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Kapitel 5

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28. April, 23:10 Uhr

»Shit, ist das dunkel«, beschwerte sich Benjamin.

Über ihm umarmten sich die Baumkronen. In weiter Ferne stand der Mond unter einer dichten Wolkendecke und dachte im Traum nicht daran, das Blätterwerk zu durchdringen. Es war fast so finster wie in dem alten Wäscheschrank seiner Großmutter, in dem er sich als Kind beim Versteckspiel gern verkrochen hatte.

»Meinst du, Paula könnte tatsächlich hier lang gefahren sein?« Tobias verengte die Augen und spähte in die Dunkelheit.

»Normalerweise fährt sie außen rum, aber wer weiß.«

»Hm«, grunzte Tobias. »Stopp!«, forderte er jählings und sprang vom Rad. »Guck mal dort drüben. Unter dem Baum. Ist da nicht was?«

Benjamin schaute in die Richtung, in die sein Freund deutete. Ungefähr zwanzig Meter abseits des Weges stand eine wuchtige Kastanie auf einer Wiese. Ihre Blätter verschmolzen mit dem Nachthimmel. Darunter war irgendwas. Er spürte, wie sich seine Atmung vor Aufregung beschleunigte. »Paula?«, rief er. »Paula?« Seine Stimme überschlug sich.

Sie lauschten.

Keine Antwort, außer dem Prasseln der Regentropfen, die auf Blätter und Boden schlugen. Selbst die Bewegung unter dem Baum war nicht mehr erkennbar.

Hab ich mich getäuscht? Benjamin wischte sich mit dem Jackenärmel über das nasse Gesicht.

Ein gespenstischer Ruf durchschnitt die Finsternis.

»Was war das?« Tobias riss die Augen auf. »Dachte, wir wären im Park und nicht in einem Spukschloss.«

»Muss eins der Käuzchen sein, die sich hier angesiedelt haben.« Benjamin ließ sich nicht von dem Geräusch ablenken, sondern observierte den Schatten unter dem Baum.

Da! Er rührte sich wieder.

Benjamin holte tief Luft: »Paula?«

Keine Antwort.

Der Umriss unter dem Baum schien kleiner zu werden.

Benjamin klappte den Fahrradständer herunter und rannte auf die Kastanie zu.

Sein Freund klebte an seinen Fersen.

Benjamin stolperte über einen Maulwurfhügel und fuchtelte mit den Armen, um das Gleichgewicht zu halten. »Verdammt!«, schnaubte er und schaute enttäuscht auf seinen Fund.

Ein Obdachloser kauerte sich schutzsuchend zusammen. Gesicht und Kleidung waren so dreckig, dass sie sich kaum von der Dunkelheit abhoben. Obwohl der Wind auffrischte, schaffte er es nicht, das Aroma von Alkohol und schmutzigen Klamotten wegzublasen.

Benjamin rümpfte die Nase. Dann schluckte er seine Enttäuschung herunter und mahnte sich zur Höflichkeit. Immerhin konnte der Mann seine Schwester eventuell gesehen haben.

Der Stadtstreicher hob den Arm über den Kopf.

Benjamins Abneigung wandelte sich in Mitgefühl, als er die schützende Geste registrierte. Wahrscheinlich hatte er die Befürchtung, von seinem Nachtlager vertrieben oder, noch schlimmer, beraubt zu werden, oder eine Tracht Prügel zu kassieren. »Haben Sie ein Mädchen auf einem Fahrrad gesehen?«

Der Mann gaffte ungläubig von ihm zu Tobias. Dann fummelte er am Mantelfutter herum, befreite eine Flasche aus ihrem Versteck, gönnte sich einen kräftigen Schluck und streckte sie den Jungs entgegen.

»Nein, danke.« Benjamin bemühte sich, die Ruhe zu bewahren und nicht laut zu werden. »Haben Sie hier ein Mädchen gesehen?«, wiederholte er langsam und deutlich.

»Ich habe gar nichts gesehen«, lallte der Stadtstreicher. »So dunkel.« Er grinste.

»Gehört? Haben Sie irgendetwas gehört?« Tobias’ Frage flog durch den Regen.

Benjamin registrierte die Unruhe und Ungeduld, die sich wieder in seinem Körper ausbreiteten. Er trat von einem Fuß auf den anderen. »Komm, Tobias. Lass uns weitersuchen. Das bringt doch nichts.« Er wandte dem Betrunkenen den Rücken zu.

»Ja, gehört …«, tönte es langgezogen. »Ich habe ganz viel gehört. Eine schreckliche Na …«

»Und was genau?« Tobias trat einen Schritt auf ihn zu.

Der Mann zuckte zusammen. »Ist ja schon gut. Ich sag’s euch ja. Zuerst den Donner …«

»Mach’s nicht so spannend.« Tobias verringerte den Abstand abermals.

»Einen Schrei. Einen fürchterlichen Schrei. Aber ich konnte nicht helfen. Kann noch nicht mal mir selber helfen.« Er genehmigte sich einen Schluck.

»Aus welcher Richtung?«, ereiferte sich Benjamin. Die aufkeimende Panik sendete einen Adrenalinschub durch seinen Körper und ließ sein Herz schneller schlagen.

Der Obdachlose deutete zielsicher zu dem Parkbereich, in dem die Magnolienbäume mit ihrer Pracht prahlten.

»Kann das überhaupt sein?«, murmelte Tobias.

»Danke.« Benjamin drehte sich abrupt um und hastete zurück zu ihren Fahrrädern. »Rein theoretisch schon«, rief er seinem Freund, der neben ihm lief, zu. »Der Weg ist etwas holpriger, aber Paula liebt die Magnolien. Ich hoffe, er hat sich nur was eingebildet.«

»Bestimmt«, pflichtete Tobias ihm bei. »Der war sternhagelvoll. Wahrscheinlich hat dein Vater Paula schon aufgegabelt.«

»Dann hätte meine Mutter uns zurückgepfiffen!« Benjamin schlug die von dem Vagabunden vorgegebene Richtung ein.

»Ich denke, wir sollten diesen Weg bis zum Ausgang fahren, und dann die andere mögliche Strecke zu den Magnolien absuchen, damit das Ganze System hat«, schlug Tobias vor.

»Okay!« Benjamin schwang sich auf den Sattel. »Wir sind sowieso gleich da.«

»Paula!«, riefen die Jungen abwechselnd.

Keine Antwort.

»Paula!«

Kein Sterbenslaut.

Nur der Kies knirschte unter ihren Reifen.

Sie erreichten das eiserne Tor am Osteingang. Benjamin fischte das Handy aus der Hosentasche in der Hoffnung, einen Anruf seiner Mutter nicht gehört zu haben. Fehlanzeige. Er checkte die Uhrzeit. Sie suchten seine Schwester seit fast einer halben Stunde. Mit dem Auto konnte man die Strecke zwischen den beiden Häusern um diese Zeit in weniger als zehn Minuten zurücklegen. Falls Paula auf der Straße eine Panne gehabt haben sollte, hätten sein Vater oder Frau Neumann sie längst finden und ihn anrufen müssen.

Er spürte, wie er stetig nervöser wurde und am liebsten kopflos in alle Richtungen gleichzeitig gefahren wäre. Gut, dass Tobias ihn begleitete und einen kühlen Kopf behielt.

»Los!« Sein Kumpel klopfte ihm auf die Schulter. »Hier lang geht’s doch zu den Magnolien, oder?«

Statt eine Antwort zu geben, schlug Benjamin die Route ein. Sie bemühten sich, abseits der Lichtkegel irgendetwas zu erkennen. Schließlich passierten sie die Magnolienbäume. Sie hielten kurz an und versuchten, in der Dunkelheit irgendeinen Hinweis auf Paula zu entdecken.

»So ein Mist, Mann!«, fluchte Benjamin. »Meine Mutter hat immer noch nicht angerufen. Das passt nicht zu Paula.«

»Vielleicht hatte sie einen Unfall, liegt im Krankenhaus und deine Mutter hat vor Aufregung vergessen, dich anzurufen. Komm weiter!«

Schweigend folgten sie dem Weg.

»Siehst du was?«, fragte Benjamin, um sich von den düsteren Gedanken abzulenken, die ihn beschlichen. Was, wenn Paula einen Unfall gehabt hatte und lebensgefährlich verletzt war, sodass seine Mutter ihn vergessen hatte? Oder wenn Paula auf dem Weg entführt worden war? Oder …

»Da!«, rief Tobias. »Da liegt etwas! Auf dem Weg! Ein Fahrrad!«

Eine Panikwelle erfasste Benjamin und schüttete das Stresshormon aus. Seine Sinne schärften sich. Die Steine unter den Reifen knirschten lauter, die Blätter raschelten im Wind. Die Feuchtigkeit grub sich in jede Pore seines Körpers. Der Geruch von Gras und Erde bohrte sich in seine Nase. Er beschleunigte sein Tempo für die letzten Meter ebenfalls, nur um anschließend eine Vollbremsung hinzulegen. Der Hinterreifen schleuderte über den Schotter zur Seite.

»Scheiße!« Benjamin sprang von seinem Rad und ließ es achtlos fallen.

Sie starrten auf das Fahrrad, das mitten auf dem Weg lag.

»Das ist Paulas!« Er deutete auf die Blumengirlande am Lenker. Seine Hand zitterte. Er rannte um das Rad und stierte in die Dunkelheit. »Paula!«, rief er ununterbrochen aus Leibeskräften, bis sein Freund ihn an den Schultern packte.

»Wenn du die ganz Zeit schreist, können wir nicht hören, wenn sie antwortet«, appellierte er an Benjamins Vernunft. »Lass uns überlegen.« Er atmete tief durch. »Wenn sie hier jemanden getroffen hätte, hätte sie das Fahrrad nicht mitten auf den Weg gepfeffert, sondern abgestellt.« Er schloss den Mund. Anscheinend wollte er den nächsten Gedanken nicht mit ihm teilen. »Ruf deinen Vater an. Er soll sofort herkommen.«

Benjamin zerrte an dem Handy in seiner Hosentasche. Es rutschte aus seinen Fingern und landete auf dem Kies. »Mann!«, schimpfte er. Trotz des Falls öffnete das Gerät bereitwillig seine Anwenderoberfläche.

Tobias flitzte zu der nahegelegenen Parkbank. Paulas Rucksack lag im Gras. Das Bio-Buch, Notizhefte und Stifte waren über die Erde verteilt und vom Regen aufgeweicht.

»Shit«, fluchte Tobias. »Shit!« Er spurtete zurück zu seinem Fahrrad, demontierte die LED-Leuchte und drehte sich langsam im Kreis. Abrupt hielt er inne.

»Mein Vater kommt sofort«, keuchte Benjamin. »Siehst du was?«

»Bin mir nicht sicher«, nuschelte Tobias.

Er eilte auf den umgestürzten Baum zu, der auf der angrenzenden Wiese lag. Am Tage wurde er oft von Kindern zum Balancieren genutzt.

Benjamin stürzte an seinem Freund vorbei und stolperte über einen Ast. Er wedelte mit den Armen und fand sein Gleichgewicht wieder. Trotzdem schien der Boden unter seinen Füßen zu schwanken. Schritt für Schritt gewann er Gewissheit. Über dem Stamm hing etwas.

»Paula?« Er rannte auf den Kletterbaum zu.

Tobias fiel in den Laufschritt ein. Schulter an Schulter erreichten sie den Baum.

Paula hing rücklings über dem dicken Stamm. Ihr Gesicht war zur Unkenntlichkeit verquollen. Blut klebte in ihren Haaren, das wie Kerzenwachs zu Boden floss. Jeans und Unterhose fehlten. Ihre zerfetzte Bluse entblößte ihren Oberkörper.

Der Regen prasselte auf sie nieder.

»Nein!« Benjamins Schmerzschrei schnitt rasierklingenscharf durch die Nacht. Sein Magen rebellierte. Seine Knie schlotterten. Er biss auf seine geballte Faust und taumelte.

Tobias’ Hand flog an dessen Kehle. Nach mehreren Atemzügen löste sie sich. Er trat einen Schritt näher an Paula heran und tastete nach ihrer Halsschlagader. Dann berührte er die Schulter seines Freundes.

Benjamin spürte den leichten Druck der Finger. Wie aus weiter Ferne drangen die Worte seines Kameraden in sein Bewusstsein.

»Paula lebt. Deck sie mit unseren Jacken zu und stütze ihren Kopf«, kommandierte er. »Mach schon, Ben.« Er schlüpfte aus seinem Kleidungsstück, tastete nach dem Handy in seiner Hosentasche und wählte die Notrufnummer.

Artemis

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