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PIK STALIN
ОглавлениеEnde August erreicht Gorbunow endlich das Basislager. Vor drei Monaten hat die Expedition begonnen. Die Visagen der Teilnehmer sind seit Langem verbrannt und zerfurcht, die Blicke geblendet, die Finger verbunden. Im Gepäck führt Gorbunow die berühmte Wetterstation mit, die die Alpinisten auf den Gipfel bringen sollen. Sein plötzliches Auftauchen setzt der Lethargie, in der sich das Lager seit zwei Wochen wiegt, augenblicklich ein Ende. Es ist keine Minute mehr zu verlieren. Der Chef ist da und der Sommer neigt sich dem Ende zu.
Die Besteigung beginnt am 22. August, die Rucksäcke zum Bersten voll, das Seil über der Schulter, das Gesicht weiß vom Lanolin. Abalakow und Guschin steigen zum vierten Mal und in Rekordzeit zum Nordgrat auf. Gorbunow bewegt sich mit seiner hohen Statur deutlich bedächtiger. Unter dem Vorwand, die Gradanzeige auf seinem Thermometer zu notieren, macht er Pausen. Die Wissenschaft dient als Alibi für seine Langsamkeit. Laut Romm zieht er auch regelmäßig eine Dose des Beruhigungsmittels Bromisoval aus der Tasche.
Das Lager auf 5900 Metern ist in erbärmlichem Zustand. Die Männer müssen die Zelte freilegen, die in eine Spalte gerutscht sind. Am nächsten Tag passieren sie einen Gendarmen nach dem anderen. Die schwindelnd steile Wand des fünften zwingt die Träger zum Rückzug, bis sie schließlich einwilligen, der Seilschaft Abalakow-Guschin zu folgen. Doch als diese oben ankommen, sehen sie nur noch die zurückgelassenen Rucksäcke an seinem Fuß und Gestalten, die sich schnell davonmachen. Wohl oder übel müssen die zwei Alpinisten ab- und wieder aufsteigen, um notwendige Lasten nach oben zu hieven, wobei sie über einem Hunderte Meter tiefen Abgrund tanzen.
Am sechsten, noch unbezwungenen Gendarmen führt Jewgeni Abalakow. Auf einmal löst er aus Versehen einen Stein, der auf Guschin herabschießt, ihn an der Hand trifft und das Seil durchtrennt. Jewgeni klettert ganz ohne Sicherung ab. So gut es geht, versorgt er die Wunde seines Kameraden, der trotz Schmerzen nicht aufgibt. Dieses Mal hätte Jewgeni beinahe Guschin getötet. Jetzt sind sie quitt. Beiden gelingt es, das letzte felsige Hindernis zu überwinden. Der Weg zum Gipfel liegt nun frei. Sie müssen nur noch ein paar Dutzend Stufen in die Eiswände schlagen. Es wird dunkel. In seinen Tagebüchern spricht Jewgeni davon, einen völlig erschöpften Guschin „hinterherzuziehen“. Auf 6400 Metern erwartet sie in der Finsternis ein schmaler Felsvorsprung. Sie biwakieren unter einer Zeltplane. Guschin stöhnt die ganze Nacht. Seine Hand blutet und schwillt an. „Man kann das Fleisch nicht von der Binde unterscheiden“, schreibt Jewgeni.
25. August. Jewgeni richtet das neue Höhenlager ein. Gegen zwei Uhr erscheinen drei entsetzte Träger. Hastig werfen sie ihr Gepäck ab. Sie bringen auch eine Nachricht von Gorbunow mit, der aus irgendeinem Grund wütend ist. Darin wird mehrmals die Eigenschaft dieser Expedition als „staatliche Mission“ hervorgehoben. Anders gesagt, der Gipfel muss um jeden Preis erreicht werden. Gorbunow wird am nächsten Tag aufsteigen.
26. August. Jewgenis Aufzeichnungen: „Klares Wetter heute Morgen. Der Höhenmesser ist wieder auf 6950 Meter angestiegen. Eigentlich wollten wir den Grat erkunden, aber ich habe angefangen zu zeichnen und dabei die Zeit vergessen. Danil Iwanowitsch [Guschin] hatte auch keine große Lust aufzusteigen.“ So erfährt man, dass Jewgeni Abalakow auf 6400 Metern in aller Ruhe die Landschaft skizzierte! Man muss sagen, dass das senkrechte Meer ewigen Schnees ein atemberaubendes Naturschauspiel bietet. Seine Betrachtungen werden durch Gorbunows Ankunft unterbrochen, dem er eilig entgegenläuft. Er nennt ihn zwar „Nikolai Petrowitsch“, siezt ihn aber. Gorbunow ist so erschöpft, dass er seinen Rucksack zurücklässt, angeblich, um ihn später wieder zu holen. Jewgeni wird sich im Mondschein darum kümmern. Revolution hin oder her, man ist immer jemandes Träger.
Ab jetzt sind sie zu viert: Abalakow, Guschin, Gorbunow und der zukünftige Testpilot Schianow. Sie verbringen die Nacht zusammen in zwei windigen Zelten neben der Wetterstation, die unter so großer Anstrengung heraufgeschleppt wurde und sie wahrscheinlich den Erfolg kostete. Guschins Hand geht es besser. Er und Abalakow brechen am nächsten Tag auf, beladen mit allen Teilen des Forschungsgeräts. Der Grat besteht nur noch aus tiefem Schnee, der sich zu einem abschüssigen und von Spalten durchzogenen Plateau hin öffnet. Keuchend erlauben sie sich alle zwanzig Schritte, auf ihre Eispickel gestützt oder im Schnee kauernd, eine Pause. Auf ungefähr 6900 Metern legen sie ihre Last ab und kehren um.
Am nächsten Tag, dem 28. August, sind sie immer noch auf 6400 Metern. Gorbunow war nicht in der Lage, höher aufzusteigen. Sturmböen haben ihren Zelten schwer zugesetzt. Die Träger versorgen sie nicht mehr. Glücklicherweise können Guettier und der österreichische Kommunist Zak sie mit Lebensmitteln, ein paar Brühen und Rinderzunge, einholen. Anton Zak11 ist aktives Mitglied des Republikanischen Schutzbunds, einer linken paramilitärischen Organisation. Diese wird vom Faschismus, der sich im „germanisierten“ Europa ausbreitet, verfolgt. Ihre Mitglieder wandern in großer Zahl in die UdSSR ab, deren politisches Ideal sie teilen. Unter ihnen sind zahlreiche Alpinisten, die die Gesellschaft für proletarischen Tourismus tatkräftig unterstützen.
29. August. Gemeinsamer Versuch, zum Gipfel vorzustoßen. Gorbunow geht am Seil mit Guettier, Abalakow mit Guschin und Schianow mit Zak. Die Höhe macht zu schaffen, der Puls rast. Bei allen außer einem! Das Herz Abalakows, wie Romm betont, schlug nur achtzig Mal pro Minute. Jewgeni selbst behauptet in seinem Tagebuch, dass er „Lieder grölt“! Kaum zu glauben. Auf 6900 Metern findet er die Wetterstation wieder und richtet ein Notbiwak ein. Die anderen kommen völlig erschöpft und durchgefroren an. Sie zwängen sich zu dritt in die Zelte. Das Ziel erscheint so nah, aber die Männer haben keine Ressourcen mehr.
30. August. Guschin, Schianow und Zak beschließen abzusteigen. Die Hand des Ersten verheilt nicht, und für die knappe Ausrüstung der beiden anderen sind die Temperaturen zu tief. Außerdem denke ich, dass der Österreicher Zak nicht für den Gipfel vorgesehen war. Wie könnte der Erstbesteiger des Pik Stalin einen ausländischen Namen haben? Die kommunistische Internationale hat eindeutig patriotische Grenzen.
Noch am selben Tag beladen sich Jewgeni und Guettier mit je einem Pud der Wetterstation, also mit mehr als sechzehn Kilo. Auf fast 7000 Metern! Wahnsinn! Gorbunow folgt, ohne ihnen auch nur die geringste Hilfe zu sein. Guettier bricht oft im Schnee zusammen. Höhe und Unterernährung zeigen ihre Wirkung. Die Kälte ist so grausam wie die Strahlen der Sonne, die bald hinter Wolken verschwindet. Jewgeni, der einen Vorsprung hat, muss zu seinen Kameraden zurück, die keinen Schritt mehr vorankommen. Als Gorbunow erkennt, dass die Herausforderung unmöglich zu meistern ist, beschließt er den Rückzug zum Lager auf 6900 Metern, um dort die zwei Module der Station zusammenzusetzen. Sie richten die Antenne Richtung Himmel, aber der Wind ist zu schwach und bringt das Anemometer nicht zum Drehen.
31. August. Laut Jewgeni maues Wetter, Ruhepause. Romms Texte und seine stimmen immer weniger überein. Jewgeni kocht den Rest der Rinderzunge, danach ist Hungern angesagt. Der Mond stört sie beim Einschlafen, aber sie sind gut akklimatisiert.
1. September. Den ganzen Tag Sturm. Gorbunow ist unzufrieden und möchte endlich die Wetterstation fertig aufbauen, aber die Windstöße zerreißen die Zelte. In Romms Bericht gelingt es Gorbunow, einen Fehlkontakt zu reparieren. Bei minus 27 Grad Celsius, so schreibt Jewgeni in seinen Notizbüchern. Sicher ist, dass das Anemometer durchdreht, dass der Druck abfällt. Der Schnee dringt überall ein. Gefriert auf den Schlafsäcken. Die Lebensmittel lassen sich an den Fingern abzählen. Der Neuschnee drückt auf die Zeltwände. Die Zeltstangen brechen. Am Morgen liegt der Schnee so schwer auf Guettier und Gorbunow, dass sie fast ersticken. Jewgeni hört ihr Rufen und schafft es, sie mit einem Topfdeckel freizuschaufeln.
2. September. Guettier ist blass und ihm ist schlecht, er bleibt liegen und kann weder schlucken noch trinken. Von Krämpfen geschüttelt beschwört er seine Kameraden, sich nicht um ihn zu kümmern. Ohnehin hat auch er einen ausländischen Namen, den Namen französischer Vorfahren, die ins Reich des Zaren gekommen waren, um sich niederzulassen. Sein Vater war Leibarzt von Lenin, Swerdlow und Dzierżyński. Wie weit ist doch jetzt die Moskauer Revolutionselite entfernt. Die Zelte brechen unter den Windböen zusammen. Sie müssen mithilfe von Säcken und sogar mit Teilen der Wetterstation befestigt werden. Abalakow kämpft allein gegen die Elemente. Es ist nur noch eine Fischkonserve und eine Tafel Schokolade übrig.
In der darauffolgenden Nacht sinkt das Quecksilber auf minus 45 Grad Celsius, schreibt Jewgeni. Es tobt erneut ein Sturm. Doch am Morgen werden sie von mehr oder weniger klarem Wetter geweckt. In seinem Bericht vertritt Romm die Meinung, dass es angesichts der kritischen Situation logisch gewesen wäre, diese Aufheiterung zu nutzen, um nach unten zu fliehen. Hätte die kommunistische Orthodoxie etwa nicht verordnet, zuerst Guettier zu retten? Aber Gorbunow entscheidet anders. „Das ist hier keine sportliche Bergtour, sondern eine wissenschaftliche, eine staatliche Mission.“ So bricht er mit Jewgeni zum Gipfel auf, in der Hoffnung, zu guter Letzt doch noch den Sieg davonzutragen. Abalakow und Gorbunow. Authentische, klingende russische Namen, wie für die Nachwelt gemacht.
Sie warten zunächst, bis die Sonnenstrahlen die Luft etwas aufgewärmt haben. Dann spurt Jewgeni Schritt für Schritt durch die weiße Wüste, durch kniehohen Neuschnee. Vor ihm münden die unberührten und von Spalten durchzogenen Hänge in einem Gipfel aus Eis. Hinter ihm der schrecklich leidende Gorbunow. Er hat Halluzinationen. Romm erzählt, dass er sich doppelt sieht, neben sich selbst gehend. Er ist viel zu langsam und die Sonne erreicht schon ihren Höchststand. Mittag. Die Stunde des Mythos Abalakow schlägt. Gorbunow kann nicht mehr. Er befiehlt ihm, allein auf den Gipfel des Pik Stalin zu steigen, oder vielleicht ist es Jewgeni, der ihm diese Entscheidung nahelegt. Hier teilen sich die Meinungen. Fest steht, dass die Seilschaft, als perfekte Metapher für den Kommunismus, in diesem Moment auseinanderbricht. Ein Mann dort oben reicht aus, um der Eitelkeit des Führers zu schmeicheln. Abalakow würde genügen …
Und dann, besagt die Legende – Jewgeni erwähnt das nicht –, öffnen sie die letzte verdorbene Konserve. Heringe ohne Geschmack. Gorbunow überlässt seinen Anteil dem Mann, der auf den Gipfel steigen wird. Auf einen Zettel schreiben sie eine Nachricht: „Am 3. September 1933 erreichte Jewgeni Abalakow den Gipfel des Pik Stalin und Nikolai Gorbunow den Gipfel des Ostgrates.“ Jetzt muss nur noch vollbracht werden, was niedergeschrieben ist. Gorbunow behält das Seil. Abalakow nimmt die Messinstrumente. Lenins ehemaliger Sekretär, der so sehr auf Moskaus Geheimnisse Einfluss nimmt, hat keine andere Wahl, als dem Aufstieg des jungen Sibiriaken zuzusehen, der keine Müdigkeit kennt und der womöglich ihr Schicksal in den Händen hält.
Dort oben kriecht Jewgeni Abalakow über eine Schneebrücke. Schon geht die Sonne unter. Die Hänge sind bis zu 45 Grad steil. Er steigt sie mit seinen kurzen Haxen, die wie für den Kasatschoktanzen gemacht sind, empor. Er wird vom Gipfel angezogen, irgendwo unten ist Gorbunow, nur noch eine Silhouette. Fünf Stunden einsamer Aufstieg in der dünnen und azurblauen Luft. Der letzte Grat, in den seine Steigeisen sich festbeißen, ist von absolut makelloser Unberührtheit. Der Schnee ist hart, „wie Steingut“, erinnert er sich. Was wohl im Kopf dieses Burschen vom Jenissei vorgeht, wie er allein durch den Himmel über dem gewaltigen Knoten des Pamirgebirges marschiert?
Steine: das Ziel ist ganz nah. Der Wind schiebt ihn Richtung Abgrund, Eiszapfen verlängern seinen Bart. Der Grat wird immer schmaler, scharf „wie eine Klinge“, mit einigen Wechten. Dann der Gipfel. Er hat es geschafft, er fällt auf alle viere. Er ist der Erste. Der Höhenmesser zeigt minus 25 Grad Celsius und 7700 Meter Höhe an. 7500 Meter, korrigiert er in Gedanken. Der dritthöchste Gipfel der Welt, der bisher bestiegen wurde. Unbekannte Täler breiten sich überall zu seinen Füßen aus. Alle Berichte besagen, dass er noch die Kraft findet, eine Skizze der Gletschersysteme, die sich unter ihm auftun, anzufertigen. Denn ist er nicht ein Alpinist vor allem zum Zwecke der Forschung? Leider ist es im Süden und Osten bedeckt, der afghanische Hindukusch und Tibet sind nicht sichtbar. Romm gestaltet aus diesen Wolken ein lyrisches und phantasmagorisches Bild, auf welchem der Schatten des Helden auf die weiße Wand der Wolken fällt, die die untergehende Sonne nach und nach glühend rot färbt.
Dann steckt Jewgeni den Zettel, den er mit Gorbunow geschrieben hat, in ihre letzte Konservendose, welche er unter einen Stein legt. Doch auf dem Rückweg bereut er plötzlich, dieses Zeichen auf dem Gipfel errichtet zu haben, da er befürchtet, dass der Wind es zerstört. Fast 25 Jahre später wird der Gipfel von einer anderen Expedition abgesucht werden, die wiederum folgende Worte hinterlässt: „Es wurde kein Beweis einer Besteigung des Pik Stalin gefunden.“ Nie hätte ich es gewagt, so etwas zu denken. Ich habe der Leistung Abalakows meinen uneingeschränkten Glauben geschenkt. Niemand in der UdSSR erlaubte sich jemals, explizit die Erstbesteigung der 29. Einheit infrage zu stellen, aber man kommt nicht umhin zu sagen, dass keinerlei Beweis ihre Behauptung unterstützt. Der Gipfelgrat besteht aus mehreren kleinen Erhebungen, die von Windstößen mal eingeschneit, mal leergefegt werden. Was damals sichtbar war, ist heute vielleicht von Eis überzogen. Wir werden niemals sicher wissen, welchen Punkt Jewgeni tatsächlich erreicht hat.
Polemik beiseite, Jewgeni Abalakow taumelt am 3. September 1933 talwärts, dem Ruhm entgegen. Er trifft auf Gorbunow, der kaum vorangekommen ist. Den Berichten zufolge machen sie noch einige Fotos und Messungen und fertigen verschiedene schematische Zeichnungen der umliegenden Berge an. Das fällt einem jetzt wirklich schwer zu glauben. Wahrscheinlicher ist, dass sie sich völlig erschöpft und bei Mondschein beeilten, das Lager auf 6900 Metern zu erreichen, wo Guettier im Sterben liegt. Im Mondlicht erscheint das gesamte Relief wie am helllichten Tag. Als Gorbunow seine Schuhe auszieht, entdeckt er schlimme Erfrierungen. Jewgeni massiert kräftig bis spät in die Nacht die Zehen des Apparatschiks. Ich kann in den letzten Absätzen, die nur über den Sieg berichten, keine Zeile über die Wetterstation finden. Sie wird mit keinem Wort mehr erwähnt und wahrscheinlich hat sie an die Wetterwarte auf dem Fedtschenko-Gletscher, die im Vorjahr mithilfe einer 200 Kamele starken Karawane errichtet wurde, keinerlei Daten übertragen.
Am nächsten Tag bringt Abalakow heroisch – denn von nun an wird alles, was Jewgeni Abalakow macht, heroisch sein – seine beiden Kameraden ins Lager auf 6400 Metern, bevor er selbst schneeblind wird. Seit einer Woche gab es keine Nachricht mehr von ihnen. Unten hatten schon alle die Hoffnung aufgegeben, dramatisiert Romm. Der Österreicher Zak beschließt, ihnen zu Hilfe zu kommen, allein …
Wiederholter Verstoß gegen die zukünftigen Regeln des sowjetischen Alpinismus: völlige Improvisation dieses „Sturmtrupps“, der taumelnd zurückkommt. Romm, der das Basislager selbst nie verlassen hat, stellt fest: „Der erste, der auf der Moräne erschien, war Jewgeni Abalakow. Der Gang dieses eisernen Sibiriaken zeigt keinerlei Erschöpfung. Er läuft wie immer, flink und flott balanciert er von einem Bein auf das andere, wie ein Bärenjunges in der Taiga. Nur die Haut auf seinen Wangenknochen ist von Kälte und Sturm gegerbt.“ Und am nächsten Tag, nach achtzehn Tagen Bergfahrt, kraxelt er lieber auf einen benachbarten Bergrücken, um ein herrliches Aquarell des Pik Stalin zu vollenden, statt sich in seinem Zelt auszuschlafen!
Die anderen Expeditionsteilnehmer waren selbstverständlich in einem weniger guten Zustand. Guettier, der inzwischen wieder zum Leben erwachte, bezeichnete Abalakow als „Maschine“ und Romm erzählt uns, dass von Gorbunows hundert Kilogramm nur mehr 79 übriggeblieben sind. Zwar verlor er sein von Erfrierungen schwarz gewordenes Fleisch, nicht aber seinen Kopf. Am 9. September verfasst er ein Telegramm fürs Politbüro, in dem Abalakow nicht einmal erwähnt, aber viel Aufhebens um die „Erfüllung der Mission der 29. Einheit“ und den „Sieg der Wissenschaft und des Alpinismus der Sowjetunion“ gemacht wird:
„An den Genossen Stalin, Kreml, Moskau. Wir freuen uns, Sie zu informieren, dass der höchste Punkt der Sowjetunion, den wir letztes Jahr entdeckt und nach Ihnen, dem geliebten Führer des Weltproletariats, benannt hatten, am 3. September von unserer Sturmgruppe erreicht wurde. Am Gipfel wurden zwei Wetterstationen aufgestellt. Die Expedition sendet Ihnen herzliche Grüße. Gorbunow.“
Dann zeigt sich das erste Gras, das Grün kehrt zurück. Als sie die erste Jurte erreichen, stürzen sich die Expeditionsteilnehmer, Fels und Eis überdrüssig, auf Post und Zeitungen. Mit keiner Zeile erwähnen die Schlagzeilen von 1933 die Hungersnöte auf dem Land. Sie rühmen die Durchbrechung des Weißmeer-Ostsee-Kanals oder die Förderrekorde der Bergbaubrigaden im Donbass. In der UdSSR brodelt es, die Fabriken von Magnitogorsk katapultieren den neuen Menschen in das industrielle Zeitalter, die Stratonauten sind in den Himmel geflogen, die Polarforscher erkunden die Arktis! Eine Epoche der Eroberungen in allen Bereichen. Und jetzt hat auch noch Jewgeni Abalakow das Dach der sowjetischen Welt erreicht! Über seine Glanzleistung wird auf der Titelseite berichtet, direkt neben einem Bericht über die erste Schmelze, die sich aus einem ukrainischen Hochofen in Saporischschja ergießt.
Ein Foto von 1933 zeigt ihn 26-jährig, ein sehr russisches Gesicht. Der Abzug ist in Schwarz-Weiß, aber man kann an der Helligkeit der Haare ein von der Sonne gebleichtes Blond erraten. Darunter leicht hochgezogene Augenbrauen über einem wohlwollenden Blick. Alle, die ihn gekannt haben, loben ihn einstimmig. Er war ein willensstarker und gleichzeitig sehr sanftmütiger Mann. Wie oft habe ich das Wort „Lächeln“ im Zusammenhang mit ihm gelesen! Er besaß alles, um angehimmelt zu werden. In allen Republiken löste er Begeisterung aus und die UdSSR formte aus ihm das Modell des „ersten Alpinisten“, ein Vorbild. Er verkörperte den neuen sowjetischen Menschen, rostfrei und siegreich; auch bescheiden, zumindest nach außen hin. Als Lohn für seine Dienste erhielt er 150 Rubel und elf Kopeken. In etwa so viel wie der Preis eines Mantels.