowjets für Sport im Freien. Die Verfassung garantiert den Arbeitern ein Recht auf Urlaub und in den Fabriken sind proletarische Wandersektionen entstanden. Es geht darum, sich das gewaltige Territorium der Union im Zeichen der „sozialistischen Vaterlandsliebe“ anzueignen. Die hohen Berge sind nicht mehr wie zur Zarenzeit nur der Aristokratie vorbehalten, sondern gehören von nun an dem Volk! Auch wenn es vor allem Studenten sind, die, mit dem Segen der Partei, leidenschaftlich gern Bergsteigen gehen. Ella Maillart zieht mit einigen von ihnen los, wobei sie fast von einem Balkaren entführt wird. Sie beobachtet die „Bildungspropaganda“, die Wanderkinos, oder notiert die Absicht, die kaukasischen Völker von ihren mittelalterlichen Bräuchen und Vendettas loszureißen, um sie zu modernem Wohlstand zu führen. Das sind die Tugenden der Oktoberrevolution …

In der Alpinismussektion der Gesellschaft für proletarischen Tourismus lernen die Brüder Abalakow und Valentina, angeleitet von ein paar Kameraden, die kaum mehr wissen als sie selbst, schnell dazu. Die Gesellschaft ruht einzig und allein auf der Begeisterung ihrer Mitglieder (Pessimismus ist nämlich ein spießiger Makel), auf der Unterstützung einiger Bolschewiken, auf wenigen langen Eispickeln, Steigeisen ohne Vorderzacken und einfacher Technik. Auch wenn die Brüder Abalakow in den Stolby ohne Seil und Haken kletterten, „im Unterschied zu westlichen Kletterern“, wie ich weiß nicht mehr welcher Autor prahlt, werden sie schnell mit dieser unentbehrlichen Ausrüstung vertraut. Valentina lernt die Lektionen im Eisklettern genauso gut wie ihre Begleiter, und das Autodidaktentrio wird unmittelbar einen erstrangigen Gipfel bezwingen.

Gegen Ende des Sommers werden zwei Schweizer (die UdSSR hat sich Ausländern noch nicht verschlossen) und ihre Moskauer Begleiter am Missestau als vermisst gemeldet, einem 4425 Meter hohen Gipfel des unberührten Bezengi-Gletschersystems. Da kaum mehr als eine Handvoll aktiver Bergsteiger verfügbar ist, werden die Abalakows für die Suche mobilisiert. Sie erkunden Gletscherspalten und Séracs, durchkämmen die Wände, suchen in Winkeln und Vorsprüngen. Bald finden sie Überreste ausländischer Konserven oder Schweizer Schokolade – ein sich wiederholendes Klischee in den sowjetischen Chroniken. Die Leichen aber bleiben unauffindbar.

Was dann passierte, habe ich in allen Texten gelesen, es ist überall auf die gleiche Art und Weise beschrieben. Die Erstbesteigung. Klares Wetter, unten die ersten Wiesen, die Bäche, Almen, Weidezäune. Absolut unbeeindruckt von der Tragödie ziehen unsere Helden es vor, einen benachbarten Gipfel zu besteigen, den Dychtau. Das bedeutet auf Balkarisch „Himmelsberg“, mit seinen 5205 Metern ist er als zweithöchster Gipfel des Kaukasus der Thronfolger des Elbrus. Wer kennt schon im Westen diese kühnen Bergspitzen und Republiken, deren Namen unmöglich auszusprechen sind? Über einen überwechteten Grat, der die beiden Berge miteinander verbindet, rücken sie in Richtung Ziel vor. Es scheint unglaublich, aber nur Witali hat Steigeisen an.

Mit Valentina biwakieren sie auf 4700 Metern Höhe in schneidender Kälte. Sie haben Durst und nichts, um Schnee zu schmelzen. Die Ausrüstung ist dürftig und zusammengestückelt, statt Seilen haben sie nur Feuerwehrleinen dabei. Zum ersten Mal begeben sie sich in solche Höhen. Und doch finden sie auch hier das vertraute Ringen mit dem Felsen wieder. Ihre Hände kennen die Übung. Ihre Nerven sind die Anspannung der Ausgesetztheit gewohnt. Die endlos aufeinandergetürmten Felsblöcke ähneln den Spielzeugen ihrer Kindheit und die in den Himmel ragenden Granitspitzen rufen sie. Am Morgen des 5. September stoßen sie endlich zum Gipfel vor, nachdem sie sich durch tiefen Schnee und über einen letzten Vorsprung gekämpft haben. Unter einem Stein finden sie eine Konservendose und darin eine Notiz auf Deutsch als Beweis für den Gipfelgang. Auch sie kritzeln eine Nachricht für die Nachwelt, gezeichnet „Abalakow“.

Erstaunen in der verblüfften Welt des sozialistischen Alpinismus. Gerade haben Unbekannte im Kaukasus die Ehre der Nation gerettet! Sie haben sich dort hochgearbeitet, wohin vorher nur Fremde ihren Fuß gesetzt hatten. Man ist verblüfft, wie sie das Klettern beherrschen. Über sie wird zum ersten Mal in den Zeitungen berichtet. Man hebt ihre Eigenschaft als siberjaki und Kosaken hervor. In der russischen Vorstellung erwecken diese zwei Wörter das Bild von charakterstarken und unerschrockenen Landvermessern, die die Grenzen ihres Landes, das so groß ist wie ein Kontinent, sowohl schützen als auch erweitern. Selbst der Name Abalakow ist das genealogische Echo einer uralten Waldkultur, eines antiken Russlands, das in den unbekannten Tiefen eines „Far East“ aufgebrochen ist. Und hier sind jetzt diese Pioniere, die von nun an die Grenzen in Richtung Himmel verschieben!

Hier, auf diesem kaukasischen Riesen, beginnt die Geschichte der Abalakows. Was unsere Helden betrifft, habe ich mir das Foto, das sie unsterblich machte, lange angesehen. Links ein kräftiger Jewgeni, eine kaukasische Mütze auf dem runden Kopf. Rechts ein schmalerer Witali, ausgemergelt, mit hoher, breiter und kahler Stirn. Er ist so blond, dass seine Haare auf dem Schwarz-Weiß-Abzug fast weiß erscheinen. Sie haben beide Pluderhosen an, und wie sie da im Gras posieren, sind sie so unterschiedlich. Jewgeni strahlt eine freche Gesundheit und Kraft aus, auch in seinem offenen Blick. Witali meidet das Objektiv, sein Blick schweift wie aus Verlegenheit über die Wiese. Man erkennt am Abstand ihrer Augen, dass sie Brüder sind, an ihren Nasen und an ihren Mündern. Und dann gibt es da ein Detail, das man am Anfang gar nicht bemerkt. Sie halten sich an der Hand. Oder vielmehr scheint Jewgenis Hand auf der halbgeschlossenen Faust Witalis zu liegen.

Von nun an werden sie nur noch für diese Saison im ewigen Schnee leben. Jeden Sommer werden sie verreisen. Witali wird erst im Herbst wieder in seine Fabrik zurückkehren. Die Kunst wird für Jewgeni eine Winterbeschäftigung werden. 1932 wird er ausgewählt, ein Lenin-Monument zu realisieren. Für die Bildhauer seiner Zeit ist das ein riesiger Markt. Stalin hat beschlossen, den Kommunismus in die Landschaft einzupflanzen. Jeder Platz jedes Dorfes jeder Republik in ganz Eurasien muss seinen Wladimir Iljitsch haben, der mit einer Arbeitermütze auf dem Kopf und seinem Proletariermantel auf den Schultern mit ausgestrecktem Arm den Weg weist. Der Lenin des Bildhauers Abalakow ist für die Stadt Kertsch auf der Krim bestimmt. Ich habe einen alten Abzug dieses Werks gefunden, das später bei der Invasion der Nazis zerstört wurde. Darauf sieht man das ziemlich schlichte Abbild Lenins, vermutlich lebensgroß, nach den Regeln des sotsrealism entworfen.

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