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Kapitel 24

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Montagnachmittag

»Sie haben sicherlich schon einmal etwas von der ärztlichen Schweigepflicht gehört.« Doktor Petra Rosenberg zog eine Braue in die Höhe und betrachtete die Kommissare. Ihre schwarze Kurzhaarfrisur passte zu ihrer kratzbürstigen Art wie eine Scheuerbürste zu einem verdreckten Boden. Ihr Gesicht war faltenfrei, doch ihre Augen wirkten abgestumpft und ließen sie älter wirken, als sie war.

»Und Sie haben bestimmt schon einmal etwas über die Behinderung polizeilicher Ermittlungen gehört«, konterte Ruby.

Spike bemerkte, wie die Verärgerung über Paulas behandelnde Ärztin den Schultergürtel seiner Kollegin anspannte. Es wäre in der Tat hilfreich, wenn die Medizinerin ihnen die Verletzungen, die Paula erlitten hatte, detailliert erklären würde. Es könnte der Aufklärung des Falles dienlich sein. Er dachte an Gegenstände, die eventuell in der Umgebung des Tatorts unbedacht weggeschmissen worden waren und nach denen sie gezielter suchen konnten. Er musste sich jedoch eingestehen, dass die Frau sich absolut korrekt verhielt.

»Ich kann Ihnen diese Auskunft nur geben, wenn das ausdrückliche Einverständnis der Betroffenen vorliegt, und in Paulas Fall ist dies bisher nicht erfolgt – weder schriftlich noch mündlich. Sie könnten sie aber selbst fragen.« Sie machte eine Pause, als wären Ruby und Spike begriffsstutzig und bräuchten eine Weile, um das Gesagte zu verarbeiten. »Allerdings habe ich zum jetzigen Zeitpunkt bezüglich einer Befragung äußerste Bedenken. Körperlich ist sie zwar auf dem Weg der Besserung, aber psychisch sehr labil. Das habe ich auch der Staatsanwältin mitgeteilt.«

»Je mehr Zeit vergeht, desto schwerer wird es, die Täter zu finden«, appellierte Ruby an ihre Vernunft.

»Ach ja?« Die Augenbraue der Ärztin rutschte wieder in die Höhe. »Deshalb findet die Polizei die meisten Vergewaltigungstäter also nie.« Sie legte die Stirn in Falten. »Ich kann mich zumindest nicht darin erinnern, in letzter Zeit etwas über einen verurteilten Vergewaltiger gelesen zu haben. Wenn ich Sie richtig verstanden habe, ist das nur der Fall, weil die Opfer zu spät aussagen.«

Ruby knetete ihre Finger.

Spike war klar, sie tat das nur, um diesen keine Gelegenheit zu bieten, sich zu Fäusten zu ballen. »Dann haben Sie also noch mehr Vergewaltigungsopfer behandelt?«, sprang er auf den fahrenden Zug auf.

Doktor Rosenberg drehte den Kopf langsam von Ruby zu ihm. »Das habe ich nicht gesagt. Ich frage mich nur, ob es der Polizei wirklich um Aufklärung geht. In Deutschland wird alle drei Minuten eine Frau vergewaltigt. Und wie viele Männer werden verurteilt?«

»Auf jede vierte Anzeige erfolgt eine Verurteilung.« Spike war sich sicher, die Ärztin kannte auch diese statistische Information. Unter Garantie war ihr ebenso bekannt, dass jeder zweite Fall wegen Mangel an Beweisen eingestellt wurde und der Großteil der Vergewaltigungen, zum Teil aus Scham, nicht einmal angezeigt wurde.

»Was Sie nicht sagen.« Doktor Rosenberg schmunzelte zynisch. »Ich gebe Ihnen zehn Minuten, um mit meiner Patientin zu sprechen. Mehr kann ich nicht verantworten.«

Spike nickte. »Vielen Dank. Wir werden sehr behutsam vorgehen.«

»Das dürfte wohl das Mindeste sein.« Der Blick der jungen Frau durchbohrte ihn wie ein Dartpfeil eine Korkscheibe.

»In welchem Zimmer liegt Paula?«, fragte Ruby.

»Das Mädchen, das einmal Paula Sommerfeld war, ist im Einzelzimmer 211.« Ihre Hand wies den Flur hinunter.

Spikes Blick folgte der Bewegung automatisch und suchte dann in ihrem Gesicht nach einer Erklärung für die Wortwahl.

»Sie fragen sich, wie ich das meine«, deutete sie richtig.

Er nickte.

»Paula wurde nicht nur vergewaltigt. Sie wurde ausgelöscht. Deshalb existiert das Mädchen, das einmal Paula Sommerfeld war, nicht mehr.« Die Medizinerin strich sich über das stoppelige Haar.

Spike hielt die Luft an und wartete auf die weitere Ausführung.

»Die Männer haben ihr ihre Zukunft geraubt – ihr potenzielles Leben ausradiert. Das, was sie war, und das, was aus ihr geworden wäre, wenn sie nicht wie wilde Tiere über sie hergefallen wären, ist ein für alle Mal verloren. Sie haben sie sozusagen ausgeweidet. In jeglicher Beziehung.« Sie überlegte einen Moment. »Das Einzige, was ihr bleibt, ist, einen neuen Weg einzuschlagen, um etwas aus ihrem Leben zu machen. Falls sie die Kraft dazu findet. Aber sie wird nie wieder das unbeschwerte Mädchen sein, das sich eine Zukunft als Mutter und Ärztin gewünscht hat. Wir reifen mit unseren Erfahrungen, nicht mit den Jahren.« Sie nickte. »Sie entschuldigen mich, bitte. Meine Patientinnen warten.«

»Na, super«, meinte Spike. Er schaute ihr hinterher, als sie durch den leeren Korridor stob. »Bei so viel Kooperation werden wir den Fall bestimmt schnell lösen. Ich kann mir kaum vorstellen, dass Paula sich uns gegenüber öffnet.« Er sah in Richtung des Zimmers.

Der karge Flur, die weißen Türen, der glänzende Vinylboden, der Duft nach Desinfektionsmitteln, vor allem aber die Schritte der Ärztin, die leiser und leiser wurden, riefen alte Erinnerungen in ihm wach, die er nur allzu gern verdrängte. Erinnerungen, die er seit zwanzig Jahren mit sich herumschleppte und die ihn immer wieder überwältigten.

Er wischte sich mit der Hand über die Augen, um die Fata Morgana zu vertreiben: ein Mädchen mit braunem Pferdeschwanz, das durch einen Krankenhausflur torkelte. Jenny war seine große Liebe gewesen. Davor war er zwar schon mit etlichen Mädchen gegangen und hatte noch mehr von ihnen geküsst, aber er hatte sich nie nach einer von ihnen gesehnt, wenn sie nicht da war. Sie waren im Alter von sechzehn zusammengekommen und nach dem Abi, als seine Mutter langsam an Krebs starb, umso mehr zusammengewachsen. Unmittelbar nach ihrem neunzehnten Geburtstag wurde bei Jenny akute Leukämie diagnostiziert. Kurz vor ihrem zwanzigsten Geburtstag war sie gestorben.

Nach ihrem Tod hatte sich sein verletztes Inneres nach außen gekehrt, und er hatte auf dem Krankenhausflur randaliert, bis Pfleger und Schwestern ihn überwältigen konnten und er von einem Arzt ein Beruhigungsmittel injiziert bekam.

Und jetzt war Louiza schwanger. Was sollte er tun? Heiraten wohl kaum. Er hatte sich geschworen, nie wieder eine Frau zu nah an sich ranzulassen, damit ein Verlust ihn nie wieder so treffen konnte. Nie wieder so verletzen. Nie wieder solch einen alles zerstörenden Schmerz hervorrufen.

Spike hatte das Gefühl, der Boden unter ihm würde schwanken. Er wollte nur eins.

Raus aus diesem Krankenhaus.

Raus.

Raus.

»Was ist?« Ruby betrachtete ihn besorgt. »Alles okay?«

»Ich brauche dringend einen Kaffee.« Er machte auf dem Absatz kehrt und rannte Richtung Ausgang.

Artemis

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