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ERBAUER DER STRAHLENDEN ZUKUNFT

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Nach dieser vom Klettern und vom Aufstand der Bolschewiki geprägten Kindheit begeben sich die Brüder Abalakow nach Moskau. Eine Reise, die heute noch vier Tage und vier Nächte mit der Transsibirischen Eisenbahn dauert. All die Ebenen, der Ural und wieder Ebene um Ebene und endlich die neue Hauptstadt der Sowjets. Witali packt 1925 seine Koffer. Er, der in Krasnojarsk in ihrem in eine Werkstatt umgestalteten Zimmer Ski anfertigte, wird an der Mendeljew-Universität an der Fakultät für Mechanik zugelassen. Ein Jahr später legt Jewgeni seinen Schülerkittel ab, um am Moskauer Kunstinstitut zu studieren, wo er auf die lobende Empfehlung eines Zeichenlehrers der Schule Nummer 3 von Krasnojarsk hin aufgenommen wurde. Seit seiner Kindheit zeichnet er die eingeschneite Taiga, Stillleben und erstaunliche Selbstportraits, auf Schulhefte skizziert, so wie ein Meister vor seinem Spiegel.

In Moskau kennt niemand die beiden sibirischen Studenten und alles deutet darauf hin, dass sie sich dort, begünstigt durch die Anarchie, eine neue Biografie erfinden. Eine von bürgerlicher Herkunft und gesellschaftlich geächteter Verwandtschaft bereinigte Vergangenheit. Ihr Onkel hat ihnen sehr ans Herz gelegt, sich unter die Massen zu mischen, die den Kommunismus vorbereiten. Die Brüder Abalakow stellen sich überall als einfache und seit Langem verwaiste Kosakensöhne vor. Sie fallen niemandem auf. Die Macht der Sowjets scheint von Dauer zu sein, aber die Neue Ökonomische Politik des verstorbenen Lenin ist in vollem Gange. Durch sie kommen einige Händler vorläufig zu Wohlstand und die Stadt brodelt im Rhythmus der holprigen Straßenbahnen.

Zwanzig Jahre alt in einem Land zu sein, das mit seiner schrecklichen Vergangenheit reinen Tisch macht, wie berauschend musste das sein! Bei der Ankunft der Abalakows verdrehen die Trugbilder der Oktoberrevolution allen die Köpfe. Ihnen steht die strahlende Zukunft bevor: Alles muss neu gemacht werden, alles ist möglich! Ich habe guten Grund zu glauben, dass in Witali und Jewgeni eine innere Umwälzung stattfindet. Auf einmal öffnen sie sich dieser Revolution, die ihren Onkel deklassiert und ihr Vermögen verstaatlicht hat. Ihr Ausbruch ist zwar brutal gewesen – wie hätte es auch anders sein können? –, aber ihr Zweck ist rein. In den Gemeinschaftswohnungen leben junge Leute, die darauf drängen, eine vorbildliche Zukunft zu entwerfen. Auch die Brüder Abalakow engagieren sich bei der Erbauung dieses siegreichen Sozialismus. Witali widmet sein konzentriertes und kartesianisches Wesen dem Fortschritt. Die UdSSR spricht von nichts anderem als von einer materiellen Zukunft, von Industrie und Fabriken. Man braucht tatkräftige Arbeiter und Konstrukteure mit Visionen …

Jewgeni seinerseits taucht in eine von jeder konservativen Last befreite Gesellschaft ein. Man hält sich für avantgardistisch. Die Kunst darf nicht mehr allein der Bourgeoisie vorbehalten sein. Die kulturelle Revolution ist auf dem Vormarsch. Sie fasziniert bis in den Westen, und das bis heute. Es sind sozusagen die Goldenen Zwanziger der Sowjetunion. Ein Auflodern, das bald wieder erlischt. Als Jewgeni nach Moskau kommt, ist das alles schon vorbei, Marc Chagall ist emigriert, Kasimir Malewitsch steht in der Kritik. Lenin ist seit zwei Jahren tot und einbalsamiert. Es ist schon das Ende des Futurismus, des Kubismus und jener Gemälde, die keine mehr sind. Im Hinterhalt lauert der Sozialistische Realismus. Jewgeni wird in den Kurs von Wera Muchina aufgenommen, der zukünftigen Bildhauerin der Skulptur Arbeiter und Kolchosbäuerin. Diese wird emblematisch für die stalinsche Bildgebung werden. In den Quellen wird diese frühe Begegnung zweier Figuren des sowjetischen Pantheons hervorgehoben, und ich habe hundertmal die lobenden Worte Wera Muchinas über den ernsten, konzentrierten Jewgeni Abalakow gelesen, über den sie niemals die geringste kritische Bemerkung machen musste. Später wird sie ihre Wertschätzung hinsichtlich seines „Talents“ und seiner „großen Bescheidenheit“ wiederholen. Hätte sie sich überhaupt abfällige Kommentare erlauben dürfen?

An der Universität lernen die Brüder Abalakow die Grundlagen einer neuen Ordnung kennen. Die Revolution behauptet, einen Musterbürger zu schmieden, so wie Gott den Menschen nach seinem Ebenbild erschaffen hat. Sie ist der Urknall einer neuen Welt, eines Universums, das sich im Namen der Internationalen immer weiter ausdehnt. Witali und Jewgeni gehören vielleicht nicht gerade zu denen, die den Marxismus Wort für Wort befolgen, und doch wird die UdSSR ihr Land, und nicht mehr Russland, denn die Sowjetunion ist ihre Epoche. Man muss verstehen, dass ein Ort nichts ist ohne ein Datum, dass das Eurasien der Zwanzigerjahre heute ein versunkener Kontinent ist. Und dass die beiden sich darauf vorbereiten, das Banner einer wunderbaren Utopie auf den höchsten aller Gipfel zu setzen.

Ich erinnere mich an eine großartige Passage in Iwan Bunins Das Leben Arsenjews. Eine Kämpferin von großer Schönheit, die sich von der Natur übervorteilt sieht, versucht sich zu verstümmeln, um mehr Gleichheit unter ihresgleichen herzustellen. Ich habe nie mehr eine passendere Allegorie für diese fanatische und selbstzerstörerische, jedoch Berge versetzende Revolution gefunden. Können wir uns das vorstellen, wir, für die der Sozialismus vor allem eine Art ist, unseren Lebensstandard zu rechtfertigen? Wir, die das Elend beklagen und dabei auf nichts verzichten wollen.

Ich habe keinen Zweifel, dass Witali in den 1920er-Jahren in einer Art streberhaftem Wettstreit lebt, während Jewgeni eine gewisse Moskauer Boheme für sich entdeckt. Sie bleiben jedoch die besten Komplizen, sobald es um ihre Eskapaden geht. Die sich in der Entwicklung befindende Hauptstadt und ihr urbaner Horizont können ihre Sehnsüchte nicht vollends stillen. Viel mehr als von Moskau träumen sie davon, sich an den Steilwänden des Kaukasus zu messen. Im Winter trainieren sie an den Leninbergen. Heute nennt man sie die Sperlingsberge, auf deren Anhöhe die renommierte Lomonossow-Universität steht. Doch zu jener Zeit gab es noch keinen einzigen dieser schwindelnd hohen Wolkenkratzer, die die „Sieben Schwestern Stalins“ genannt werden.

Alles musste erst erbaut werden.

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