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Kapitel 7

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Donnerstagmittag

Die Aromalampe auf dem Wohnzimmertisch spendete ein behagliches Licht und erfüllte den Raum mit dem Duft von Zitronengrasöl.

Maria nahm den Wohlgeruch, dem eine Stimmungsaufheiterung nachgesagt wurde, nicht wahr. Paulas Vergewaltigung hatte nicht nur sie, sondern ihre ganze Familie in Aufruhr versetzt. Jeder der Anwesenden, was glücklicherweise nur die Spitze des Familieneisbergs war, gab seine Meinung zum Besten. Nur das vierjährige Lenchen zwängte ihren Rücken stumm in die Sofaecke. Ihre rosigen Lippen bebten und Tränen liefen leise über das kreidebleiche Gesichtchen.

Der drei Jahre ältere Hektor hatte vor ihr mit seinem Holzschwert Stellung bezogen, um sie vor Drachen und anderen Gefahren zu beschützen, und flüsterte ihr Geheimbotschaften ins Ohr, um sie zu beruhigen.

Maggie, ein dünner Teenager, der Ähnliches wie Paula erlebt hatte, schrie nach Hilfe und Gerechtigkeit.

Marias Lieblingsschwester kauerte mit angezogenen Knien auf dem Sofa und presste ihre Hände auf die Ohren. Die innere Anspannung drohte, sie zu zerreißen. An ihrem schmerzverzerrten Gesicht erkannte Maria, dass in ihrem Kopf tausend Nadeln stachen. Sie selbst kannte dieses Gefühl nur zu gut. Wenn der Raum dann anfing, sich zu drehen, war es endgültig Zeit, sich zurückzuziehen.

»Geht schlafen«, entschied Maria. »Ich werde mich um alles kümmern.« Es war ihre Aufgabe, alle Entscheidungen, die die Familie betrafen, zu fällen. Sie konnte das weitere Vorgehen mit ihrer akribischen Planungsliebe und Entscheidungskraft handhaben. Es war Zeit, ihr das Feld zu überlassen.

***

Maria saß am Küchentisch und hatte die Ellenbogen aufgestützt. Die Fingerspitzen ihrer Hände berührten sich und formten einen kleinen Tempel. Die Entscheidung, was mit den Männern geschehen sollte, war ihr leichtgefallen. Es musste verhindert werden, dass sie ihre Tat wiederholten. Sie stellten eine Gefahr dar – nicht nur für die Frauen ihrer Familie, sondern für alle. Emi würde die Kerle außer Gefecht setzen.

Die Frage, auf wen sie Emi zuerst ansetzen sollte, gestaltete sich hingegen schwieriger. Sie stierte auf die Namen auf dem Papier:

Rachid

Hakem

Askari

Mujahid

Issam

Dies waren die Männer, die Paula vergewaltigt und fast getötet hatten. Das stand außer Frage. Doch wem sollte Emi ihre Aufmerksamkeit zuerst widmen? Rachid, dem Anführer der Gang? Er hatte die Strafe unter Garantie am meisten verdient, würde es Emi aber nicht einfach machen. Also doch besser demjenigen, mit dem sie das leichteste Spiel hätte? Das war wahrscheinlich Askari. Aber nach dem ersten Eingriff würden die anderen vorsichtiger werden. Somit würde es von Mal zu Mal schwieriger, die Stärkeren in eine Falle zu locken. Es war wirklich vertrackt. Schließlich entschied sie sich für einen altbekannten Abzählreim.

Ene, mene, muh …

Sie lächelte, während der Stift in ihrer Hand die Namen rhythmisch abzählte. Sie versah Hakem mit einem geraden Strich.

Ene, mene, muh …

Der Stift hüpfte über die Namen und strich den nächsten mit einer korrekten Linie durch.

Ene, mene, muh …

Die Mine begleitete die Silben und verabschiedete den nächsten Übeltäter mit einem waagerechten Zug.

Ene, mene, muh …

Mit fester Entschlossenheit strich sie die nächsten Buchstaben durch und belächelte das Ergebnis. »Mujahid!« Sie schürzte die Lippen. »Und falls du nicht auf den Trick hereinfällst, dann eben einer der anderen.«

Ihre Züge entspannten sich, während sie sich vorstellte, wie er in die perfekt arrangierte Falle tappen würde. Für den heutigen Abend hatte sie ein Zimmer in einem Stunden­hotel gemietet, es im Voraus bezahlt und bereits für das Abenteuer präpariert. Den Rest würde sie Emi überlassen. Sie war ebenso wild, unzähmbar und grausam wie Artemis – die Göttin der Jagd, die Hüterin der Kinder und Frauen. Deshalb nannten die Familienmitglieder sie seit Jahren Artemis beziehungsweise nutzten den Kosenamen Emi. Es war Emis Aufgabe, die Frauen und Kinder ihrer Familie zu beschützen. Zudem hatte Emi es sich auf die Fahne geschrieben, auch andere Frauen zu schützen. Sie würde die Männer, die Paula gequält hatten, jagen und unschädlich machen. So könnten die Kerle weder über ein Mitglied ihrer Familie noch über eine andere Frau herfallen.

Emi würde den Auftrag ohne jegliches Mitgefühl ausführen, da sie, Emi, zu dieser Empfindung nicht fähig war. Sie war unfähig, Gefühle wie Liebe, Freude, Glück, Zufriedenheit und all die anderen wundervollen Gefühle zu spüren.

Emi kannte nur ein Gefühl.

Ein mächtiges Gefühl.

Wut.

***

Emi stand vor dem offenen Kleiderschrank, in dem vielfältige Schätze übersichtlich auf Regalen ruhten und an Stangen baumelten. Ihr Blick schweifte über verschiedene Perücken, die auf Styroporköpfen thronten.

Maria hatte die Accessoires in einem Kaufrausch zusammengetragen, ihr genau aufgeschrieben, wie sie sich für die erste Jagd zurechtmachen sollte und ein hellblondes Haarteil ausgewählt, das an Paulas Haar erinnerte.

Paulas Haarfarbe trifft keine Schuld, dachte Emi. Das Mädchen war einfach zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen. Das wusste sie nur zu gut. Es war die Gelegenheit, die sie zur leichten Beute gemacht hatte. Die Gelegenheit für die Männer, ihrer Aggression freien Lauf lassen zu können. Die Gelegenheit, sich durch die Erniedrigung eines Mädchens allmächtig zu fühlen und ihr eigenes mickriges Selbstbild auszublenden.

»Und nun habe ich die Gelegenheit«, murmelte sie und lächelte ihrem Spiegelbild zu. Heute durfte sie ihrer Wut freien Lauf lassen und die unermessliche Erleichterung durch ausgeübte Gewalt erleben.

Sie war mit ihrer Erscheinung zufrieden. Die blonden Haare passten hervorragend zu ihrer hellen Haut. Jetzt fehlte nur noch die Krönung. Ein Make-up, das sie als Opfer und somit als leichte Beute erkennen ließ.

Vor dem Badezimmerspiegel klebte sie die künstlichen Wimpern auf und übermalte ihre vollen Lippen mit einem blutroten Lippenstift. Nun kam das i-Tüpfelchen: ein Veilchen. Sie hatte verschiedene Tutorials auf YouTube angesehen und das Schminken ausprobiert. Nach etwas Übung schien es gar nicht mehr so schwer. Treffsicher wählte ihr Pinsel die richtigen Theaterfarben und trug sie Schicht für Schicht auf, bis ein violetter Bluterguss erstrahlte.

»Hervorragend«, lobte sie sich und überflog nochmals Marias Checkliste. »Oh, fast vergessen!« Sie öffnete eine Aufbewahrungsdose. Vorsichtig setzte sie blaue Kontaktlinsen ein und eilte zurück ins Schlafzimmer. Aus dem obersten Fach im Kleiderschrank zog sie eine Kiste, die Outfits für ihren Zweck bereithielt. Sie entnahm schwarze Reizwäsche, halterlose Netzstrümpfe und ein schwarzes, langärmeliges Minikleid. So würden sich eventuelle Zeugen, die sie mit Mujahid beobachteten, später an eine Prostituierte erinnern.

Sie komplettierte ihr Outfit mit einem Nietengürtel und überprüfte anhand der To-do-Liste abermals den Inhalt ihrer Handtasche. Ein illegaler Elektroschocker von einem polnischen Grenzmarkt, Flunitrazepam, das in Krankenhäusern als Injektion zur Beruhigung und Vorbereitung vor chirurgischen Eingriffen sowie als Date-Rape-Droge eingesetzt wurde, und vor allem das Skalpell-Set. All das befand sich ebenfalls in dem vorbereiteten Liebesnest. Sie würde diese Gelegenheit ganz sicher nicht verstreichen lassen.

Artemis

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