Читать книгу Artemis - Charlotte Charonne - Страница 21

Kapitel 14

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Freitagnachmittag

»Wir werden Paula leider als Zeugin zum Tathergang befragen müssen.« Ruby beobachtete Paulas Mutter, die ihr gegenüber auf dem bequemen Sofa saß.

In der Morgenbesprechung war das Team der K12 zusätzlich mit zwei Kastrationsfällen betraut worden. In einem Park war eine Rentnerin mit ihrem Hund im Morgengrauen auf einen Mann gestoßen, der mit heruntergelassenen Hosen an eine Parkbank gekettet war. In einem Stundenhotel hatte eine Reinigungskraft ebenfalls einen Verletzten entdeckt. Bei beiden Opfern handelte es sich um Mitbürger marokkanischer Herkunft. Hakem Kharja, zweiundzwanzig, und Mujahid Hadji, dreiundzwanzig Jahre. Da Paula höchste Priorität hatte, hielt das Ermittlerduo an seinem heutigen Tagesplan fest. Dieser sah vor, mit Paulas Angehörigen zu sprechen und den Tatort aufzusuchen.

Im Haus der Familie Sommerfeld dominierten sanfte Naturtöne, die Entspannung suggerierten. Auf den sandfarbenen Polstermöbeln sammelten sich Kissen mit grünen Streifenmustern; über einer Armlehne hing eine Kuscheldecke; auf dem Ohrensessel lud ein flauschiges, weißes Kunstfell zum Verweilen ein. Hingegen verrieten die fahrigen Bewegungen der Hausherrin ihre innere Unruhe.

»Ich weiß, Franziska, also die Staatsanwältin Frau Neumann, hat es mir gesagt. Sie hat uns um unsere Einwilligung, das Ermittlungsverfahren aufzunehmen, gebeten. Mir ist klar, dass es ihre Pflicht ist, auch ohne Anzeige und ohne unsere Zustimmung zu ermitteln.« Renate Sommerfeld knetete ihre schlanken Finger. Sie hätten jederzeit für eine Handcreme-Werbung herhalten können, auch wenn ihre Nägel, wie für eine Pianistin üblich, kurzgefeilt waren. »Trotzdem legte sie Wert auf unser Einverständnis. Ich nehme an, weil wir befreundet sind. Sie meinte, Paula müsse auf jeden Fall aussagen. Notfalls bei einer Ladung durch die Staatsanwaltschaft, was sie jedoch vermeiden möchte.« Sie verschränkte die Arme vor der Brust und gebot somit dem Kneten ihrer Hände Einhalt.

Ruby nickte. Die Staatsanwältin hatte ihr und Spike von der bestehenden Freundschaft berichtet. Ebenso hatte sie ihnen gebeichtet, sich schuldig zu fühlen, weil sie nicht darauf bestanden hatte, Paula nach Hause zu fahren. Stattdessen war sie froh gewesen, als das Mädchen ihr Angebot abgelehnt hatte. So hatte sie sich weiterhin in ihre Akten vertiefen können. »Frau Neumann hat bereits einen Termin mit Paula im Krankenhaus für uns vereinbart.«

»Dann werde ich natürlich mitkommen.« Renate Sommerfeld richtete sich auf.

»Das ist nicht nötig. Paula möchte nicht, dass Sie bei der Befragung anwesend sind«, erklärte Ruby.

Renate Sommerfeld erbleichte und starrte auf ihre Finger, die sich wieder ineinander verhakt hatten. Schließlich erlangte sie ihre Fassung zurück. »Ich habe ein Anwesenheitsrecht. Paula ist erst sechzehn.« Ihr Rückgrat versteifte sich. »Ich werde nicht zulassen, dass Sie sie allein einem Verhör zu unterziehen.«

Rubys Nacken prickelte. So viel Energie hatte sie ihrem Gegenüber absolut nicht zugetraut. Bevor sie jedoch etwas entgegnen konnte, kam Spike ihr zuvor.

»Wir wissen es zu schätzen, dass Sie Ihre Tochter beschützen und unterstützen möchten.« Er lächelte besänftigend und ließ die Worte einsinken. »Meine Kollegin und ich glauben jedoch, dass Paula freier mit uns sprechen wird, wenn Sie nicht dabei sind.«

Renate Sommerfeld betrachtete Spike und schien über seine Worte nachzudenken.

»Wir wollen die Täter fassen. Das möchten Sie doch auch.« Er nickte ihr aufmunternd zu. »Und je mehr Details wir von Ihrer Tochter erfahren, desto schneller wird uns das gelingen. Ich verspreche Ihnen, wir werden sehr behutsam vorgehen. Verzichten Sie auf Ihr Anwesenheitsrecht.«

»Also gut«, stimmte Frau Sommerfeld zu. Sie brach ab und tupfte sich mit einer Serviette die Tränen aus den Augenwinkeln. »Ich verstehe das alles nicht. Früher hatten Paula und ich ein gutes Verhältnis, aber jetzt will sie mich nicht mehr sehen. Keinen von uns.«

»Sie dürfen das nicht persönlich nehmen.« Ruby sah sie an. Schönrederei nutzte nichts. »Paula empfindet Scham und Ekel. Wahrscheinlich sogar Schuld.«

»Aber Paula trifft doch gar keine Schuld.« Ein Hauch von Zorn verschleierte ihren Blick.

»Natürlich trifft sie keinerlei Schuld«, erklärte Ruby schnell. »Aber sie hat Ihren Rat, den Park bei Nacht nicht zu betreten, außer Acht gelassen. Das haben Sie uns eben gesagt. Deshalb könnte es sein, dass sie Schuld empfindet. Es ist nur eine Vermutung. Ich bin keine Psychologin.«

Renate starrte Ruby ungläubig an. »Das ist doch absurd«, flüsterte sie.

Eine unangenehme Stille breitete sich in dem Raum aus wie giftige Emissionen in einer überstrapazierten Großstadt.

»Weshalb wir eigentlich hier sind …«, durchbrach Spike das Schweigen. »Könnten Sie uns zu der Stelle führen, an der Paula gefunden wurde? Die Kollegen haben den Tatort zwar schon untersucht, aber wir würden uns gern selbst ein Bild machen.«

»Nein, also, ich …« Renate sortierte ihre Gedanken. »Ich kann es nicht, weil ich es nicht weiß. Ben und sein Freund Tobias haben Paula entdeckt. Sie haben sofort einen Krankenwagen alarmiert. Als mein Mann im Park ankam, hatte der Rettungsdienst Paula bereits in den Krankenwagen getragen. Frank und Ben sind sofort ins Krankenhaus gefahren. Ich bin mit dem Taxi dorthin gekommen.« Sie legte die Hand auf den Brustkorb, als wollte sie die durch die Erinnerung verstärkte Atmung beschwichtigen. »Ich könnte an diesen Ort auch nicht gehen, wenn ich wüsste, wo er wäre.«

»Das kann ich gut verstehen.« Spike füllte ein Glas mit Wasser aus einem Krug, den die Gastgeberin zuvor auf einem Tablett arrangiert hatte, und reichte es ihr.

Sie nippte an der Erfrischung und stellte das Getränk auf den Couchtisch. Die Coffee-Table-Books ließen auf die Berufe und Hobbys der Hausbewohner schließen. Einen Stapel bildeten Musikbücher. Zuoberst lag Franz Liszt: Die Jahre in Rom und Tivoli. Ein anderer Packen enthielt diverse Sportbände. Auf einem Einband thronte der Titel Das Goldene Buch der Fußball-Weltmeisterschaft. Daneben standen verschiedene Kerzenleuchter, deren Licht am Abend eine anheimelnde Atmosphäre kreierte sowie eine Glasschale mit Mozartkugeln.

»Sie sagten, Sie sind Lehrerin.« Spikes Blick streifte über die Bildbände und blieb an den Schokoladenkugeln haften. »Was unterrichten Sie?«

Frau Sommerfeld hatte sich wieder gefasst. »Musik und Biologie.« Sie griff die Schale und reichte ihnen die Süßigkeiten.

Spike verneinte mit einem Lächeln, Ruby mit einem Kopfschütteln. Sie hob eine Augenbraue und schaute ihren Partner an. Er war normalerweise immer für etwas Süßes zu haben.

»Paula hat mir die Kugeln zum Geburtstag geschenkt. Sie ist immer so aufmerksam.« Die Gastgeberin stellte die Schale zurück auf den Tisch. »Musik ist mein Steckenpferd. Ich gebe Musikunterricht in der Schule und privaten Klavierunterricht. Biologie unterrichte ich schon seit Jahren nicht mehr«, setzte sie hinzu.

»Könnte Ihr Sohn uns die Stelle im Park zeigen?« Ruby runzelte die Stirn.

»Wenn Sie ihm das antun wollen.« Sie sackte in sich zusammen. Ihr gerundeter Rücken erinnerte an eine trauernde Witwe und ließ sie um Jahre altern.

»Es würde uns bei der Klärung des Falls sehr helfen.« Spikes Stimme klang melodisch und sanft.

»Ben ist oben in seinem Zimmer. Er hat heute erst später Vorlesungen. Ich hole ihn. Aber ich denke, er ist nicht dazu bereit, die Stelle noch mal aufzusuchen. Es gibt Erinnerungen, die einfach nur begraben werden sollten.«

Artemis

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