Читать книгу "Das strittige Gebiet zwischen Wissenschaft und Kunst" - Chiara Maria Buglioni - Страница 16
Performative Aspekte des gemeinsamen Lernens
ОглавлениеKutschers außergewöhnliche Stellung in der Entstehungsphase der Theaterwissenschaft, d.h. seine Bestrebung, die wissenschaftliche Arbeit an Fragen des zeitgenössischen Theaters anzubinden und den intensiven Austausch zwischen Historiographie, Kritik und Praxis zu unterstützen, rührt von der oben geschilderten Konvergenz von Wissenschaft und Kunsttheater her. Im Prozess der Wissenserzeugung akzentuierte Kutscher den performativen Aspekt des gemeinsamen Lernens und fügte theatrale Komponenten in die wissenschaftliche Methodik ein. Dabei trat die aktive, partizipatorische Lerngemeinschaft in den Vordergrund und die Aushandlung von Lerninhalten, Interpretationen und wissenschaftlichen sowie künstlerischen Praktiken überschritt die Grenzen der professoralen Lehre im Seminarraum. Hugo Hartung sprach hierüber von den Impulsen »Forscherdrang, Lern- und Lehrbegier«, die den Kutscher-Kreis in Vorlesungen, Übungen, Exkursionen, Autorenabende, Theaterbesuche und -kritiken soeben wie in studentische Aufführungen trieben (1966: 164). Der ehemalige Student erinnert sich nicht nur an ein »spazierengehende[s] Lernen« (165), sondern auch an die »Vorlesung belebende[n] Glanznummern« (161), die Kutschers Programm bis in die 1960er Jahre hinein charakterisierten. Bezüglich der Art und Weise, wie Kutscher die Mitwirkung seiner Schüler an der gemeinsamen Praxis förderte, seien nur einige aufschlussreiche Beispiele genannt.1 Hugo Hartung schilderte Kutschers Haltung während der Lehrveranstaltungen folgendermaßen:
In seinen Vorlesungen kam Artur Kutscher uns oft vor wie Mephisto, der den Schüler lehrt und plötzlich wieder mal den Teufel spielen muß. Dann zog er wohl die Augenbrauen hoch, den Mundwinkel herunter, die Faust fuhr aufs Katheder nieder, und ein scharfer satirischer Pfeil schwirrte von der Sehne. Ihn gar den Mimus als den Urquell allen Theaters leidenschaftlich verteidigen sehen, war oft genug auch ein mimisches Erlebnis. (1966: 161)
Nach der Beschreibung von Kutschers temperamentvollen Ausführungen und coups de théâtre im Universitätssaal konstatierte er:
»Die Geheimräte«, wie Kutscher seine Gegner kollektiv zu nennen pflegte, versperrten ihm den Weg zum Lehrstuhl eines Ordinarius. […] Sie verstanden, daß ein Theaterwissenschaftler nicht nur die Meistersingerbühne von Nürnberg getreulich zu rekonstruieren brauchte, sondern daß er selbst jenen »Tropfen Theaterblut« besitzen mußte, den unser Professor allen Seminaradepten als Grundbedingung Numero eins mit steilem Zeigefinger abverlangte. / Für einen Kutscherschüler, der diesen Tropfen Theaterblut in sich hatte, war der Schritt in die Praxis nie sonderlich schwer. (163)
Vom besonderen Interesse ist hier zunächst die implizite Kritik an der Tendenz anderer Dozenten bzw. Institute, die Aufgaben der Theaterwissenschaft auf die Rekonstruktion einzelner Inszenierungselemente zu beschränken. Der Rekonstruktion widersetzte sich das Erlebnismoment, das man erst durch die und in der konkreten Theaterpraxis hat. Auch Carl Niessen betonte diesen Ansatz Kutschers: In der Lehre des Münchner Professors »stand die Bühne der Erfahrung stets im Mittelpunkt« und für seine Schüler »wurde das Theater nie zu einer Abstraktion« (in Günther 1938: 199). Da das verkörperte Wissen allein eine starke Wirkung auf der künstlerischen sowie gesellschaftlichen Ebene entfalten könne, erschöpfte sich das gemeinsame Lernen nicht im Unterricht, sondern ging programmatisch durch unkonventionelle Örtlichkeiten wie Theaterfahrten, Wanderungen, Zusammenkünfte, Stammtische und Aufführungen weiter. Darüber gab Ernst Hoferichter eine erschöpfende Auskunft:
Da waren die Vorlesungen bei Arthur Kutscher über Theatergeschichte, Stilkunde und Literarische Kritik sowohl Befreiung wie Entbindung. Hier herrschten statt der Ismen allein das Leben und seine Wirklichkeiten. Lebensgefühl war alles! Eine imaginäre Nabelschnur verband seine Vorlesungen mit der Fülle des Erlebens. „Meine Dam’n und Herren!“ begann eine Stimme, die ihre Erbmasse nicht aus der Sixtinischen Kapelle bezogen hatte. Schwer und dumpf kamen da Töne aus dem Inneren. Hier sprach die Erde mit. Diese Stimme höre ich noch immer. Was sie vortrug, habe ich längst vergessen. […] Die Wände des Hörsaals versanken. Wir saßen in einem Wald, zitierte Verse wurden Blätterräuschen. […] Und wenn eine Stunde zu Ende war, so stand die Kutscherei erst am Anfang eines Tages. Kanäle des Jungseins führten ins Herzgeviert brodelnder Lebendigkeit. (in v. Bruch/Müller 1986: 321f.)
Hugo Hartungs Wortwahl „Adepten“, „Grundbedingung“ und „verlangen“ soll hier deswegen in den Fokus gerückt werden, weil sie die Organisation der von Kutscher koordinierten Lerngemeinschaft eindeutig bestimmt. Hartung ist nicht der Einzige, der den partizipatorischen Charakter des Kutscher-Kreises gewahrte: Arnaudoff, bulgarischer Professor für deutsche Sprache und Kultur, behauptete, Kutschers »Vorlesungen, Übungen und Ausflüge« seien »massenhaft besucht bzw. mitgemacht« worden, und betonte fernerhin die Wichtigkeit der Bedeutungsaushandlung (in Günther 1938: 192). In Kutschers Übungen hätten alle Teilnehmer die Herausforderung angenommen, sich mit den im Seminarraum vorgeschlagenen Gedanken, Auffassungen oder Urteilen eingehend auseinanderzusetzen, so dass »häufig verschiedene Meinungen verfochten wurden und im Kampfe miteinander standen« (193). Auch Pongs, Professor für deutsche Literatur an der TH Stuttgart, erkannte, dass Kutschers Übungen »den Hörer in Zustimmung und Widerspruch« aktivierten (203), und Schalom Ben-Chorin präzisierte dahingehend, dass alle im Unterricht gewonnenen Erkenntnisse »bei Kutscher nicht vorgefaßte akademische Meinung, sondern Endprodukte langen Nachdenkens und reicher Erfahrung« waren (in v. Bruch/Müller 1986: 339).
Vor diesem Hintergrund muss der Begriff ‚Praxis‘ in Kutschers Lehrtätigkeit weiter erläutert werden: Der Theaterprofessor bezog sich damit nicht nur auf die Bühnenpraxis als mögliches Endziel einer universitären Bildung, sondern auch auf die Praxis der wissenschaftlichen Untersuchung. Die Voraussetzung für die Teilnahme an der Münchner theaterwissenschaftlichen CoP war ein »braves Immerdasein. Hier hieß es: immer darin sein – mitten in der Kunst, mitten im Leben und in der lebendigen Wissenschaft« (Hartung 1966: 165). Kunst, Leben und Wissenschaft bildeten somit ein Kontinuum, in dem sich alle drei Elemente bewegen sowie gegenseitig beeinflussen und bereichern. So ist es kaum verwunderlich, dass Kutscher als »der einzige Wissenschaftler, der das Theater als ein lebendiges und aus eigenen Gesetzen wachsendes Werk der Kunst erkannte« vom Regisseur Karl Hans Böhm und als »ein Mensch, der die Brücke zu schlagen wußte zwischen Wissenschaft und Praxis« vom Dramaturg Hermann Frieß bezeichnet wurde (in Günther 1938: 266 u. 272). Hoferichter bekräftigte diese Darstellungen, indem er schrieb: »Obgleich das ewig Lebendige ohne den Geist lebendig bleiben könnte, kam die Strenge der Wissenschaft bei Kutscher nicht zu kurz« (in v. Bruch/Müller 1986: 322). Die Grundkonzepte von Kutschers Forschung, d.h. das Zusammenwirken und das Aneinanderlernen, waren zum einen in akademischen Veranstaltungen und zum anderen im Kontakt mit dem aufgeführten oder noch aufzuführenden Theater vermittelt. Der übliche Verlauf eines theaterwissenschaftlichen Unterrichts in München bezog sich auf zwei Hauptmethoden: die einleitende Veranschaulichung und die nachfolgende Feldarbeit. Kutscher bot allen Mitgliedern der praxisbezogenen Lerngemeinschaft zuerst Anschauungsmaterialien wie Lichtbilder, Diapositive, Bücher mit Zetteln oder Modelle aus unterschiedlichen Stoffen, und dann forderte er die Mitglieder auf, mit oder aus diesen Objekten heraus selbstständiges Experimentieren bzw. empirische Feldforschung zu betreiben und die erworbenen Kenntnisse zu überprüfen. Er lehrte aus der Praxis heraus für die Praxis. Manchmal benutzte er auch banale Gebrauchsgegenstände, um das Verständnis eines Spiels oder die Erfassung eines Phänomens auf der Bühne vorzubereiten. Das von Norbert Schultze erzählte Hutexperiment in einer Vorlesung ist also ein gutes Beispiel für Kutschers Lehrtätigkeit:
Er wollte das »Wesen des Komischen« an Hand eines Experimentes noch einmal zusammenfassend deutlich machen. Dazu hatte er einen feierlichen steifen schwarzen Hut mitgebracht. Das »Experiment« bestand nun darin, die »Glocke« auf mannigfaltige Art und unter gewissenhafter Veränderung des Neigungswinkels auf das Professorshaupt zu stülpen. Solch eine Art Demonstration scheint mir typisch für Professor Kutscher: Sie war ebenso unterhaltend und erheiternd wie einprägsam und zweckmäßig. (in Günther 1938: 306)
Die Demonstration zeigt nicht nur die modernen sowie exzentrischen Lehrmethoden Kutschers, sondern auch seine Art, die Materialität der Szene – die ‚Glocke‘ ist ein im Volkstheater immer wieder vorkommendes Element – im Seminarraum zu reproduzieren, um sie den Studenten erfahrbar zu machen. Außerdem können die Vorlesungsteilnehmer ihre Fähigkeiten und Fantasie anhand der gebotenen Situation unter Beweis stellen. Die performative Didaktik Kutschers ist ein Beweis dafür, dass der Dozent und seine Schüler keine entkörperlichte, abstrakte Wahrheit verfolgten, sondern dass sie sich an »collaborative fictions« beteiligten (Pineau 1994: 10), um die Pluralität der Meinungen und Weltanschauungen zu einem kollektiv erarbeiteten Wissen zusammenfließen zu lassen, welches dann seine konkrete Anwendung in der Forschung sowie im Leben finden konnte. Alle möglichen Wissensansprüche sollten daher innerhalb der theaterwissenschaftlichen Gemeinschaft ausgehandelt und aufgeführt werden: »[P]erformance reframes the whole educational enterprise as a mutable and ongoing ensemble of narratives and performances, rather than a linear accumulation of isolated, discipline-specific competencies« (Ebd.).