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Die Theaterwissenschaft zwischen Theorie und Praxis
ОглавлениеSchon in den 1970er Jahren hatte eine vielstimmige Methodendiskussion in der Theaterwissenschaft eingesetzt, welche sich aber mehr auf die semiotische Wende in der Aufführungsanalyse konzentrierte und die theaterwissenschaftliche Verflechtung zwischen Theorie und Praxis kaum betrachtete. Im folgenden Jahrzehnt konnte die Theaterpraxis das Interesse der an den deutschen Hochschulen etablierten Disziplin wecken: 1982 wurde das Institut für Angewandte Theaterwissenschaft an der Universität Gießen gegründet, das unter der Leitung von Andrzej Wirth die theatertheoretische Forschung zusammen mit dem Studium der theatralen Praxis pflegte. Das Ende der 1980er Jahre fällt außerdem mit der Hinwendung der Theaterwissenschaft zu den Paradigmen Theatralität und Performativität zusammen, was eine Neubestimmung der Forschungsstrategien und des Fachbereiches nötig machte.1 In dieser Phase der wissenschaftlichen Re-Konzeptualisierung erlangten der Körper sowie der performative Erzeugungsprozess der Identität große Bedeutung, so dass sich die »Wissenschaft von der Aufführung« (Fischer-Lichte 2005: 351) endlich als produktive Verkopplung von Semiotizität und Theatralität verstehen konnte. Die Entwicklung der Disziplin in dieser Richtung setze sich dabei relativ stabil fort und der Mittelpunkt des Forschungsinteresses »shifted to the processes of making, producing, creating, doing, and to the actions, processes of exchange, negotiation, and transformation as well as to the dynamics which constitute the agents of these processes, the materials they use and the cultural events they produce« (Fischer-Lichte 1999: 168).
Im Bereich der creative and performing arts und der gegenwärtigen Theaterwissenschaft ist die Debatte über die epistemologische Bedeutung des Zusammenhangs von wissenschaftlicher Forschung mit künstlerischer Praxis ab den 1990er Jahren immer lebhafter geworden.2 Der Begriff Praxis wurde dann von den neuen Konzepten „research as cultural practice“ und „practice as research“ maßgeblich geprägt. Praxis ist, so definiert Robin Nelson, »theory imbricated within practice«, und zwar eine Untersuchungsmethode, die an der Schwelle zwischen Rationalität und verkörpertem Wissen operiert (2006: 108). Zugleich ist Praxis ein (Selbst)Verständnismodell, welches unreflektierte, spontane, kreative Prozesse durch das Zusammenwirken von unterschiedlichen Fachleuten sowie Künstlern in einem transdisziplinären Kontext erklärt und interpretiert. An erster Stelle profiliert sich also die Forschungsarbeit als eine kulturelle Praxis, welche rein akademische Bestrebungen überwindet und andere kulturelle Praktiken überschneidet. Gerade diese Überschneidung bildet das Hauptmerkmal jeder Untersuchung, die weit über die Grenzen einzelner Disziplinfelder hinaus geht. Die Forschung ist selbst eine hybride Kulturtätigkeit, weil sie verschiedene Wissenssegmente und Tätigkeiten, die ihrerseits mit anderen soziokulturellen Kenntnissen verkettet sind, zu einem Netz zusammenfasst. Die Besonderheit von „research as cultural practice“ liegt demnach in seiner gesellschaftlichen und kulturellen Einbettung: Das dabei ermittelte Wissen ist nicht absolut, abstrakt, unmarkiert oder delokalisiert, sondern partiell, konkret, verkörpert und verortet – kurzum: situiert. Erst durch die Verkörperung des Wissens, durch die Kontextbedingtheit aller Forschung ebenso wie jedes Untersuchungsprozesses kann die Forschung zu einer generativen Matrix werden. Bezeichnenderweise wird die Reflexion über „research as cultural practice“ von Wolmark und Gates-Stuart (2002) an Donna Haraways’ Konzept des situierten Wissens angeschlossen. Die amerikanische Forscherin hatte Ende der 1980er Jahre im Bereich der feministischen Wissenschaftskritik ihr Plädoyer für eine verkörperte Objektivität und eine kritische Positionierung, eine bewusste Infragestellung des Wissens formuliert. Der naiv gläubigen, vom Sozialkonstruktivismus und von einigen Postmodernisten verbreiteten Darstellung einer „wirklichen“, völlig kodierten Welt und einer „objektiven“ Wissenschaft, die man erst betreiben kann, wenn man eine entkörperte Perspektive von außen, eine Perspektive von oben herab einnimmt, setzte Haraway eine »feministische Objektivität« entgegen, welche zeitlich, gesellschaftlich, örtlich und geschlechtlich markierten Feldern des Wissens entspreche: »[O]nly partial perspective promises objective vision. […] Feminist objectivity is about limited location and situated knowledge, not about transcendence and splitting of subject and object. It allows us to become answerable for what we learn how to see« (1988: 583). Als einzig mögliche Alternative zum Relativismus sowie zur Totalisierung des unmarkierten Blicks betrachtete Donna Haraway die partielle, situierte und kritische wissenschaftliche Perspektive, die allein ein Geflecht von Verbindungen gestatte. Die Positionierung sei also das entscheidende wissensbegründende Vorgehen:
I am arguing for politics and epistemologies of location, positioning, and situating, where partiality and not universality is the condition of being heard to make rational knowledge claims. These are claims on people’s lives. I’m arguing for the view from a body, always a complex, contradictory, structuring, and structured body, versus the view from above, from nowhere, from simplicity. (589)
Die traditionelle Epistemologie stütze sich auf eine Art Gottesstandpunkt, was die Rolle des wissenserzeugenden Subjekts außer Acht lasse. Da aber das Wissen von Menschen erzeugt ist und da jeder Mensch situiert ist, müssen alle Dimensionen der Einbettung in der Umwelt zum Bestandteil des epistemologischen Kontexts werden. Die kontextuelle Betrachtungsweise erlaubt fernerhin, das allgemeine Wissensgut jedes Mal erneut nachzuprüfen, zu interpretieren und letztlich zu übertragen. Das dadurch ausgehandelte Wissen bestehe dann aus einer Vielfalt von Sichtweisen, Standpunkten, sozialen Beziehungen und kulturellen Praktiken, die immer vom Individuum und dessen Umfeld geprägt ist: »Knowledge bears marks of its producer« (Paraviainen 2002: 12). In diesem Forschungs- und Lernprozess sind sowohl das Subjekt als auch das Objekt des Wissens Akteure, Agenten: Das untersuchte Objekt sei also handlungsfähig. Die Wissenschaft hänge daher nicht von einer „Logik der Entdeckung“ ab, d.h. von der Leistung eines Meisters, der Objekte dekodierert, die einfach still darauf warteten, gelesen zu werden, sondern von »a power-charged social relation of „conversation“« (Haraway 1988: 593). In dieser Beziehung findet immer eine Aushandlung statt – eine Aushandlung von Wissensbeständen und -erwerb sowie von Praktiken. Aktive Subjekte in der Forschungsarbeit seien sowohl die Forscher als auch die erforschte Welt. Der Forscher wird somit zum Teilnehmer am Wissensprozess, der das allgemeine Wissensgut aufzeigt und zugleich erweitert.3 Seine Forschungsarbeit bleibt innerhalb des soziokulturellen Beziehungsgewebes ständig verkörpert und das erworbene Wissen ist demzufolge nicht präskriptiv: Kulturelle Hybridität, Netzwerke unterschiedlicher Positionierungen, Zusammenwirkung von Medien und Wissensbereichen, unberechenbare Ergebnisse sind im Forschungsprozess nicht fehl am Platz, sondern Grundsteine der gemeinsamen Praxis. Die situierte Perspektive und die gemeinsame Praxis befähigen die Individuen, das ausgehandelte Wissen in einer dynamischen Umwelt zu nutzen und zu bereichern. Transdisziplinäre Arbeitsweisen, transkulturelle Verbindungen, Experimente als wissenserzeugende Praktiken bringen Wissenschaftler und Künstler immer näher zueinander: Wissenschaftler erzeugen Wissen, indem sie andauernd durch die konkrete Partizipation an ihrem Umfeld, durch ihre vielfältigen Beziehungen Kenntnisse erwerben, sammeln und markieren. Aus ihrer Position heraus positionieren sich die Künstler in der performativen Praxis als Forscher unter der Bedingung, dass sie eine »critical meta-practice« ausüben (Melrose 2002). Der practitioner muss, anders gesagt, sowohl die Konventionen seiner eigenen Aktivität und Disziplin berücksichtigen als auch einige von ihm angewandte Praktiken infrage stellen. Als aktiver Untersuchungsprozess verkörpert der kreative Schaffensprozess selbst das Wissen, das der Künstler durch seine Arbeit erworben hat und das er in einer erfassbaren Form ausdrückt.4 Künstler und deren Kunst werden zu Wissenssubjekten, insofern die Praktiker den subjektiven Prozess verstehen, durch den sie Wissen erzeugen und verwenden.5 Wissensobjekte stellen nur Gegenstände dar, über die man Untersuchungen vornimmt und dadurch Wissen erweitert; dagegen sind Wissenssubjekte »subjects both in the sense of being subject to and shaped by the social forces constituting particular forms of knowledge, and in the sense of intentionally creating and using new forms of knowledge to transform those social forces« (Crowley/ Himmelweit 1992: 1).
Das Forschungsverfahren durch die Praxis hindurch ist unter dem Namen „practice-based research“ (PBR) bekannt, während der Begriff „practice-as-research“ (PAR) eine gründliche Untersuchung zur performativen Praktik bezeichnet.6 Die Verwandtschaft beider Namen und Forschungsmethoden verweist natürlich auf ihre gegenseitige Abhängigkeit: Erst die Verbindung beider Ansätze kann kognitive und ästhetische Bereiche in Kontakt bringen und neues Wissen produzieren. Angela Piccini formuliert eine Definition von „practice-as-research“, welche die zwei wissenschaftlichen Perspektiven umfasst:
It is perhaps more useful to think of practice as research as formalizing an institutional acceptance of performance practices and processes as arenas in which knowledges might be opened. Practice as research acknowledges fundamental epistemological issues that can only be addressed in and through practice […]. (2002: 2)
Künstlerische, kreative Tätigkeiten und die wissenschaftliche Reflexion finden in PAR eine Balance: Praxis im Sinne eines hybridisierten, dynamischen und situierten Forschungsprozesses bedeutet mithin Wissenserzeugung und zugleich Wissensaustausch, weil sie die inneren Vorgänge, die Instrumente, die soziale Einbettung einer Kunstpraxis aufzeigt und ständig neu bestimmt. Sie produziert und vermittelt Wissen. Akademische Institutionen konnten folglich die Funktion nicht mehr ignorieren, welche die kontextuelle, praxisorientierte Kunstforschung für den Lern- und Wissensprozess hat: Von Beginn der 1990er Jahre an haben zuerst britische, dann australische, skandinavische und US-amerikanische Hochschulen die Gültigkeit praxisbasierter Forschungsprojekte anerkannt.7 Die Legitimierung dieser Form des verkörperten Wissens stellt allerdings eine doppelte Herausforderung an das akademische Wissenssystem des Abendlandes dar: Zum einen verliert der Geist, der menschliche Verstand seine Bedeutung als einziger locus der sicheren Kenntnis, weil der Körper zum gleichberechtigten Mittel des Wissens wird; zum anderen werden das geschriebene Wort und die Publikation als einzig anerkannte Methoden hinterfragt, die Ergebnisse einer Forschungsarbeit zu speichern und zu verbreiten. Was die praxisorientierte Kunstforschung darüber hinaus in Frage stellt, ist der Auftrag an die Forschung, unbedingt zu festen Ergebnissen zu führen. Jede performative Praktik ist in die aktuellen Fragen derart eingespannt, dass sie einen fundamentalen Beitrag dazu leistet, die Strukturen und Abläufe der Gegenwart zu interpretieren. Die »immanente und performative Perspektive« dieser Art von Kunstforschung bringt aber ein offensichtliches Paradox für die etablierte wissenschaftliche Forschung mit sich: Es handelt sich um eine Untersuchung, »die nicht von einer Trennung zwischen Subjekt und Objekt ausgeht und folglich keine Distanz des Forschenden zur Kunstpraxis voraussetzt. Stattdessen ist die künstlerische Praxis ein wesentlicher Bestandteil sowohl des Forschungsprozesses als auch der Forschungsergebnisse« (Borgdorff 2009: 30). Der practitioner ist derjenige Wissenschaftler, der aus seiner pragmatischen Perspektive die Probleme identifiziert, die in der Praxis selbst entstanden sind, und der dafür Lösungen sucht, die ihrerseits von der Praxis geprägt sind. In einer von Praktikern-Wissenschaftlern betriebenen Forschung werden Aspekte wie Subjektivität, Selbstreflexivität und Interaktion mit Forschungsmaterialien zur Kenntnis genommen und Wissen ergibt sich als ausgehandelt, kontextbezogen und intersubjektiv. Henk Borgdorff erklärt diesen Ansatz näher, indem er die Übereinstimmung von Theorie und Praxis in der Kunst ins Gedächtnis ruft: Die direkte Interdependenz von Konzepten, Denk- und Interpretationssystemen, Erfahrungen und Auffassungen in Kunstpraktiken findet in PAR ihr Pendant, denn diese Kunstforschung versucht, »einen Teil dieses im kreativen Prozess oder im Kunstobjekt enthaltenen Wissens zu artikulieren« (Ebd.). Das Ziel der praxisbasierten Forschung unterscheidet sich also nicht prinzipiell von dem der akademischen Forschung, weil sie immer einen Wissens- und Erkenntnisgewinn in verschiedenen Bereichen des menschlichen Lebens anstrebt. PAR geht jedoch ein antipodisches Verhältnis zum Logozentrismus der Forschung im Universitätsbereich ein: Der Versuch zur Legitimierung der Praxis an Hochschulen kollidiert einerseits mit dem Konzept des wissenschaftlichen Wertes der Forschung und andererseits mit dem Dokumentationsbedarf. Der traditionelle Forschungsbegriff ist von bestimmten akademischen Standards, Gebräuchen und Protokollen geprägt, welche am Ende zu einem schriftlichen Text zusammenfließen. Der Wert einer Forschungsarbeit lässt sich anhand der Originalität des Beitrags zum kollektiven Wissen sowie anhand der Beweisbarkeit der Forschungsergebnisse durch ein kohärent angewandtes theoretisch-methodologisches Instrumentarium abschätzen. Im Falle von praxisbasierten Untersuchungen gelten jedoch andere Gesetze, die die Kunstforschung leiten, weil die Infragestellung der Forschungsprozesse, das Hervorbringen von unerklärtem, nicht-begrifflichem Wissen und die bewusste Reflektion über schon etablierte Kunstpraxen hier viel wichtiger als empirisch überprüfbare Ergebnisse sind.
Implizites Wissen und reflektierende Praxis/Reflexion bilden tatsächlich den Fokus von zwei für die Diskussion um PAR bedeutenden Theorien, die zu einer neuen Epistemologie der Praxis beigetragen haben. Die erste ist die bereits erwähnte Position von Michael Polanyi, während sich die zweite in Donald Alan Schöns Werk The Reflective Practitioner artikuliert. 1983 hat Schön den Begriff „reflective practice“ eingeführt, welcher den Zusammenhang von Wissen und Handeln in der Tätigkeit von Praktikern zu verdeutlichen versucht und nach einer neuen, auf der Praxis basierenden Verschmelzung von Kunst und akademischer Lehre strebt. Von unterschiedlichen Fallstudien ausgehend stellt Schön fest, dass die Art und Weise, wie Praktiker Aufgaben stellen und Probleme lösen, von einem impliziten personalen Wissen abhängt, das oftmals nicht ausgesprochen ist und das auf die in der Praxis gelernte Improvisationsfähigkeit setzt. Doch diese statische Wissensform sei nicht in der Lage, mehr Wissen im Praxisfeld zu konstruieren, weil Praktiker die Instrumente für die Artikulation ihres intuitiven, im Handeln inhärenten Wissens und folglich für die Wissensvermittlung nicht beherrschen. Der Bereich der Praxis bleibt hier von dem der wissenschaftlichen Untersuchung getrennt. Unter bestimmten Umständen können sich Praktiker allerdings auf eine „reflektierende Praxis“ konzentrieren, welche die Beziehung zwischen Praxis und Forschung wiederherstellt. Der natürliche Austausch zwischen diesen Bereichen wird durch die „Reflexion im Handeln“, d.h. das Reflektieren über das Handeln während des Handelns selbst, und die „Reflexion über das Handeln“, d.h. eine rückschauende Reflexion über die abgeschlossene Handlung, implementiert. Der Praktiker wird zum Erforscher seiner eigenen Praxis, wenn er über sein eigenes Wissen in der Praxis reflektiert – mitten in der kreativen Handlung wie auch danach.8 Christopher Crouchs Kritik an Schöns reflektierender Praxis (2007) gipfelt aber in der Feststellung, Reflection sei ein Prozess, durch welchen sich das Individuum an einem schon vorhandenen Wissensbestand beteilige, ohne sich zu fragen, wie und inwiefern er seine Forschung beeinflusst und was letztendlich als Forschung angenommen wird. Crouch plädiert stattdessen für die Wichtigkeit von reflexive practitioners, die sich kritisch mit ihren kreativen Werken oder Artefakten beschäftigen. Reflexivität bezeichnet demnach einen dynamischen Lernprozess, der die interne Perspektive mit der externen verbindet. Im Kunstbereich bzw. in der Kunstforschung wird ein solcher Lernprozess entweder in Zusammenarbeit zwischen Künstlern und Akademikern oder von Kunstpraktikern selbst durchgeführt, die aber ihre eigenen auf der Praxis basierenden Kenntnisse mit kritischem Blick untersuchen und in der Öffentlichkeit verbreiten können. Praxis bzw. reflexives Handeln erzwingt den Einsatz der Einzelnen für die Aushandlung eher gesellschaftlicher als akademischer Prinzipien und Werte:
When the creative practitioner adopts praxis, it encourages the act of reflecting upon, and reconstructing the constructed world. Adopting praxis assumes a process of meaning making, and that meaning and its processes are contingent upon a cultural and social environment. Because praxis is not self-centred but is about acting together with others, because it is about negotiation and is not about acting upon others, it forces the practitioner to consider more than just the practicalities of making. Praxis encourages a move away from the pitfalls of introspective narcissism and towards an analytical engagement with human interaction, and emphasizes the necessity to clarify the inter-subjective circumstances of the communicative act. (111f.)
So ist es nicht überraschend, dass die Situiertheit des Wissens und des Lernprozesses als heutiges Bewertungskriterium von PAR am meisten zählt. Sie betrifft die Art und Weise, wie die practitioners ihre Arbeit kontextualisieren – d.h. situativ platzieren –, welche Probleme sie durch ihre Arbeit untersuchen und welche Methoden sie anwenden, um die Fragen ihrer Kunstforschung zu behandeln und, wenn möglich, zu beantworten. Es besteht in dieser Hinsicht kein entscheidender Unterschied zwischen situiertem und erfahrungsbasiertem Wissen, soweit nach Sutherland und Krzys (2007) die praktische, kontextbezogene und relationale Aktivität des Lernens betroffen ist. Wenn sie behaupten: »[R]ather than metaphors of location, creative practice demonstrates the need to use metaphors of embodiment and tacit knowledge in order to understand the nature of experiential knowledge« (133), dann übersehen sie die Bedeutung von Situiertheit sowie die ganze Debatte über die Praxis als Hauptgrund für das Lernen. Doch die Fokussierung auf das Erfahrungswissen und auf die Konstituierung des Kunstwerks durch die direkten Kontakte der Subjekte zur Kunst beleuchtet das Problem der Re-präsentation von praxisorientierten Forschungsarbeiten.
Da jede wissenschaftliche Forschung auf »sustained and structured reflection« basiert, welche das unausgesprochene, implizite Wissen eines Kunstprozesses explizit macht (Nelson 2006: 112), muss Praxis sowohl im Kunstwerk als auch in einer damit verbundenen Dokumentation artikuliert und kommuniziert werden. Diese Doppelartikulation der Kunstpraxis im wissenschaftlichen Bereich wird aber in zweifacher Hinsicht kritisch gesehen: Wenn einige Wissenschaftler argumentieren, gewisse Kunstpraktiken und die Erschaffung von Kunst selbst seien als ernsthafte wissenschaftliche Forschung zu betrachten, »or at least as an integral aspect of the research, because it is an indispensable part of the research« (Dallow, 2003: 55), beklagen andere die akademische Betonung auf Zweck und Ziel der Kunstschöpfung, was das Kunstwerk und dessen Wert in den Hintergrund drängt. Anna Pakes (2004) spricht ihr tiefes Bedauern über den für PAR typischen systematischen Versuch aus, die Konturen von Kunstwerken festzulegen, sie als Lösung einer externen Infragestellung aufzuweichen und somit ihre Polysemie zu verweigern: »The problem is that exercising such control may also undercut the value of artworks as able to speak to a multiplicity of interests and a variety of viewers […]«. Erschwerend kommt hinzu, dass die etablierte akademische Weise, die Struktur einer Forschungsarbeit zu evaluieren, gerade dem epistemologischen Wert der Kunst entgegensteht: Neben der objektiven wissenschaftlichen Erkenntnis spielen die äußerst produktive Verflechtung von Beziehungen und Erfahrungen, die intime und innige Beschäftigung mit dem eigenen Werk ebenso wie die hohe Interpretationsoffenheit von Kunstwerken eine Rolle. Gerade wegen dieses zweimal verkörperten Wissens – einmal im kreativen Prozess, einmal im Kunstwerk – ist die Frage nach einer angemessenen Dokumentation vor allem in den praxisorientierten performative arts entscheidend: Die Flüchtigkeit von Aufführungen und die von ihnen untrennbare leibliche Ko-Präsenz von Zuschauern und Akteuren entziehen sich jeder Übertragung in andere Formen. Hier kommt es zu einem Bruch zwischen Wissensproduktion und Wissensvermittlung: Die effektive Übersetzung einer Performance in ein anderes Medium, wodurch die Kriterien der etablierten akademischen Forschung allein befriedigen werden könnten, untergräbt die Forschungsmethode selbst.9 Eine solche Forschungsarbeit kann sich nämlich gerade mit den medialen Bedingungen oder mit der besonderen Erscheinung der Materialität einer Aufführung beschäftigen – und zwar mit Aufführungsmerkmalen, die auf ein verkörpertes Wissen hindeuten und per definitionem in einer Video- oder Audioaufzeichnung weder eingebettet noch artikuliert werden können (Rye 2003). Eine derartige Kunstforschung wird folglich entweder durch spezifische Dokumentationsmodi betrieben, die über ihr immanentes Paradox Auskunft geben: »that is, documents that do not suggest an unproblematic transparency between the live event and its record and therefore that the two cannot be conflated« (Ebd.); oder durch eine anti-akademische Praxis sensu stricto, die statt Sicherheit, Kontrolle oder Archivierungszwang gerade Zweifel, Verlust und Verschwinden kultiviert, um alle möglichen Interpretationen der transformierenden bzw. produktiven Triebkraft zwischen Realem und Repräsentation immer zu zulassen und aufzuführen (Phelan 1993: 173; 180). Als Antwort auf die bisher aufgezeigte Debatte über Methodologie und Validität der Forschung schlug Brad Haseman 2006 vor, ein neues Paradigma in der Kunstwissenschaft einzuführen – das Paradigma der Performative Research. Damit sind alle Untersuchungsformen gemeint, bei denen die symbolischen Fakten selbst performativ wirken: »It not only expresses the research, but in that expression becomes the research itself«. Performative Research könne also die Sozialstruktur und den kulturellen Kontext der Kunstpraxis erklären, gerade weil sie sich auf persönliche Narrative als situierte Praxis konzentriere: »Performative research represents a move which holds that practice is the principal research activity – rather than only the practice of performance – and sees the material outcomes of practice as all-important representations of research findings in their own right«. Schließlich lässt sich festhalten, dass die kritische Hinterfragung der Methoden und des Dokumentationsverfahrens,10 das Experimentieren ebenso wie die direkte Teilnahme der Forschenden an der praktischen Durchführung ihrer Forschungspläne die Bestandteile der praxisbasierten Forschung bzw. der künstlerischen Praxis bilden. Sowohl Nelson (2006: 115) als auch Borgdorff (2009: 43f.) setzen sich darum für die Verwendung des umfassenden Begriffs „arts research“ / „Kunstforschung“ ein, deren Hauptmethodik auf der Praxis beruht und die das implizite Wissen verkörpert, welches durch Experimente und Interpretationen ermittelt und vermittelt wird.
Vor diesem Hintergrund kann Artur Kutschers wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Objekt Theater als eine sehr frühe Anerkennung der grundlegenden Praxisdimension im Untersuchungsverfahren und als eine erste Eingrenzung des Problems „Praxis als Forschung“ im akademischen Horizont betrachtet werden. Kutscher lehnte jedes praxisferne Untersuchungsverfahren im Bereich der Theaterwissenschaft ab, weil er die Praxis als Ausgangspunkt und Zielpunkt11 aller Kunstforschung betrachtete. Er war außerdem davon überzeugt, die Binarität zwischen Praxis und Theorie sei nur ein Konstrukt des etablierten akademischen Denksystems, welches das Wissenspotential der metakritischen Theaterpraxis nicht gebührend schätzte. Da diese für Kutscher und dessen Schüler typische Forschungsperspektive in anderen zeitgenössischen theaterwissenschaftlichen Abteilungen oder Instituten kein Analogon fand, erscheint es nicht richtig, von der Entstehung einer einheitlichen, monolithischen Disziplin im deutschsprachigen Raum zu reden,12 sondern von der Entwicklung unterschiedlicher Facetten eines Wissenschaftsgebiets, die die Tätigkeit unterschiedlicher Forschungsgemeinschaften aus unterschiedlichen Orten widerspiegeln. Im Folgenden wird der Frage nachgegangen, welches methodologische Instrumentarium dem Spezifikum der von Kutscher betriebenen Theaterforschung bzw. der Praxisdimension gerecht wird. Das theoretische Modell sollte zum einen den spezialisierten Wissenszweig „Theaterwissenschaft“ nicht als isolierte Erscheinung untersuchen, die Bedingungen der Möglichkeit prüfen, wie dieses neue Gebiet sich im universitären Wissenschaftsbetrieb von anderen Fächern abgrenzen, bzw. akademische Anerkennung erfahren konnte. Mit anderen Worten: Die Analyse muss im Hinblick auf den Modernisierungsprozess und auf den Betätigungsdrang der Intellektuellen im gesellschaftlichen und kulturellen Bereich durchgeführt werden, welche aus unterschiedlichen Gründen und in unterschiedlicher Weise die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts charakterisierten. Zum anderen sollte es die Bestrebungen des „Theaterprofessors“, durch die Etablierung eines neuen Fachgebietes den Wissenserwerb und die Wissenserzeugung seiner Lerngemeinschaft anzuregen, in einen breiteren gesellschaftlichen Rahmen stellen.