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ABALAKOW

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Lange habe ich mich gesträubt. Ich habe schon immer nach der Geschichte hinter der Geschichte gesucht: Stalin, den Gulags und allem, was im Westen als exotisch dargestellt wird. Ich bin kreuz und quer durch Russland gereist, um es heute klarer zu sehen. Ich wollte nie, wie es gegenwärtig allzu üblich ist, mich der berühmten Namen Verstorbener bedienen, um eine fade Reise in der heutigen Zeit aufzuwerten. Ich weigerte mich, die Geschichte heranzuziehen, um eine Gegenwart, die manchmal nicht an die Vergangenheit heranreicht, interessanter zu machen. Doch man interessiert sich nicht ungestraft für Eurasien. Das rote Jahrhundert lauert überall. Die Sowjetunion hat eine gewaltige Dramaturgie entwickelt, erschütternde Schicksale und launische Fügungen. Das wird immer ihr größter Erfolg bleiben. Aus ihr werden die Schriftsteller nach wie vor ausgiebig schöpfen.

Wenn ich heute der Versuchung erliege, Schwarzweißbilder heranzuziehen, dann nicht wegen der erstbesten Anekdote. Diese Geschichte lässt mich nicht mehr los, weil sie jede meiner Leidenschaften anspricht. All die Jahre im Osten, die Berge, die mich als Heranwachsenden stets begleiteten, meine Reisen durch Zentralasien. Sie kam zu mir wie eine Katharsis, wie eine Selbstverständlichkeit. Und mir wurde bewusst, wenn nicht ich, würde sich niemand sonst dieser unglaublichen Geschichte annehmen. Ich wollte nicht, dass sie im Dunkeln verschwindet. Schließlich fühlte ich mich verpflichtet, sie ans Licht zu bringen. Daraufhin versank ich jeden Tag tiefer in fiebrige Recherchen, gefesselt von diesen verrückten Lebensgeschichten aus jenen Jahrzehnten, die nicht weniger verrückt waren, in einem Land, das es schon immer war.

So kam es, dass ich eines Tages im Herbst in der ohrenbetäubenden Metro der Hauptstadt aller russischen Staaten saß. An der Station Frunsenskaja, die in der Moskwa-Schleife liegt, komme ich wieder an die frische Luft. Ich blicke auf Beton und große Bäume, die ihr welkes Laub abwerfen. Ich frage nach der Bolschaja Pirogowskaja. Dort befindet sich heute das Staatsarchiv. Zügigen Schrittes versuche ich mir nochmal klarzumachen, warum ich hier bin. Warum beschäftige ich mich seit so vielen Monaten mit diesen beiden in Vergessenheit geratenen Alpinisten? Was bringt einen dazu, im Leben Unbekannter herumzuschnüffeln? Und mit welchem Recht übrigens, wenn nicht dem, der wahren Geschichte auf den Grund zu gehen?

Die Akademiker in meinem Bekanntenkreis prophezeiten mir Schwierigkeiten auf allen Ebenen. „Du wirst sehen“, sagten sie voraus, „die Akten über die Säuberungen sind unter Verschluss. Russland unter Putin kehrt die Opfer des Stalinismus unter den Teppich. Man wird dir nicht das Geringste zeigen.“ Ich hatte mich also auf die Willkür der Beamten eingestellt, darauf, dass ich alle möglichen Stempel sammeln müsste, dass ich meine gesammelten Russischkenntnisse und mein gesamtes Wissen über die internationale Bürokratie für diese außergewöhnliche Spurensuche brauchen würde. Ich konnte mir nicht vorstellen, über diese beiden Kerle zu schreiben, ohne das Kafkaeske ihrer Prozesse gelesen, ohne den Geruch des Papiers eingeatmet zu haben, das man zu lügen und zu töten nötigte.

Zuvor hatte es mich einige Mühe gekostet, die Akte P-8594 ausfindig zu machen, in ihr befand sich der Schlüssel. In der Lubjanka, dem historischen Hauptquartier des KGB, war sie nicht mehr. Sie war ins Staatsarchiv verlegt worden, und ich hatte gleich einen detaillierten Antrag gestellt. Dann musste ich Geduld haben. Ein oder zwei Monate lang. Als die Antwort auf sich warten ließ, rief ich an. Ich fragte eine knarzende Stimme nach der Abteilung für die „Opfer der Säuberungen“ des Stalinschen Terrors. „Wir haben keine anderen“, erwiderte schlechtgelaunt eine Dame. Übrigens, mein Antrag sei jetzt bewilligt, ich könne kommen, wann ich wolle.

Da bin ich nun, in der Bolschaja Pirogowskaja, vor diesem riesigen sowjetischen Gebäude voll mit sortierten, schrecklichen Geheimnissen, am frühen Morgen eines Tages, dessen Himmel ich nicht zu Gesicht bekommen werde. Auf der rechten Seite der Eingangshalle kann man über ein altes Telefon die Archivare kontaktieren. Ich wähle eine der Nummern auf der Liste, die daneben an der Wand hängt. Es klingelt, worauf eine Stimme grüßt, wie man in Russland eben grüßt. Sie grüßt nicht. Sie lenkt, sie befiehlt, sie ordnet an. Sie kündigt mich bei der Zuständigen für die Passierscheine an, die mit Mühe meinen ausländischen Namen dechiffriert.

Dann soll ich den Innenhof durchqueren bis zum Gebäude 7. Dort bedeckt das erste gefallene Laub die Schwelle eines Eingangs, der hundert anderen gleicht. Im zweiten Stock erwartet mich zwischen hohen Regalen meine Ansprechpartnerin – freudlos, aber hilfsbereit. Das Zimmer ist schlecht beleuchtet. Ich setze mich an einen kleinen Tisch in der Nähe eines Fensters, das ein wenig Licht hereinlässt. Sie bringt mir die Akte. Dann bittet sie mich mit Nachdruck „nichts zu stehlen“, um anschließend merkwürdigerweise zu erwähnen, dass sie sich gegen Mittag mit einem Agenten des FSB (Föderaler Dienst für Sicherheit) treffen werde. Ich sage, das sei perfekt. Dass der FSB mich wahrscheinlich besser kennt als ich mich selbst. Ich werde allmählich vergesslich, nachdem ich schon seit fünfzehn Jahren dieses Land bereise.

Darauf lässt sie mich allein.

Hier war ich also. Seit acht Monaten verfolgte ich die Spur dieser beiden Männer. Der Brüder Abalakow.

Ich öffnete die Akte. Ich warf einen Blick auf die Liste derjenigen, die bereits vor mir dagewesen waren. Nur zwei Namen von vor ungefähr zehn Jahren. Sie waren mir schon unter Artikeln aufgefallen, die sich mit dem Alpinismus in der UdSSR beschäftigten. Sonst niemand, zumindest seit der Verlegung der Akte ins Staatsarchiv.

Dann stürzte ich mich wissensdurstig auf 350 Seiten Untersuchungsmaterial. Ich hatte Hunderte von Fragen. Aus welchen Gründen wurde Witali Abalakow, der bekannteste sowjetische Alpinist, Opfer des Großen Terrors? Hatte er unter Folter seine Seilkameraden denunziert? Und vor allem: Hatte er seinen eigenen Bruder verraten? Jewgeni Abalakow, Stern am Himmel des Alpinismus, heldenhafter Bezwinger des gewaltigen Pik Stalin.

Ich hatte mich so lange danach gesehnt, Licht in diese Geschichte zu bringen.

Doch war ich recht bald froh, wirklich erst am Ende meiner Recherchen in die Archive gegangen zu sein. Denn um diese Geschichte richtig zu verstehen, muss man in das Sibirien des beginnenden letzten Jahrhunderts zurückkehren.

Stalins Alpinisten

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