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Der Wahn des Bewertens und Vergleichens

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Dieser Körper, den wir haben und der jetzt hier sitzt … mit seinen Gebrechen und seinem Wohlbehagen … ist genau das, was wir brauchen, um vollständig menschlich, vollständig wach und vollständig lebendig zu sein.

PEMA CHÖDRÖN

Stell dir vor, du stehst nackt da. Hinter dir steht deine Mutter, die auch nackt ist. Und hinter ihr steht deine Großmutter, hinter der deine Urgroßmutter steht, und hinter ihr wiederum deren Mutter. (In deiner Vorstellung kannst du diese Blutslinie bis hin zur allerersten Mutter zurückverfolgen.) Alle sind nackt. Wenn du einen Moment lang den Blickwinkel erweiterst und dir diese Reihe von Körpern, ihre Gestalt und Größe, anschaust, siehst du wahrscheinlich, dass dein Körper eine Form hat, die jener der Frauen hinter dir ähnelt – und dass diese Körpermerkmale aufweisen, die denen der dahinter stehenden Frauen gleichen. Dies sind Gestaltmerkmale, die über Generationen hinweg weitergereicht wurden.

Aus dieser Sicht entdecken wir: Unser Körperbau hat einen ganz anderen Zweck als nur den, mit der Mode unseres Jahrzehnts konform zu gehen. Er wurde vor langer Zeit geschaffen und weitergereicht. Wenn wir unseren Körper abwerten und ihn mit den kulturellen Vorgaben belegen, wie ein vollkommener Körper aussehen sollte, werten wir zugleich unsere Blutslinie ab. Ihn nur an den heutigen Modevorstellungen zu messen, heißt, eine vollkommene evolutionäre Entwicklung herabzusetzen, die einem Zweck dient, der sehr viel umfassender ist als das Bedürfnis, dem aktuellen Zeitgeist zu entsprechen. Womöglich haben die Frauen, die hinter dir stehen, auch ihren Körper abgewertet; womöglich entsprachen auch sie nicht der Vorstellung von Perfektion in ihrer Zeit. Diese Körper haben allesamt ihr Bestes getan: Herzen schlagen, Lungen atmen, alle Zellen und der Blutkreislauf funktionieren Jahrzehnte lang fleißig, ohne gewürdigt zu werden – weil wir alle dem Wahn des Vergleichens anheim gefallen sind.

„Ich bin hässlich, ich bin fett, ich bin zu alt, und mein Mann wird bald mit einer jüngeren Frau davonlaufen.“ So lauten die Stimmen des Vergleichens und Bewertens.

Unsere inneren Organe verurteilen wir nicht so bedenkenlos. Wir enthalten uns solcher unsinnigen Kommentare bezüglich des übrigen Körpers, nur nicht im Hinblick auf unser Äußeres. Bewerten, Kritik und Vergleich sind ausnahmslos ersonnene Verhaltensmuster und Programmierungen, die wir übernommen haben und unbewusst fortdauernd verstärken. Sie sind das Resultat unserer tief sitzenden sozialen und kulturellen Neigung, den Körper zu vergegenständlichen.

Es ist natürlich, Schönes zu lieben und sich von Schönheit angezogen zu fühlen. Sie reizt und fasziniert uns, selbst wenn unsere Vorstellung von Schönheit sich im Lauf der Zeit ändert. Wenn jemand in unserer Augenfarbe oder in der Wölbung unserer Oberschenkel Schönheit wahrnimmt, können wir das als wohltuend und belebend erfahren. Dies verschließt uns nicht unweigerlich der Gegenwärtigkeit; im Gegenteil, es vermag uns derart aufzulockern und zu öffnen, dass unsere Strahlkraft noch deutlicher scheinen kann. Unsere Pein beginnt, sobald wir unseren Körper nicht von innen erfühlen, sondern als ein Gebilde sehen, das mit den Augen der anderen betrachtet wird. In den Fünfzigern schrieb die französische Schriftstellerin Simone de Beauvoir in Das andere Geschlecht4 darüber, dass der Verlust des inneren Selbst eine Art „Hypnose“ sei, die sogar ganze Menschengruppen niederhalten könne – wenn sich eine Unterschicht beispielsweise selbst so erlebt, wie sie von der Oberschicht gesehen wird.

In ähnlicher Weise sind viele Frauen in dem Spiel gefangen, schön und sexy zu sein – ein Spiel, das man in Kinofilmen bis ins Extrem ausgereizt sehen kann, wo Frauen häufig lediglich zur Dekoration dienen. Wir sehen es in Musikvideos, in der Werbung und in der explodierenden Pornografie-Industrie im Internet. Man vereinfacht diese Angelegenheit zu sehr, wenn man nur mit dem Finger auf die Männer zeigt, um sie als die missbrauchende Seite anzuklagen. Das Problem liegt in unserem Verhältnis zum Weiblichen. Den Befreiungsprozess können wir – Männer wie Frauen – einleiten, indem wir unsere eigenen Überzeugungen und Urteile hinterfragen.

Spüre deinen Körper, wie er gerade jetzt ist. Dein Herz schlägt untadelig. Deine Zellen verrichten ihre Arbeit redlich. Selbst wenn du krank bist, kannst du sicher sein, dass dein Körper sein Bestmögliches tut, um gesund zu werden. Spüre innerlich, welches Wunder dein Körper ist. Er ändert sich mit den Jahreszeiten und den Mondzyklen. Er ist ein vollkommener Organismus, der sich mit angemessener Ernährung und liebender Zuwendung bewegt, heranwächst und in eigener vollkommener Weise liebt. Verfallen wir allerdings dem Wahn des Bewertens und Vergleichens, sind wir nicht mehr im Körper anwesend. Die Folgen sind vielfältig.

Wir kappen unsere Verbindung zur inneren Weisheit.

Wie können wir nach innen lauschen, wenn wir täglich einen misstönenden Chor raunen hören, wie fehlerhaft unser Körper sei? Wie können wir uns auf die Weisheit unseres Schoßes, auf unser Bauchgefühl einstimmen, wenn wir ein Korsett tragen, das so eng ist, dass wir kaum atmen können? Wir büßen die Fähigkeit ein, uns von innen her mit der Natur verbunden zu fühlen.

Wir betreiben zerstörerisches Konkurrenzdenken.

Wenn wir den Körper mit starren Maßstäben messen, verlieren wir den Blick für die Schönheit jedes einzigartigen Ausdrucks des Weiblichen. Der Anblick einer Frau mit einem attraktiven Busen macht uns klein, wenn wir ihn mit unserem eigenen vergleichen. Vergiftet durch das bittere Gebräu der Konkurrenz, suchen wir eifrigst die Fehler der anderen Frauen; das soll uns helfen, uns besser zu fühlen – wobei wir vergessen, dass wir einen einzigartigen Ausdruck des Weiblichen bewerten. Dies schadet unserer Verbundenheit mit uns selbst, denn wir beginnen, das Weibliche auch in uns abzuwerten.

Wir begrenzen unseren Schönheitssinn.

Indem wir uns und andere Frauen von außen statt von innen betrachten, büßen wir ein umfassendes, multidimensionales und alles durchdringendes Schönheitserleben ein. Schönheit können wir mit den Augen erblicken, aber Schönheit kann ebenso über die Haut gefühlt werden, und wenn wir uns beim Lachen und sogar im Schmerz öffnen, können wir Schönheit als Beschaffenheit, die dem Leben selbst innewohnt, fühlen. Wenn wir nur oberflächlich hinschauen, sehen wir Schönheit als etwas von uns Getrenntes, während wir die Einheit im Wesensgrund unseres Seins ignorieren – jene Einheit, die sich danach sehnt, gesehen zu werden.

Wir verlieren das natürliche Gespür für Grenzen.

Wenn wir unseren Körper vergegenständlichen, hören und vertrauen wir nicht mehr auf unsere intuitive Wahrnehmung, wenn sich im Inneren etwas schräg anfühlt. Wenn ein Mensch näher an uns heranrückt, als es sich für uns richtig anfühlt, macht sich normalerweise irgendwo im Körper, womöglich im Bauch, eine Spannung bemerkbar; dann rücken wir entweder ab oder können aufzeigen, wo unsere Grenze ist. Wer nicht im Körper gegenwärtig ist, registriert diese natürlichen Signale nicht – was möglicherweise die Gefahr körperlicher oder psychischer Gewalt zur Folge hat. Viele Frauen berichten, wie sie in der Idee des netten Mädchens – dessen spirituelle Vertreterinnen ein empfängliches Herz haben – so sehr verhaftet sind, dass sie sich darum bemühen, sogar den Leuten zu gefallen, die sie schlecht behandeln. Sie sind außerstande, ihr Inneres zu spüren – und wenn sie es doch bemerken, vertrauen sie ihm nicht.

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