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Kapitel 4

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28. April, 22:28 Uhr

Goldene Fäden fielen aus dem Himmel, zappelten vor dem Fenster und erhellten den Raum.

Renate Sommerfeld unterbrach ihr Klavierspiel und betrachtete das Lichtspiel. Dann schaute sie zum wiederholten Male auf die alte Standuhr. Wo blieb Paula nur? Sie merkte, wie die Unruhe von ihren Fingerspitzen aufwärts zu ihren Schlüsselbeinknochen wanderte. Ein unangenehmes Kribbeln breitete sich in ihrem Brustkorb aus. Mechanisch kratzte sie über die Haut, die vom Ausschnitt der Bluse freigegeben wurde. Sofort bildeten sich zarte, rote Striemen.

Sie seufzte leise. Plötzlich empfand sie die anheimelnde Wohnzimmeratmosphäre als geisterhaft. Die Kerzen auf dem Klavier warfen zuckende Schatten an die Wand, obwohl sie keinen Luftzug verspürte. Das gleichmäßige Geräusch der geerbten Wanduhr machte ihr das Verstreichen der Zeit Tick für Tack bewusst.

Renate sprang von dem Lederschemel auf und pustete die Kerzen aus.

Die Uhr tickte stoisch.

»Paula ist immer noch nicht da.« Ihre Stimme klang selbst in ihren Ohren brüchig.

»Wie spät ist es denn?« Paulas Vater löste seine Aufmerksamkeit von dem Sportmagazin.

»Schon fast halb elf.« Sie massierte ihre Hände.

»Was hattest du denn mit ihr vereinbart?«

»21:45 Uhr. Wegen des angekündigten Gewitters.«

»Sie kommt bestimmt gleich.« Franks Interesse schweifte zurück zu dem Magazin.

»Aber es ist schon viel später. Und ich kann sie nicht erreichen!«

Er seufzte. »Wahrscheinlich sitzt sie auf dem Fahrrad und hört das Handy nicht. Sie wird jeden Moment hier sein.«

»Sie ist aber immer pünktlich. Und wenn sie sich verspätet, ruft sie vorher an.« Renate verschränkte die Finger ineinander und drückte die Fingerkuppen auf die Handrücken.

»Die Mädchen haben sicherlich über das Lernen die Zeit vergessen. Das kann doch mal passieren«, murmelte er über die Seiten gebeugt.

»Wahrscheinlich hast du recht«, hörte sie sich halbherzig sagen. »Vielleicht konnte sie uns aus irgendeinem Grund nicht erreichen und hat Benjamin angerufen.« Noch während sie sprach, eilte sie aus dem Wohnzimmer und die Treppe zum ersten Stock empor.

Auf dem Weg nach oben überflog ihr Blick automatisch die Bildergalerie, die vom Leben der Familienmitglieder erzählte. Im unteren Bereich zeigten die Fotos den jungen Frank mit Medaillen geschmückt auf zahlreichen Siegertreppchen und eine lächelnde Pianistin mit Bouquets im Arm auf namhaften Bühnen. Urlaubsbilder des frisch verliebten Paares schlossen sich an und gipfelten in einem Hochzeitsfoto. Den Großteil der Wand pflasterten Rahmen, die Momente aus Sophias, Benjamins und Paulas Leben lebendig hielten und eine lachende Familie bei Festen, im Schnee und in den Bergen zeigten.

Sie klopfte an Benjamins Zimmertür. Ohne auf das Herein zu warten, öffnete sie diese. Paulas Bruder und sein Freund Tobias hockten auf Bean Bags und hantierten mit der Playstation-Konsole. Zwischen ihnen auf dem Boden lag ein leerer Pizzakarton. Der Duft von Salami und Oregano schwebte in der Luft.

»Hat Paula sich bei dir gemeldet?«

»Nö«, meinte Benjamin, ohne sich vom Bildschirm abzuwenden.

»Hast du mal auf dein Handy gesehen?« Sie knetete ihre Finger.

»Nee.«

»Dann tu es bitte sofort.« Ihre Stimme kletterte in einen höheren Oktavbereich.

»Mann, Mama! Jetzt habe ich den Ball verloren.« Er schlug mit der flachen Hand auf den Sitzsack.

»Danke, Frau Sommerfeld«, scherzte sein Freund Tobias. »Wo brennt’s denn?«

»Paula ist noch nicht zu Hause.«

»Dann ruf sie doch an«, schimpfte Benjamin.

»Das habe ich schon. Sie antwortet nicht.« Die Worte klangen weinerlich.

»Sie ist bestimmt unterwegs.« Er angelte nach seinem Handy, das auf dem Boden lag. »Da ist nix!«

»Danke.« Renate zog die Tür hinter sich ins Schloss und strich sich fahrig durch das kinnlange Haar. Vielleicht sollte ich sie noch mal anrufen, grübelte sie auf dem Weg nach unten.

Sie prüfte die Uhrzeit auf dem Handydisplay. Mittlerweile war es fast Viertel vor elf. Sie wählte Paulas Handynummer. Das Freizeichen ertönte.

Paula meldete sich nicht.

Sie wiederholte die Prozedur. Dann eilte sie in den Flur und probierte per Haustelefon, eine Verbindung zum Mobilgerät ihrer Tochter herzustellen.

Paula nahm den Anruf nicht entgegen.

Unbehagen breitete sich in ihr aus. Es kribbelte in den Armen und kitzelte an der Kehle. Sie räusperte sich. Das Kitzeln blieb.

»Meinst du, ich kann um diese Uhrzeit noch bei Neumanns anrufen?« Ihr wurde heiß. Sie nestelte an den Knöpfen des Baumwollcardigans.

»Wie bitte?« Frank lugte über den Rand des Magazins.

Sie wiederholte die Frage.

»Wieso?« Er sah von seinen Sportartikeln auf. »Äh, natürlich«, fügte er hinzu, als er ihr besorgtes Gesicht sah. »Wie spät ist es denn?«

»Viertel vor elf.« Sie bediente die Telefon-App auf ihrem Handy, fand den Namen und tippte auf das Hörersymbol. Ihre Brust hob und senkte sich, während sie das Gerät ans Ohr presste.

»Neumann«, meldete sich die Staatsanwältin nach dem dritten Klingeln.

»Guten Abend, Franziska, entschuldige die späte Störung. Ist Paula noch bei euch?« Sie ging im Zimmer hin und her, um das Kribbeln in den Beinen loszuwerden. Es ließ sich jedoch nicht überlisten.

»Paula ist schon länger fort«, antwortete Franziska.

»Wie lange?«

»Seit ungefähr einer Stunde. Die Mädchen haben zusammen für die Bio-Klausur gelernt und sich ein wenig verspätet. Wegen des aufziehenden Gewitters habe ich Paula angeboten, sie mit dem Auto nach Hause zu fahren. Sie hat aber abgelehnt, weil sie morgen früh mit dem Fahrrad zur Schule fahren will.«

»Wo kann sie denn nur sein?« Renate war den Tränen nah.

Frank bat sie per Handzeichen, die Lautsprecher-Funktion zu betätigen.

Sie stellte das Gespräch auf laut.

»Warte mal kurz. Ich frage Johanna. Vielleicht weiß sie etwas.«

Sie hörten, wie das Telefon abgelegt wurde. Trotz des Lautsprechers presste Renate das Handy mit beiden Händen an die Ohrmuschel.

»Renate?«

»Ja?« Ihre Stimme zitterte.

»Johanna sagt, sie wollte direkt nach Hause fahren.«

»Was kann ich denn jetzt machen?« Ihre Worte kraxelten in einen höheren Bereich der Klaviatur. »Die Polizei anrufen?«

»Dazu ist es noch zu früh. Vielleicht hat Paulas Rad einen Platten oder die Kette ist abgesprungen oder sie ist gestürzt.« Franziska hustete.

Renate schniefte.

»Johanna weiß nicht, welchen Weg Paula nehmen wollte. Was hältst du von folgender Idee? Ich fahre über die Richard-Wagner-Straße zu euch, und dein Mann nimmt die Strecke über die Goethe-Straße zu uns. Dann werden wir sie schnell finden.«

»Ich werde Frank begleiten!«

»Du bleibst am besten zu Hause und rufst uns an, falls sie zwischenzeitlich eintrifft.«

»Okay«, hauchte Renate. Sie wischte sich mit dem Handrücken Tränen aus den Augenwinkeln. »Vielen Dank.«

»Das ist doch selbstverständlich. Ich fahre sofort los. Bis gleich.« Sie legte auf.

»Kein Grund zur Unruhe«, versuchte ihr Mann sie zu besänftigen. »Franziska hat bestimmt recht.« Er drückte ihr einen Kuss auf die Wange und eilte zur Haustür.

Benjamin und Tobias kamen die Treppe herunter.

»Tschüss, Frau Sommerfeld.« Tobias nickte ihr zu. »Ist Paula immer noch nicht da?«, setzte er hinzu, als er ihren Ausdruck sah.

Sie schüttelte den Kopf. »Frank und Johannas Mutter suchen sie jetzt. Sie fahren die Strecke mit den Autos ab.«

»Und falls sie durch den Park gefahren ist?«, warf Benjamin ein.

»Durch den Park? Der ist dunkel. Nein, da fährt sie nie lang.« Sie schüttelte entschieden den Kopf.

Benjamin linste zu Tobias. »Was hältst du davon, die Strecke gemeinsam mit dem Fahrrad abzufahren? Nur sicherheitshalber«, schlug er seinem Freund vor. »Ist ja kein großer Umweg für dich.«

»Kein Problem.« Tobias nickte.

»Das kommt gar nicht infrage«, beschwerte sich Renate halbherzig. »Das ist viel zu gefährlich.«

»Bis gleich.« Benjamin ignorierte ihren Einwand und stürmte an ihr vorbei aus dem Haus.

Renate schloss die Tür hinter ihnen und kratzte sich gedankenverloren am Dekolleté. Wo Paula nur steckt?, fragte sie sich immer wieder. Schließlich kauerte sie sich auf die unterste Treppenstufe, krallte die Finger um die Oberarme und starrte auf die Haustür.

Artemis

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