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DIE 29. EINHEIT

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Die Geschichte, die auf diesen Seiten erzählt wird, ist im Westen weitgehend unbekannt. Es ist auch nicht ausgeschlossen, dass der Schauplatz, an dem sie spielt, einer imaginären Landschaft ähnelt. Wir Europäer träumen für gewöhnlich vom Himalaya, von den Tropen, von der Sahara. Wir kennen aber den Kaukasus nicht, den Tian Shan, den Pamir. Wir haben aus Eurasien die dunkle Seite der Erde gemacht, eine Welt, die es auf unserer mentalen Karte nicht gibt. Damals hatte sie einen Namen: die UdSSR …

Die abgelegene Tadschikische Sozialistische Sowjetrepublik an der Grenze zu Afghanistan und Tibet ist damals die letztgeborene der UdSSR. Die Kommunisten gründeten dort eine Hauptstadt mit dem Namen Stalinabad. Die Region wurde endlich „vom doppelten Joch der Zaren und der Verwüstungen durch die Soldaten des Emirs von Buchara“ befreit, erzählt uns ein Autor namens Mikhaïl Davidovitch Romm. Die Zaren haben demnach „die Wissenschaft zugunsten des Krieges vernachlässigt“, doch zum großen Glück kümmern sich nun die Roten darum, die gebirgigen Festungen zu erforschen. Multidisziplinäre Expeditionen brechen jedes Jahr auf, um Karten zu erstellen, die Geologie zu untersuchen oder Wetterstationen einzurichten. Mit jedem Feldzug füllen sich die weißen Flecken dieser abgelegenen Gegenden mit Maßeinheiten und Namen und gleichzeitig wird Geister- und Aberglaube verdrängt.

Und so kam es, dass es einer Expedition gelang, im gigantischen Pamir-Gebirge einen Gipfel ausfindig zu machen, der alle anderen überragt. Er ist vermutlich ungefähr 7600 Meter hoch, die Einheimischen scheinen ihn Garmo zu nennen, aber – daran soll es nicht scheitern – man soll diesen Namen sofort auf einen benachbarten Gipfel übertragen haben, um den Bergriesen in Pik Stalin umbenennen zu können. Alles muss nun „Stalin“ heißen, dem zu Ehren, der in Moskau die absolute Macht an sich gerissen hat. Der Pik Lenin, der etwas weiter im Norden liegt und den man bisher für das Dach der UdSSR gehalten hat, wird durch diese topografische Entdeckung entthront, und das entspricht stark dem Verlauf der Geschichte. Die Trotzkisten ebenso wie die Sinowjewisten und „Deviationisten“ aller Art werden im Namen der Einheitspartei denunziert. Der politisch-revolutionäre Machtkreis zittert im Stillen vor dem Genossen Stalin.

Das ist der Fall bei einem gewissen Nikolai Gorbunow, einem bekannten Bolschewiken, der Anfang der 1930er-Jahre im Komitee für die Wirtschaftsplanung eingesetzt war. Als ehemaliger persönlicher Assistent Lenins während der Oktoberrevolution wird der Mann anschließend Sekretär des Rats der Volkskommissare. Als solcher steht seine Unterschrift auf Tausenden von Dokumenten, von den ersten Regierungsdekreten wie dem Dekret für die Aufhebung der Stände oder für die Gründung der Roten Armee bis zum Erlass zum Zwangsarbeitslager auf den Solowezki-Inseln, aus dem einmal der Gulag erwachsen würde. Nikolai Gorbunow ist einer der Akteure des größten politischen Erdbebens des zwanzigsten Jahrhunderts. Das alles steht in den Enzyklopädien. Seltener steht dort, dass Nikolai Gorbunow einer der Förderer der Pamir-Expeditionen war.

Da ich kein Experte für sowjetische Politik bin und mich eher für weniger entscheidende Stunden der Menschheit interessiere, betrachtete ich die Archivfotos, auf denen Gorbunow streng in seinem Staatsbüro posiert, mit anderen Augen. Hochgewachsen, kahlköpfig, mit einer kleinen runden Brille, einem ovalen Gesicht, intelligentem Blick und festgezogener Krawatte ähnelt er darauf mehr einem marxistischen Schreiberling als einem erfahrenen Alpinisten. Man kann sich diesen eifrigen Funktionär in seinem gepflegten Anzug nur schwer in der riesigen Gletscherlandschaft Eurasiens vorstellen. Ich war erstaunt, einen solchen Staatsmann in der Geschichte des Alpinismus zu entdecken.

1933 stellt Gorbunow eine neue Expedition unter der Schirmherrschaft des Rats der Volkskommissare zusammen. Sie besteht aus nicht weniger als vierzig Einheiten und eine von ihnen, die Nummer 29, betraut er mit der für diese Zeit unvernünftigen Mission, den Pik Stalin zu erobern. Die 29. Einheit besteht hauptsächlich aus Männern, die an einer Aufklärungskampagne teilgenommen haben, die er im Sommer zuvor selbst geleitet hat. Diese waren unter anderen der Mechaniker Schianow, der Automobilarbeiter Guschin, der österreichische Kommunist Zak und die Boxer Guettier und Charlampiew. Die Erwähnung des Berufs ist in diesen äußerst sowjetischen und höchst proletarischen Darstellungen unerlässlich. Sie bestimmt die soziale Stellung des Betroffenen in einem neuen Klassensystem, in welchem einzig der gebürtige Plebejer des Vertrauens der Bolschewiki würdig ist. Die 29. Einheit nimmt auch die Dienste eines Malers und Bildhauers in Anspruch, der wohl eher für seine Kletterkünste als für seine Kunstwerke bekannt ist: Jewgeni Abalakow.

Der Ingenieur Witali Abalakow hingegen wird nicht einberufen. Ich habe mich natürlich gefragt, warum er nicht ebenfalls in diese gefährliche Unternehmung eingestiegen ist. Gefunden habe ich nur eine Version, laut der er sich selbst aus der Sache zurückgezogen habe, weil er die Auswahl der Teilnehmer angesichts dieses monströsen Bollwerks aus Eis und Schnee als zu schwach einschätzte. Ob das stimmt, weiß keiner. Alle Beteiligten haben ihre Geheimnisse mit ins Grab genommen – wenn sie denn eins haben. Vielleicht wurde Witali ganz einfach nicht von Gorbunow berücksichtigt. Was jenen betrifft, hält sich das hartnäckige Gerücht, dass er sich mit dieser Bergfahrt vor einer Repression schützen wollte, die er intuitiv befürchtete. Es ging für ihn darum, dem Genossen Stalin seine Loyalität durch die Besteigung des nach ihm benannten Gipfels zu beweisen, großmütig seine Haut zu riskieren, um sein Leben besser gegen die politischen Hinrichtungen zu feien. Wer weiß? Das könnte womöglich die Absicht Nikolai Gorbunows gewesen sein.

Jedenfalls trennt das Schicksal die Brüder Abalakow zum ersten Mal. Das Schicksal entscheidet für sie über die Berge, die sie besteigen, über ihre Ziele, über alles. Das Schicksal heißt Politbüro. Diese höhere Instanz, die die Massen regiert wie vormals der Zar. Von alldem bleibt nur ein Telegramm vom 17. Mai 1933 mit dem Briefkopf der Akademie der Wissenschaften, bei der Gorbunow Mitglied ist. Darauf ist zu lesen, dass der Alpinist Jewgeni Abalakow für mehrere Monate zur Verfügung stehen muss, aber seine Arbeitsstelle behalten und sein Gehalt weiterbeziehen kann. Er soll, steht dort, den „höchsten Punkt der UdSSR“ erreichen, „den Pik Stalin, 7600 Meter, um dort eine Wetter- und Radiostation einzurichten“. Der sowjetische Alpinismus soll der „Erbauung der Zukunft“ dienen. Offiziell zieht die 29. Einheit im Namen der Wissenschaft los. Ihre Mission ist Teil des Programms des Zweiten Internationalen Polarjahrs6.

Im Mai erreicht eine erste Gruppe Zentralasien. Jewgeni ist mit dabei, ausgestreckt in einem sengend heißen Waggon ziehen Taiga, Steppen und Wüsten an ihm vorbei. Er lässt Anna endlose Monate lang zurück. Was macht sie in diesem Sommer? 1933 ist ein Jahr schrecklicher Hungersnöte in der UdSSR. Stalin treibt die Kollektivierung der Grundbesitze voran und Tausende Bauern verlassen das Land, um in die Arbeitervorstädte zu kommen. Ich weiß nicht, ob Jewgeni das Elend durchs Fenster betrachtet. Allerdings reist er in Regionen, denen dieses Drama relativ erspart geblieben ist. In den Berichten der Alpinisten jedenfalls finden die ausgehungerten Muschiks, die von der Staatspolizei vor den Stadttoren zurückgedrängt werden, keine Erwähnung. Jewgeni und seine Kameraden brechen inmitten der von Hunger gezeichneten Provinzen zu Ehren der Sowjets und von Väterchen Stalin auf, um den Pik Stalin zu bezwingen.

In Zentralasien mangelt es an allem, angefangen bei den Lebensmitteln bis hin zu Lastwagen und Pferden. Man braucht Lebensmittelmarken, muss sich bei den staatlichen Ställen vorstellen und die örtlichen bolschewistischen Komitees aufrütteln, wo unter Lenins Portrait nun analphabetische Bauern das Sagen haben. Ich kann mir vorstellen, dass die 29. Einheit die Befugnis hatte, alles zu beschlagnahmen, was sie benötigte, um ihr Ziel zu erreichen. Sie erreicht Osch im heißen Fergana-Tal, das als Ausgangspunkt für die Expeditionen dient. Dort vollbringen die usbekischen Schuster und Schmiede bei der Herstellung der handgearbeiteten Ausrüstung Wunder. Fertig ausgerüstet begeben sich die Männer auf die M-41, eine 700 Kilometer lange Straße, die seit Neuem die abgeschiedenen Hochtäler des Pamir mit der Außenwelt verbindet. Heutzutage quälen sich schwitzende Radfahrer aus dem Westen auf ihr entlang und werden dabei auf gefährliche Weise von Lastwägen voller chinesischem Plunder überholt. Aber 1933, im Rahmen des ersten Fünfjahresplans, ersetzt die M-41 seit Kurzem die alten Karawanenstraßen. Hunderte Straßenarbeiter schufteten sich bei der Aufgabe, die Errungenschaften der sowjetischen Zivilisation den abgelegenen Hochplateaus zugänglich zu machen, zu Tode.

Der Fortschritt bringe Licht in die Finsternis der Scharia und sprenge „die Ketten der uralten Gebote des Koran“, begrüßt der Autor Romm und stellt fest, dass sich die Kolchosen nicht gut mit den „Stammesgesetzen“ vertragen. An dieser Stelle muss ich Mikhaïl Romm vorstellen, den ich bereits zitiert habe. Der ehemalige Fußballspieler, von der italienischen Presse colosso russo genannt, wurde Sportredakteur, ihm verdanken wir den Bericht über diese erste Expedition. Sein Text wurde im Zuge der stalinschen Zensuren mehrmals editiert. Ich konnte leider bei den Moskauer Antiquaren nur die letzte Ausgabe ausfindig machen, die – ihres ursprünglich unbefangenen Tons beraubt – in Tausenden Exemplaren verbreitet wurde. Ich habe sie parallel mit Jewgeni Abalakows offiziellen Reisetagebüchern verwendet. Trotz gewisser Abweichungen stimmen die beiden Texte im Wesentlichen überein, wobei sie zwei unterschiedliche Sichtweisen mitbringen: die eine von oben, die andere von unten. Romm war kein Bergsteiger.

Weder Romm noch Gorbunow sind übrigens von Anfang an bei der Expedition dabei. Sie werden später dazustoßen. Nur von Jewgeni erfährt man etwas über die ersten Schritte der Kamelkarawane, die mit zweieinhalb Tonnen Ausrüstung beladen ist. Alle Teilnehmer erhalten einen Nagant-Revolver und sie üben sich mit den Soldaten der Roten Armee, die ihnen Geleitschutz geben, im Schießen. Die Gegend wird immer wieder von aufständischen Basmatschi7 heimgesucht, die sich in die Festung des Pamir geflüchtet haben. Die Hochtäler sind noch nicht ganz Moskau ergeben. Jewgeni und seine Kameraden sind die Aufklärer des Sozialismus in den letzten Bastionen der alten Welt. In einem Text habe ich folgende Aussagen gefunden, die einem Banditen zugeschrieben werden: „Wir sind gekommen, um Sie zu bestehlen, aber Sie haben uns Essen gegeben und Vertrauen entgegengebracht“, […] „guter tapferer russischer Mann“!

Der Pamir ist eine der kontinentalsten und abgelegensten Gegenden der Welt. Der Anmarsch verspricht beschwerlich zu werden. Er beginnt mit der Überschreitung eines Passes in der trockenen und für die Alai-Kette charakteristischen Kulisse. Jewgeni schmückt seine Notizen hie und da mit der Erwähnung von Wacholder oder Sanddorn. Müde davon, auf ihren Reittieren so durchgeschüttelt zu werden, fangen viele seiner Kameraden an, neben ihren Pferden herzulaufen, bis der Abend sie zwingt, eine Weide für die Kamele zu finden, die in die Hocke gehen. Manchmal flieht in der Ferne ein verdächtiger Reiter, verfolgt von einer Schwadron der Roten Armee. Während der Nacht muss man dann nur mit einer Granate bewaffnet Wache halten.

Die Basmatschi sind jedoch nicht die einzige Gefahr. Romm erzählt, dass das eiskalte Schmelzwasser der Gebirgsbäche unter der brennend heißen Sonne und das Labyrinth der Furten über die unzähligen geröllführenden Flussarme mehr Männer umgebracht haben als die versteckte Guerilla. Von den Polargebieten abgesehen ist der Fedtschenko, zu dem sich Jewgeni und seine 29. Einheit hinbewegen, der längste Gletscher der Welt. Alles andere besteht aus Gesteinsflächen, kargen Felsen und Höhenwüsten. Eine makellose ockerfarbene Welt unter dem Feuer eines tiefblauen Himmels.

In einem Jurtenlager, letztes Zeugnis einer nomadischen Menschheit, rekrutieren sie mit Schwierigkeiten sechs Träger, die über ihre Ausrüstung staunen. Träger? Verbietet der Kommunismus nicht die Ausbeutung des Menschen, sei es nun ein „Sherpa“ oder ein Hausangestellter? Die angeworbenen Tadschiken und Kirgisen haben keine Erfahrung im Hochgebirge und doch schließen sie sich der Karawane an, die sich auf die schwarze Zunge des riesigen Fedtschenko-Gletschers wagt. Tag für Tag muss ein achtzehn Kilometer langer Weg angelegt, müssen Stufen für die Pferde geschlagen, die Moränen mit steinernen Wegzeichen markiert werden. Es gibt wenig Weiden, die Soldaten kehren um, die Expedition teilt sich in kleine Gruppen auf. Jewgeni und seine Kameraden zerstreuen sich in die benachbarten Täler, um Wildschafe zu jagen, ohne großen Erfolg. Abends im Biwak schreibt er in sein Reisetagebuch oder zeichnet Skizzen von den unberührten Gipfeln, die den Himmel bevölkern.

Es ist nun einen Monat her, dass sie Osch verlassen haben. Sie müssen sich noch einen Weg durch das Chaos eines Nebengletschers bahnen, auf den sie abbiegen, bevor sie am 8. Juli auf einer Höhe von 4600 Metern das Basislager festlegen. Das Zeltdorf nimmt langsam Gestalt an, als nach und nach die verstreuten Teile der Karawane eintreffen. Von ihren Zelten aus betrachten alle die einschüchternde Nordostwand des Pik Stalin, den sie besteigen müssen. Sie müssen es tun, es ist ihre Pflicht. Von überall hört man das Echo der herabstürzenden Steine und Séracs. Von der ersten Nacht an schreibt Jewgeni, dass er von Lawinen geweckt wird.

Die ersten Besteigungsversuche sind nicht überzeugend. Sie leiden unter Kopfschmerzen, Zweifel macht sich breit. Bei der Erkundung im Vorjahr war Gorbunow nur bis 5900 Meter gekommen. Bis zu seiner Ankunft wird die Truppe vorübergehend von Arkadi Charlampiew geleitet, seinerzeit ein bekannter Boxer. Das magere Aufgebot sowjetischer Alpinisten schöpft aus anderen Sportarten seine Leute und Jewgeni genießt beachtlichen Einfluss. Er bringt die Expedition in Schwung, die bald den Nordgrat erreicht, wo sie vor den Staublawinen geschützt ihr erstes Höhenlager aufschlägt. Es folgen heikle Biwaks in Zwei-Mann-Zelten, in die man zu dritt hineinschlüpfen muss, unzählige Auf- und Abstiege zwischen den Lagern und der erste Todesfall. Beim Passieren eines Gendarms wird der Bergarbeiter Nikolajew Opfer eines Steinschlags. „In dieser Nacht hat keiner geschlafen“, gesteht Jewgeni.

Die Gendarme (das Wort ist im Russischen gleich) sind gefährliche, turmähnliche Felszacken, die den Gratverlauf unterbrechen. Soweit es möglich ist, muss man sie umgehen, ansonsten sie über den Grat überwinden. Jewgeni ist für diese Aufgabe wie geschaffen. Er ist in der führenden Dreierseilschaft, begleitet von einem weiteren Boxer, Alexandre Guettier, und dem Automobilarbeiter Danil Guschin. Mit Letzterem hat Jewgeni vergangenen Winter im Rahmen eines Trainingsaufenthalts am Elbrus schon Erschreckendes erlebt. Bei Temperaturen von minus vierzig Grad Celsius waren sie gezwungen, den Leichnam eines Kameraden hinter sich herzuziehen, der in der unermesslichen Eiswüste erfroren war. Bis zu dem Moment, als Jewgeni selbst im tobenden Sturm mit dem Leichnam in eine Gletscherspalte rutscht. Danil Guschin gelingt es vorerst, den Sturz zu stoppen, doch als er merkt, dass auch er hoffnungslos dem Abgrund aus Eis entgegengleitet, durchtrennt er schließlich das Seil …

Zweifellos ist es ein merkwürdiges Gefühl, wieder mit einem Kerl am Seil zu gehen, der einst nicht zögerte, dein Schicksal zu besiegeln. Am Elbrus damals konnte sich Jewgeni im letzten Augenblick noch an einem Vorsprung festhalten. So ging die Nacht vorüber, Guschin an der Oberfläche des Gletschers, Jewgeni in seinem Inneren und die sterbliche Hülle ihres Freundes über dem Abgrund hängend. Am Morgen gelang es dem einen dem anderen zu helfen. Sie stiegen zur Schutzhütte ab, um Hilfe zu holen und schließlich den dritten Kameraden zu bergen. In den Wänden des Pik Stalin werden sie diesmal vielleicht nicht dasselbe Glück haben. Im Augenblick zeigen sich die Symptome der Höhenkrankheit. Keiner von ihnen hat bisher die 6000-Meter-Grenze überschritten. Eine ganze Woche lang kämpft das Trio damit, an den Gendarmen Haken und Fixseile anzubringen. Am Fuß des vierten Turms angekommen, haben sie den Grat so weit ausreichend mit Sicherungen versehen und steigen wieder ins Basislager ab.

Dort hat sich mit Morgengymnastik und erfrischenden Bädern im nahen Schmelzwassersee die Routine eingestellt. Die Sowjets bleiben menschlich, ihre Berichte erzählen auf jeder Seite von Nahrungsmitteln: Kondensmilch, nach der sie verrückt sind, Konserven, Suppen, Kascha8. Außerdem muss man bei Schlechtwetter die Zeit totschlagen. Jewgeni liest Eugen Onegin oder Die Hauptmannstochter von Puschkin. Wenn er nicht den Trägern das Klettern zeigt oder viel Zeit damit verbringt, mit dem binokl9 die senkrechten Wände abzusuchen. Abends ertönen Lieder, eine Flasche Cognac hat das Gerüttel der Karawane überlebt und jemand trägt in der Stille der Nacht Majakowski-Verse vor. Alle warten auf die Ankunft von Nikolai Gorbunow, ehemals persönlicher Sekretär Lenins, der irgendwo von den angeschwollenen Gebirgsbächen aufgehalten wird …

Jewgeni nutzt die freie Zeit, um seinen Blick auf den Pik Woroschilow oder die Wand der Roten Arbeiter- und Bauernarmee zu richten. Er steigt etwas auf und dann, völlig allein in der Pracht dieser Berge, zeichnet er die Landschaft; geblendet von den Meringen aus Eis, vom Schnee, der die Granitwände wie Gips überzieht, vom Spiel aus Ocker und Weiß. „Der Pik GPU10 ist ein Berg aus Marmor“, beobachtet er. Kalt, wie es zur Staatspolizei nur zu gut passt … Auf der linken Seite erhebt sich in vielen Farben ein namenloser Gipfel. „Lange haben wir mögliche Namen gesucht und ihn dann Pik Menschinski getauft“, schreibt Jewgeni weiter. „Wir“? Wirklich? Wohl eher ein politischer Kommissar der Expedition. Menschinski ist kein anderer als der ehemalige Leiter der GPU. Jewgeni und seine Freunde machen danach den „Vorschlag“, einen Gipfel zu Ehren des am Elbrus erfrorenen Kameraden zu benennen. Ein Misston unter den hohen Tieren der Partei.

8. August. Rückkehr zum Grat und Angriff des fünften Gendarms. Jewgeni Abalakow führt an den Schlüsselstellen. Haken für Haken, Seillänge für Seillänge wird der felsige Vorsprung überwunden und dann mit einer Hanfleiter ausgerüstet. Erneuter Abstieg zum Basislager, wo der Filmemacher der Expedition Gründe findet, nicht zu viel Film zu verbrauchen: „Eine gewöhnliche Lawine auf weißem Hintergrund interessiert mich nicht“, erklärt er den Alpinisten. „Ich brauche eine gigantische auf schwarzem Hintergrund mit seitlichem Lichteinfall!“ Am gleichen Tag hätte beinahe eine Lawine alle unter sich begraben. Jewgeni erzählt, dass das Abendessen nicht fertig war, als sie – ihr knapp entronnen – ins Lager zurückkamen. Der Koch hatte geglaubt, sie seien verschollen …

Kurz darauf stirbt ein Kirgise, Dschambai, an einer Lungeninfektion, was bei den Trägern Entsetzen auslöst. So beschreibt Romm diesen Tag: „Die Träger sitzen im Kreis um Dschambai. Sie schauen uns, die wir aus einem Grund, der ihnen fremd ist, auf diese Gipfel wollen, feindselig an. Diese Gipfel sind die Heimat der bösen Geister. Und diese bösen Geister haben schon Steine auf einen der … ‚Bosse‘ herunterfallen lassen. Jetzt hat es einen unschuldigen Kirgisen getroffen.“ Romm versucht, so gut er kann – die Einheimischen stammeln nur ein paar Brocken Russisch –, die wissenschaftliche Notwendigkeit einer Wetterstation auf dem Pik Stalin zu erklären. Er erzählt, dass die Arbeiter und Bauern der gesamten UdSSR die Bergfahrt in den Zeitungen mitverfolgen. Er beteuert, dass im Himmel keine Geister wohnen, dass er den Menschen gehört, dass es kein anderes Paradies gibt als ein irdisches und sowjetisches.

Er hätte meiner Meinung nach noch sagen können, dass der kommunistische Alpinismus ein großes Unterfangen war, den Himmel zu entsakralisieren. Ich habe in einigen Texten gelesen, dass in der gesamten UdSSR die Völker der abgelegenen Täler dazu aufgefordert wurden, ihre eigenen Berge zu besteigen, um sich selbst davon zu überzeugen, dass dort keine bösen Geister wohnen. In Georgien kämpften sich die Swanen auf den Tetnuldi, um sich zu vergewissern, dass kein böser Geist namens Al dort lebt, geschweige denn die Göttin Swali. Jeder Aberglaube, der mit den Gipfeln zu tun hatte, sollte zurückgedrängt und die Kathedralen aus Stein und Eis, um die herum sich Volksglaube rankte, entmystifiziert werden. Auf dem Altar der Welt Gott durch den Marxismus zu ersetzen, das sollte die eigentliche Herausforderung der Besteigung des Pik Stalin sein.

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