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Kapitel 13

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Donnerstagnacht

Niemand hätte in der Punkerin die Frau vermutet, die sich wenige Stunden zuvor an dem Straßenschild gerekelt hatte. Das aufreizende Outfit hatte einer zerrissenen schwarzen Jeans, einer Lederweste mit Sicherheitsnadeln sowie einem Nieten-Rucksack das Feld überlassen. Die blonde Haarpracht war durch eine violette Kurzhaarperücke mit hellgrünen Strähnchen ersetzt worden. An einem Nasenflügel klemmte ein silberner Ring, der die Illusion eines Nasenpiercings kreierte.

Seit einer halben Stunde verbarg sie sich hinter einem massigen Baumstamm am Rand einer Wiese, von dem aus sie sowohl den Brunnen als auch den Weg im Visier hatte. Falls nötig, konnte sie von dort über das Gras abhauen, ohne ihre Flucht durch das Knirschen des Kiesweges zu verraten.

Es war schon kurz vor elf, doch von Hakem fehlte jede Spur.

Sie ärgerte sich, nicht daran gedacht zu haben, Mujahids Handy mitzunehmen. Vielleicht hatte es eine Änderung der Zeit oder des Ortes gegeben. Das würde sie jetzt nicht erfahren.

Ein Knistern drang an ihre Ohren.

Sie hielt den Atem an und starrte in die Finsternis. Außer den Umrissen der Bank, des Brunnens und ein Stück des Weges, der nach wenigen Metern von der Dunkelheit verschluckt wurde, war nichts erkennbar.

Ein Rascheln.

Sie presste sich an den Baum. Ihr Herz hämmerte wie ein Specht gegen die Rinde. Sie mahnte sich zur Ruhe. Es bestand überhaupt kein Grund zur Besorgnis. Hakem konnte sie nicht entdeckt und gleich auf dem Absatz kehrtgemacht haben. Selbst wenn er sie gesehen hätte, würde er sich garantiert nicht vor einem Mädchen fürchten. Falls er nicht kommen würde, könnte sie sich ein anderes Mal auf die Jagd nach ihm begeben. Und sollte er in Begleitung eines Freundes aufschlagen, würde sie sich ruhig verhalten und erst aus ihrem Versteck kommen, wenn die Luft wieder rein war.

Plötzlich nahm sie an der Parkbank eine dunkle Silhouette wahr. In Schwarz gekleidet, verschmolz sie mit der Umgebung. War das Hakem? Wie war er dort hingekommen? Hatte er sich zuvor ebenfalls irgendwo versteckt?

Ohne sich eine Muschel ans Ohr halten zu müssen, hörte sie das Rauschen ihres eigenen Blutes. Ruhig, gebot sie sich. Er hat mich nicht bemerkt.

Anscheinend beschlich Hakem ebenfalls Unruhe oder zumindest Ungeduld. Er schlenderte von der Bank zum Weg und latschte zuerst in die eine, dann in die andere Richtung. Letztendlich kehrte er zu der Sitzgelegenheit zurück und pfriemelte sein Mobiltelefon aus der Tasche.

Wahrscheinlich prüfte er, ob er eine Nachricht von Mujahid bekommen hatte, spekulierte sie. Ihre Handflächen wurden feucht und ihre Kopfhaut unter der Perücke juckte. Am liebsten hätte sie ihr Handy herausgeangelt, um die Zeit zu checken, aber das Licht könnte sie verraten. Mittlerweile war es schätzungsweise 23:00 Uhr. Wie sollte sie weiter vorgehen? Falls in den nächsten Minuten niemand kam, würde Hakem sich bestimmt verziehen. Somit würde ihr die Gelegenheit entgehen, weitere Frauen vor ihm zu schützen.

Ihre Gedanken rasten. Sie hätte doch auf Marias nächste Anweisungen warten sollen. Was nun? Sie könnte vortäuschen, eine Kundin zu sein, ihn überwältigen und kastrieren. Wenn währenddessen jedoch der eigentliche Kunde auftauchte, bestünde die Möglichkeit, dass ihr die Flucht misslang. Sie beschloss, sich nicht vom Fleck zu rühren.

Da! Ein winziges Glimmen am Ende des Weges. Tief in der Dunkelheit.

Sie verengte die Augen.

Es leuchtete abermals. War es ein Glühwürmchen? Die Glut einer Zigarette, die dem sich nähernden Kunden gehörte? Sie hoffte auf Letzteres. »Jetzt oder nie«, wisperte sie, setzte ein paar Schritte seitwärts und lief auf der Wiese, parallel zum Weg, auf das winzige Licht zu.

Beim Näherkommen erkannte sie eine Gruppe Jugendlicher, die sich leise dem Drogenumschlagplatz näherten. Sobald sie diese erreicht hatte, zischte sie: »Bullen!« Dann blieb sie stehen, hielt sich die Seiten, als hätte sie Seitenstiche, und lief wieder los.

»Shit!«, rief einer der Jungen und machte auf dem Absatz kehrt. »Los, lauft!«

Eine zweite Aufforderung war unnötig. Zügig überholte die Clique sie.

Sie ließ sich zurückfallen.

Die anderen rannten weiter, ohne ihr Beachtung zu schenken.

Sie drehte sich um und schlenderte den Weg zurück zum Brunnen. Der Kies knirschte unter den Springerstiefeln und kündigte ihren Auftritt an.

Hakem gaffte sie überrascht an. »Was willst du?«

»Was wohl? War alles vereinbart! Elf Uhr!«

»Nicht mit dir.« Er sah sich zu allen Seiten um.

Ihr war nicht klar, ob er nach seinem Freund oder seinen eigentlichen Kunden Ausschau hielt. »Siehst du sonst jemanden? Entweder du willst dein Zeug loswerden oder nicht.«

Er schürzte die Lippen.

»Hast du nichts dabei? Wo ist denn dein Freund? Schaffst du wohl nicht allein«, provozierte sie ihn.

Seine Brust hob sich. Er stampfte einen Schritt auf sie zu.

»Schon gut. Dann eben morgen.« Sie wandte sich langsam von ihm ab.

»Hast du die Kohle?«

Ihre Mundwinkel zuckten. Anscheinend hatte sie sein Vertrauen gewonnen. Langsam drehte sie sich zu ihm um, griff in die Westentasche, beförderte ein Bündel Scheine hervor und wedelte damit.

Er griff nach der Verlockung.

Reaktionsschnell zog sie die Geldscheine zurück und deponierte sie wieder in ihrer Tasche. »Kohle gegen Stoff!«

Hakem schlug die Jacke auf, beugte den Kopf nach unten und tastete nach dem verdeckten Reißverschluss.

Sie wirbelte herum, wie üblich im Ring beim Boxtraining. Ihr schwerer Stiefel traf ihn im Schritt.

Er stöhnte auf und krümmte sich. Bevor er realisierte, was geschah, holte sie aus und schlug ihm mit einem Schlagring auf den Nasenrücken.

Es knirschte.

Blut sickerte aus seiner Nase. Reflexartig griff er nach der Verletzung und kniff die Lider zu.

Der kurze Moment reichte. Ihre Hand fand den Elektroschocker und traf seinen Hals.

Hakems Augäpfel traten hervor. Seine Muskeln versagten und er sackte vor ihr auf die Knie.

Sie schoss eine weitere Voltladung in seinen Körper und zerrte ihn zur Bank. Behände zog sie zwei Nylonschnüre aus ihrem Rucksack, führte seine Arme über den Kopf und befestigte die Handgelenke an dem Holz.

Es bestand kein Zweifel, dass es sich bei dem Mann um Hakem handelte, denn seine Finger und Hände waren komplett mit Tattoos überzogen.

Sie rammte die Betäubungsspritze durch die Hose in den Oberschenkel und versenkte das Sedativ im Muskel. Dann öffnete sie Knopf und Reißverschluss der Jeans und zerrte sie herunter.

Ein letztes Mal lauschte sie in die Dunkelheit.

Keine Schritte, die sich über den Kies näherten.

Kein Käuzchen, das missbilligend schrie.

Eine nächtliche Stille, die nichts Beängstigendes hatte, sondern beruhigend wirkte.

Sie setzte die Stirnlampe auf und konzentrierte sich auf ihre Arbeit.

Artemis

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