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Wissenschaftlicher Diskurs und ausgehandelte Praxis

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Nach dem heutigen Stand der Wissenschaft kann keine gründliche Beschäftigung mit materiellen und/oder institutionellen Bedingungen des wissenschaftlichen Diskurses von Foucaults Diskursanalyse absehen. Doch Foucaults Diskursbegriff stellt hinsichtlich der Praxis ein großes Dilemma dar: das Verschwinden des Einzelakteurs in der Praxis selbst und daher die Negation direkter Interaktionen sowie produktiver Austauschprozesse zwischen Subjekten.1

Besonders am Anfang seiner theoretisch-methodologischen Reflexion (1968–1970) versucht Michel Foucault wiederholt, den Überbegriff „regulierte Praxis“ bzw. „Diskurs“ zu beschreiben. Diskurs und Praxis bilden lediglich ein Analyseinstrument, um die Konstitution von Wissen und Wirklichkeit zu erfassen.2 Er erkennt eine diskursive Praxis einerseits und eine nicht-diskursive Praxis andererseits. Die erste sei »eine Gesamtheit von anonymen, historischen, stets im Raum und in der Zeit determinierten Regeln, die in einer gegebenen Epoche und für eine gegebene soziale, ökonomische, geographische oder sprachliche Umgebung die Wirkungsbedingungen der Aussagefunktion definiert haben« (Foucault 1973: 171), während sich die zweite auf eine zu errichtende Systematik des Machbaren – also nicht des Aussagbaren oder des Denkbaren – bezieht.3 Die funktionale Verkettung dieser zwei Praktiken erschafft ein allgemeines System von Regeln, die innerhalb eines bestimmten Zeitraums der Wissensproduktion zugrunde liegen. Es stellt sich hier natürlich die Frage, wer oder was diese Regeln determiniert. Als reglementierende Instanz fungiert eine Art anonyme historische Macht, die der Praxis sowie dem sprechenden und handelnden Subjekt vorausgesetzt ist, eine aus Beziehungsbündeln bestehende Matrix. Die Praxis entspricht in Foucaults Theorie einem System von Strukturen oder Mustern, die alle Gegenstände, Begriffe und sprachlichen Äußerungen sowie die Position des Aussagesubjekts hervorbringen. Im Rahmen dieser Praxis gestalten Subjekte ihre Welt, »wie sie dabei von den Regeln des Diskurses geleitet, beschränkt und dezentriert werden« (Sarasin 2005: 107). Die Praxis regelt alles, was man denken, sagen und tun kann, und zwar organisiert sie die wahrgenommene Wirklichkeit. Die Individuen, die mit einer bestimmten diskursiven und nicht-diskursiven Praxis vertraut sind, teilen dieselben begrenzten Möglichkeiten, sich in einer gewissen Weise auszudrücken und zu handeln. Subjekte stehen mithin nicht im Zentrum des Lern- und Erkenntnisprozesses, sondern am Rande der Wissenserzeugung und der Wirklichkeitskonstitution: Durch die Subjekte bekommen gegebene Äußerungen eine festgelegte Funktion innerhalb der Praxis bzw. des Diskurses. Das Individuum als Subjekt, als Akteur stellt in Bezug auf die Praxis ein transparentes, amorphes und regungsloses Wesen dar, durch welches eine Äußerung erst konkret ausgesprochen werden kann. Das Subjekt existiert also nur, um Diskursinhalte zu vermitteln; es wurde vom Diskurs selbst konstituiert und legitimiert, sodass keine Aussage und kein Handeln außerhalb des Normierungssystems des Diskurses möglich sind. Der Diskurs allein bringt Wissen hervor, indem seine Prozesse die Handlungsmöglichkeiten der Menschen beschränken.4 Gerade in der Produktion von materiellen und diskursiven Bedingungen – und nicht zuletzt in der Produktion von Wissen – wird die Rolle des persönlichen Beitrags, der individuellen Leistung überaus fragwürdig: Wenn die Praxis einen Denkraum und zugleich einen Tätigkeitsbereich bezeichnet, dann erscheint die Vorstellung fragwürdig, dass der Akteur nur ein Epigone sei, der auf eigene Interessen, Intentionen und Entscheidungen verzichtet und der die ihm äußerlichen Strukturen einfach inkorporiert und reproduziert. Foucault erkennt zwar einen subjektiven Anteil in der Art und Weise, wie der Einzelakteur Aussagen nachvollzieht, insistiert zugleich aber auf dem Konzept, das Subjekt sei nur ein kontingentes Produkt einer historischen, kontextabhängigen, regulierten Praxis.

In der letzten Phase der Konstituierung seiner Theorie der Macht (1971–1984) beschreibt Foucault das Subjekt eher als Produkt von vorherrschenden allgegenwärtigen Machtkonstellationen. Die Verkoppelung zwischen Diskurs und Macht bekräftigt also Foucaults Ansatz, menschliche (Selbst)Erfahrung und Wirklichkeitswahrnehmung basieren nur auf einem Sozialdiskurs bzw. auf einem Machtfeld. Auch diese soziale Einbettung der Praxis löst den Widerspruch zwischen einer systeminternen Kausalität und dem menschlichen Handeln innerhalb des Geschichtswandels nicht. In dem Versuch, die anthropozentrische Denkstruktur und deren fast metaphysischen Subjektbegriff zu bekämpfen, kapituliert Foucault vor der Immanenz und Determiniertheit der objektiven Strukturen. Die jenseits menschlicher Kontrolle existierende Ordnung des Diskurses generiert nämlich ein Wissenssystem, das von den Akteuren und den Institutionen völlig unabhängig ist, die es durch eine konkrete Praxis anwenden und zu guter Letzt erzeugen (Bourdieu 2001: 316f.; 329f.). Das dynamische Prinzip dieses Systems befinde sich im System selbst, wobei die Einzelakteure keinen Spielraum für die Infragestellung, Ablehnung, Veränderung oder Neudefinierung der herkömmlichen Ordnung von Sinnproduktion und -durchsetzung hätten. Die aktive Rolle des handelnden Individuums, die Bedeutungsaushandlung sowie die Fähigkeit zu alternativen Taten und Intentionen5 bleiben bei Foucault außer Acht.

Ein Versuch, die Frage zu beantworten, wie sich geschichtliche materielle Bedingungen, ästhetische Strukturen und soziale Trägerschaften jenseits simpler Reproduktionsmuster aufeinander beziehen lassen, wurde erst von der Interdiskursanalyse durchgeführt. Die Erweiterung der Foucaultschen Diskursanalyse durch die zwei parallelen Begriffe „Spezialdiskurs“ und „Interdiskurs“6 erfolgt zugunsten einer Rehabilitierung des Subjekts: Dies profiliert sich als Stifter von Interdiskursen, der aus den unterschiedlichen kursierenden Diskursen auswählen kann. Der generative Ansatz in der soziokulturellen Praxis wird somit wieder zur wissenschaftlichen Debatte gestellt. Rolf Parr erarbeitet die interdiskurstheoretische Perspektive für die Beschreibung literarisch-kultureller Gruppierungen, wobei er den Interdiskurs »als entscheidende[s] Kopplungsfeld zwischen verschiedenen gesellschaftlichen Praxisbereichen« annimmt (2000: 23). Die Fokussierung verschiebt sich allmählich auf die kollektive As-Sociation bzw. Socius-Bildung, welche »immer zugleich individuelle Ausbildung von „Psyche“ und Prozess des kollektiven sich Associierens an andere« ist (14). Doch auch im interdiskursiven Ansatz erdrückt die grundlegende sozialhistorische Kontingenz des Wissenssubjekts jede Handlung oder jeden aktiven Lernprozess des Individuums. Wenn auch das Konzept des homogenen Kollektivsubjekts durch die Annahme einer Herstellung distinkter Subjektpositionen im kulturellen Feld konterkariert wird, bleibt die individuelle Betätigung in der Integration der Praktiken und in der Applikation von interdiskursiven Elementen völlig unbeachtet. Der Interdiskurs setzt einen Wissensgehalt voraus, der objektiv gegeben, schon fixiert und kaum veränderlich ist. Das Subjekt ist kein Akteur, der seinen Spielraum durch seine eigene Körperlichkeit, Erfahrung und Wahrnehmungsfähigkeit innerhalb einer Gemeinschaft bewerten, mitbestimmen und neu definieren kann. Die Interdiskursanalyse vermeidet konsequent, den Begriff „Praktiken“ zu definieren: Anscheinend sind sie nur generative Regeln für die Erzeugung von Kunst und Wissen. Die Aushandlung von Bedeutungen, Praktiken und Symbolen spielt demgemäß überhaupt keine Rolle: Jeder Teilnehmer eines literarisch-kulturellen Vereins scheint eher passiv, ohnmächtig zu sein. Das Verfahren der Reproduktion formierender interdiskursiver Elemente in der Tätigkeit einer Gruppierung werde nämlich, wie Parr argumentiert, durch Rituale fortgeführt, deren Auswahl, Genese, Entwicklung und Modifizierung offenbar jenseits der Einflussmöglichkeiten der Mitglieder liegen.7 Das sogenannte formierend-historische Projekt bzw. das „Projekt der Praktikenintegration“ nimmt dann die vagen Konturen einer unsichtbaren, den Individuen vorgängigen Macht an. Auch in der Interdiskurstheorie bleibt die Subjektivität in abstrakten Strukturen oder in unfassbaren Kreuzen zwischen unterschiedlichen Achsen befangen: Das Individuum ist immer noch ein Träger des jeweils gegebenen Projekts, kein interaktives und zugleich agierendes Subjekt. Man spricht ständig von Ideen, Symbolen, Ideologemen und Projekten, als wären sie Teil eines halbgöttlichen Plans, da von Menschen kaum die Rede ist. Eine Analyse von soziokulturellen Gesellschaften oder Vereinen, von Wissenschaften8, von Künsten und deren Werken kann allerdings nicht darauf verzichten, die Erzeugung und Reproduktion von Erfahrung und Wissen seitens der Subjekte zu berücksichtigen. Mit anderen Worten, das Individuum als Produkt einer Struktur soll mit einem subjektiven Bedeutungs- und Aktionshorizont dialektisch verknüpft werden, den außerhalb jener Struktur gewonnen wurde. Wie Stephen Turner zu Recht bemerkt, ist es das Konzept von Praxis selbst, das eine Zwei-Ebenen-Struktur aufweist: einerseits eine individuelle Substanz, die subjektive Veranlagungen mit einschließt, andererseits eine sozialhistorische Gegebenheit (1994: 50).

Es ist nun deutlich geworden, dass weder die Diskursanalyse noch die Interdiskuranalyse einen angemessenen theoretischen Rahmen bieten, in dem die Problematik der von Subjekten im Alltagsleben sowie in (theater)wissenschaftlicher Forschung ausgehandelten Praxis einer eingehenden Betrachtung zugeführt werden kann. Die für die Münchner Theaterwissenschaft bezeichnende Praxisdimension kann nur als Baustein der Wissensumwandlung begriffen werden, die in der Lerntätigkeit der an Artur Kutscher gebundenen Gemeinschaft durch die zweipolige Interaktion zwischen personaler Erfahrung und sozialen Kompetenzen stattfand. Als Ansatzpunkt für vorliegende Arbeit wird demnach die Theorie der situierten Kognition angewandt, die dem Vorbild von Jean Lave und Etienne Wenger folgt9 und die den Lernprozess als eine kontextbezogene Transformation des Wissens versteht, welche persönliche Veränderungen mit der Entwicklung von Sozialstrukturen kombiniert (Wenger 2000: 227).



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