Читать книгу "Das strittige Gebiet zwischen Wissenschaft und Kunst" - Chiara Maria Buglioni - Страница 18

Teil II. Potentialphase München, der kulturelle Pol

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Man suchte nach einem Ferment, das dieses Zellgewebe einer Stadt so weitmaschig und locker gemacht hat. Du verläßt einen Kreis, und der nächste nimmt dich auf. Du treibst dich so lange im fünften, bis dich unversehens drei Schritte wieder in den Mittelpunkt führen, während du schon dachtest, wer weiß wo zu sein. Jeder ist zugleich, wo er ist, und überall. Jeder ist bei jedem. Jeder hat alle Kreise. Alle Kreise haben jeden und keinen. Wenn man zu Ende ist, ist man wieder am Anfang. Wenn man sein Kleid nicht mehr zeigen kann, verkleidet man sich. […] Und so war München die Stadt einer gefühlsmäßigen Demokratie und auch des Karnevals. (Blei 2004: 322f.)

Nach dem Abitur in der Geburtsstadt Hannover entschied sich Kutscher im September 1899 für die Münchner Universität, wo er bei Hermann Paul, Franz Muncker, Roman Woerner, Adolf Furtwängler, Karl Theodor von Heigel und anderen anerkannten Namen studierte, die damals in der Hauptstadt Bayerns lehrten. Im Sommersemester 1900 besuchte er die Universität zu Kiel, an der Eugen Wolff Seminare über Schillers Ästhetik und über die Geschichte des deutschen Dramas im 19. Jahrhundert hielt. Kutscher ließ sich von Wolffs Vorstellung einer Wissenschaft des Theaters begeistern und las auch seine skizzenhafte Stilkunde mit Interesse, bevor er sie aber aus mangelnder wissenschaftlicher Präzision und Vollkommenheit ablehnte. Im Wintersemester 1900/1901, nach dem Besuch der Pariser Weltausstellung, zog Kutscher nach Berlin und, auch wenn er »das Theater gründlich kennenlernen« wollte (1960: 32), belegte dort vor allem germanistische Vorlesungen: „Altertums- und Volkskunde“ bei Karl Weinhold, die er positiv fand, „Geschichte der ältesten deutschen Literatur“ bei Roediger, dessen Reizlosigkeit Kutscher sehr schnell verurteilte, „Goethes Faust“ bei Ludwig Geiger, die dem Studenten eine dermaßen große Enttäuschung verursachte, dass er aus dem Kolleg hinauslief, und schließlich „Deutsche Literatur von Klopstock bis Schiller“ bei Erich Schmidt, dem verehrten Nachfolger Wilhelm Scherers, den Kutscher auch hochschätzte. Darüber hinaus hörte der späte Theaterwissenschaftler Max Dessoirs Vorlesung „Ästhetik mit Beispielen aus moderner Malerei, Musik und Architektur“. Gerade in jener Berliner Zeit engagierte sich Dessoir für die Neubegründung einer systematischen Kunstwissenschaft, was zweifellos eine große Faszination auf Kutscher ausübte. Allerdings verschlug es Kutscher im Sommersemester 1901 nochmals nach München und von da ab wurde die Stadt zu seiner Wahlheimat. Die Gründe seiner jugendlichen Entscheidung erklärte Kutscher in seiner Autobiographie: »Was mich veranlaßte, wieder München zu wählen, war nicht eigentlich die Universität, sondern die Atmosphäre der Stadt«, die er näher bestimmt: »ihre Offenheit gegen die mannigfaltige, große Natur, ihre ganze Lebensführung, die einem kräftigen […] Volkstum verbunden war, und ihre Liebe zu bildender Kunst, Architektur, Musik, Theater, die weniger vom bajuwarischen Stamme als von Zugereisten aus Nord und Südost getragen wurden« (35).

Was tatsächlich München um die Jahrhundertwende charakterisierte, war einerseits der Aufschwung des Wirtschaftslebens, der am Ende des sog. „Siebziger Krieges“ gegen Frankreich begann, und andererseits die Bevölkerungsexplosion: Durch eine massive Einwanderung wurde die Zahl der Einwohner in der Zeitspanne 1890–1900 von 350000 auf 498503 erhöht (Wilhelm 1993: 9). Neben den darauffolgenden aufsteigenden sozialen Konflikten erlebte die Stadt das Aufblühen von Vereinen, Bünden, Kreisen und Gesellschaften, Zeitungen, Zeitschriften und internationalen Ausstellungen, wie die ab 1889 jährliche Internationale Kunstausstellung im Glaspalast, die den Ruf Münchens als „Stadt der Kunst“ begründete. Die Prinzregentenzeit leitete eine Blütezeit ein, die München in eine der führenden Kunst- und Kulturstädte des deutschen Reiches verwandelte. Der Münchner Aufbruch in die Moderne wurde von sehr unterschiedlichen Persönlichkeiten, Bewegungen und kulturellen Richtungen getragen, die aber einen gemeinsamen Charakter zeigten: der Widerstand gegen die Autorität – auch im künstlerischen Bereich – ebenso wie gegen viele sittliche Normen und Unterdrückungsformen.

Der Begriff ‚Moderne‘ entfaltete sich kunst-, theater- und literarhistorisch in der naturalistischen Bewegung und gleichzeitig in mancherlei Gegenrichtungen, die im Kunstwerk entweder die Entfaltung der Subjektivität nach Nietzsches „Willen zur Macht“ oder den Einbruch des Freud’schen Unbewussten oder die Erweckung naturmystischer Vorstellungen erstrebten. Wie Brauneck treffend zusammenfasst, ergab sich in der Moderne »ein äußerst produktives geistiges Klima […], in dem künstlerische Richtungen wie Impressionismus, Symbolismus oder „Neuromantik“ ihre theoretischen oder weltanschaulichen Bezugspunkte fanden« (682). Sowohl die Vertreter des Naturalismus als auch die Naturalismus-Gegner propagierten ein eigenes Projekt der Moderne: entweder einen Objektivitätsanspruch (Außenwelt, Realität „ohne die Menschen“) oder einen subjektiven Wahrheitsbegriff (Innenwelt, Empfindung, Naturtrieb, Vitalismus). Wenn man sich im deutschsprachigen Raum auf München allein konzentriert, ist sowohl die Koexistenz gegenseitiger und trotzdem eng verbundener Strömungen als auch das Kulturengagement unterschiedlicher Gruppierungen am deutlichsten erkennbar. Eine Beschreibung des kulturellen Pols München um 1900 ist für die Analyse der frühen Tätigkeit Artur Kutschers äußerst brauchbar, denn diese enthielt schon in nuce das Potential für die Förderung bzw. Koordination einer praxisorientierten Theaterwissenschaft. Wenn man Communities of Practice genauer betrachtet, kann man diese nicht als isolierte Erscheinungen auffassen oder sie unabhängig von anderen Praktiken verstehen: Ihre unterschiedlichen Praktiken sind miteinander eng verbunden. Ihre Mitglieder und ihre Artefakte sind nicht ihre eigenen allein, ihre Geschichten sind nicht einfach interne Geschichten. Sie sind eher Artikulationsgeschichten zur übrigen Welt hin (Wenger 1998: 103). Was die Kunst- und Kulturgeschichte Münchens in der Prinzregentenzeit prägt, sei eben die Aufwertung der Gemeinschaft im Sinne einer Bildung von sozialen Gruppierungen unterschiedlicher Art. Eine solche Kollektivität entfernte sich allmählich vom aufklärerischen Ideal einer kulturellen Elite, die nach ihrem geistigen Muster die ganze Nation modellieren sollte, und gab sich eher der Volksutopie hin. Die Künstler, die sich ab Mitte des 19. Jahrhunderts mit der Förderung eines kultivierten Bürgertums beschäftigt hatten, plädierten für die Ausbreitung eines unpolitischen Klassizismus und waren daher der königlichen Macht untergeordnet.1 Die junge Künstlergeneration rebellierte demnach heftig gegen diese sterile Kunst, die in ihren Augen den Status quo einfach verteidigte und die deutsche Misere vertiefte. In ihrer Vorstellung sollte ein außergeschichtliches oder unhistorisches Volk an die Stelle einer bürgerlichen bzw. philiströsen Nation treten. In diesem Zusammenhang spielte die Theatervision Richard Wagners unzweifelhaft eine große Rolle.2 Wagners Kunstbegriff fußte auf dem Gemeinschaftserlebnis, welches durch emotionale, prä-rationale Bindungskräfte eine temporäre Überwindung der sonst gültigen Gesellschaftsspaltungen erforderte und hierdurch das ganze Volk konsolidieren und einigen konnte.3 Eine für das Volk erzeugte Kunst konnte nur aus der idealisierten Gemeinschaft des Volks selbst kommen und verlangte somit die Zusammenarbeit zwischen Intellektuellen, Theoretikern, schon ausübenden sowie debütierenden Künstlern, die sich jeweils durch eine Verflechtung ihrer Praktiken gegenseitig legitimierten. Rolf Parr, Literaturhistoriker und anerkannter Forscher auf dem Feld literarisch-kultureller Vereine vor und nach dem ersten Weltkrieg, hat versucht, das Phänomen systematisch zu kontextualisieren: Im wilhelminischen Deutschland hätten das Prosperieren von Technik, die Industrialisierung und die Universalisierungstendenz eines kapitalistischen Systems zur Radikalisierung der Opposition zwischen vorhandenem Materialismus und mangelndem Idealismus geführt, »was notwendigerweise kulturkritische Konzepte mit kompensatorischer Intention auf den Plan rufen mußte, die von einer nach 1860 geborenen und bereits im Reich aufgewachsenen Generation von Intellektuellen getragen wurden« (2000: 47). Man betrachtete also die schwache nationale Identität der Deutschen als direkte Folge des kulturellen Verfalls und beabsichtigte daher, das Verhältnis zwischen Nationalidentität und Kultur zu problematisieren:

Für diesen Teil des wilhelminischen Bildungsbürgertums galt es, zum einen nach „außen“ zu expandieren und zu kolonisieren, […] zum anderen nach „innen“ die deutsche Kultur zu erneuern, um damit […] das Spezifische eines präsupponierten deutschen Nationalcharakters und zugleich die eigene sozio-ökonomische Stellung zu sichern. (Ebd.)

Die konsequente Reaktion sei eine konservative Kulturkritik gewesen, welche die Kunst idealistisch verstand, wobei sie diese mit einem germanischen Kult verband. Das Volk würde somit

zum utopischen Zielbegriff einer noch zu verwirklichenden neuen nationalen Inte­gration, um deren Realisierung sich um 1900 eine Vielzahl kulturkritischer, lebensreformerischer und in der Regel zugleich völkisch-religiös akzentuierter Gruppe, Bünde, Orden, Gemeinschaften und Kreise bemühte, die teils mit minimalen Distinktionen in Konkurrenz zueinander standen, sich teils in übergeordneten Verbänden kooperierend zusammenschlossen. (49)

Der Ansatz einer konservativen Kulturkritik4 ebenso wie der eines reaktionären Modernismus im Sinne Jeffrey Herfs5 übersieht jedoch die ständige Gegenübersetzung von Denkern und Künstlern mit auktorialen Instanzen – seien sie Verkörperung der kulturellen Tradition oder Ausdruck der politischen Macht –, die Öffnung der deutschen Kunst zu ausländischen, sogar transnationalen Stilen6 sowie die Aushandlung von Bedeutungen, Funktionen und Praktiken zwischen Mitgliedern zwar unterschiedlicher, jedoch verbundener Gemeinschaften, Künste und Disziplinen.

Die Münchner Moderne kann eigentlich als »constellation of interconnected practices« bezeichnet werden. Damit meint Wenger Beziehungen zwischen Lerngemeinschaften, welche gemeinsame historische Wurzeln, voneinander abhängende Projekte sowie einige gemeinsame Mitglieder haben, einen gemeinsamen Zweck erfüllen oder einer Institution angehören, sich mit denselben Sachverhalten konfrontieren, Artefakte miteinander teilen, entweder geographisch oder durch Interaktion naheliegen, Überlappungsdiskurse oder -stile zeigen und welche schließlich für dieselben Ressourcen in Konkurrenz stehen (1998: 127). Die Interaktion zwischen Praktiken gibt der Konstellation eine gewisse Kontinuität und, umgekehrt, eine einzige CoP produziert und reproduziert die Verbindungen, Stile, Medien, Werkzeuge und Diskurse, durch die sie dazu beiträgt, eine breitere Konstellation zu bilden (130). Dieser Aspekt der Moderne in München ist noch prägender, wenn man die Abgrenzung und Strukturierung ihrer vielen praxisorientierten Gruppierungen betrachtet. Die Abgrenzung ist immer das Resultat historisch gewachsener und gemeinsam benutzter Handlungs- und Deutungsmuster, welche sich nur zum Teil in formal-organisatorischen Parametern spiegeln: »Sie sind vor allem Ergebnis von Aushandlungsprozessen zwischen betrieblichen Akteuren, die sich im Produktionsalltag immer wieder neu vollziehen« (Wehner/Clases/Endres 1996: 79). Die Träger der Geschichte und Tradition einer CoP sind daher die Produktionsmittel, bzw. Artefakte, und die Organisationsstrukturen. Eine so markierte Abgrenzung der kulturellen CoPs war aber um 1900 in der Hauptstadt Bayerns nicht vorhanden, was folglich daran zweifeln lässt, ob man von Communities of Practice überhaupt sprechen kann. Sie waren vielmehr embryonale praxisbezogene Gruppierungen, die einfach gemeinsame Interessen teilten oder die sich um starke Persönlichkeiten sammelten, ohne die Bedingungen für eine gemeinsame Unternehmung auszuhandeln. Sie mangelten ferner an einem im Laufe ihrer Existenz erzeugtem Repertoire, das sie von anderen Lerngemeinschaften unterscheiden ließ. Auch die charakteristische Multimitgliedschaft und Vielseitigkeit der Gesellschaften der Münchner Bohème gefährdete ständig ihre Grenzen und Peripherien7 sowie ihre Reproduktion, d.h. die Tradierung lokaler Deutungsmuster und relevanter Handlungssegmente. So ist es kaum verwunderlich, dass alle künstlerisch-geselligen Zirkel ihre interne Dynamik nicht lange zu bewahren wussten, nur wenige Jahre dauerten und mehrmals neugegründet wurden – oft mit anderen Namen. Schon 1954 vertrat Heribert Wenig in seiner – übrigens von Borcherdt und Kutscher selbst betreuten – Dissertation zu deutschen akademisch-dramatischen Vereinigungen eine ähnliche Ansicht:

Eine kulturelle und künstlerische Erneuerung im sozial-ethischen Sinne hätte der Parteisozialismus in seiner Beschränkung auf wirtschaftliche und politische Probleme freilich nicht durchführen können. Erst die Hilfe einer Gruppe von Individualisten, die sich aus allen Gesellschaftskreisen zusammensetzten und nur durch ihre sozialistischen Neigungen verbunden waren, vermochte das zu tun. Diese Repräsentanten des sozialen Gewissens der Zeit bildeten, ohne dass man sie gesellschaftlich hätte einordnen können, eine Art anonyme Partei. Es war eine Partei der Jugend, in der die akademische besonders vertreten war und sich hervortat. Sie war kaum ein Feind des Kapitalismus im sozialdemokratischen Sinne, sie kämpfte nur gegen die Macht des Kapitals über die geistige Freiheit. Erfüllt von nationalem Stolz, zog sie gegen den nationalen Illusionismus zu Felde. […] Das ewige Preisen und Beschönigung nationaler Tugenden und der zur Macht und Reichtum führenden Errungenschaften bedeuteten für sie hauptsächlich einen Rücktritt. […] Diese Partei verfolgte vor allem soziale und ethische Ideale. Und sie fand hauptsächlich auf dem künstlerischen Gebiet für das Zustandekommen einer sozialen Kultur zusammen. So war es zunächst mehr ein Programm der Vereinigung […]. (7)

Die erste Proto-Lerngemeinschaft der Münchner Moderne, welche die vorher erwähnten Züge trägt, entwickelte sich um die Literaturzeitschrift „Gesellschaft. Realistische Wochenschrift für Literatur, Kunst und öffentliches Leben“, die am 1. Januar 1885 gegründet wurde. Die Beschreibung ihrer Entstehung und Veränderung soll dem Zweck dienen, die Probleme der konkurrierenden Künstlerkreise vor Augen zu führen, die von ihr ausgingen.

Die „Gesellschaft“ bildete sich weniger aus gemeinsamen Ideen oder Projekten als vielmehr aus der generellen Verurteilung des als steril empfundenen Epigonen-Klassizismus der „offiziellen“ Kultur. Darüber hinaus strebten alle Mitglieder danach, ein politisches Diskussionsforum für die Moderne natura­listischer Prägung zu errichten. Die epochemachende Nähe zwischen Kunst und soziopolitischen Bemühungen kennzeichnete bereits sowohl die Zeitschrift als auch die an ihr gebundene „Gesellschaft für modernes Leben“, welche am 29. Januar 1891 in der Gaststätte Isarlust ihre erste öffentliche Veranstaltung durchführte. Wenn der Klassizismus von Heyse und Kollegen eine Flucht im wirklichkeitsentfernten Idealismus gefunden hatte, wollten Michael Georg Conrad – Hauptvertreter des Naturalismus in München – Otto Julius Bierbaum, Julius Schaumberger, Georg Schaumberg, Hanns von Gumppenberg und der von vielen als Inbild des modernen Dichters verehrte Detlev von Liliencron »die künstlerische Produktion mit einem Engagement für die „Verbesserung der Lebensführung der Armen und Notleidenden jeder Art und Herbeiführung vernünftiger Lebensgestaltung“ und damit Kunst und Politik verbinden« (Wilhelm 1993: 16). Schriftsteller, Journalisten, Dramatiker und andere Künstler verlangten also ein gesellschaftliches, ja politisches Engagement, ohne damit parteipolitisch zu sein. Der erste Paragraph der Satzung der „Gesellschaft für modernes Leben“ lautete:

Zweck der Gesellschaft ist die Pflege und Verbreitung modernen schöpferischen Geistes auf allen Gebieten […] durch Vortragsabende, Errichtung einer freien Bühne, Veranstaltung von Sonderausstellungen von Werken bildender Kunst, Herausgabe einer Zeitschrift und sonstiger literarischer Veröffentlichungen. Politische Tendenzen irgendwelcher Art stehen der Gesellschaft fern. (zit. nach Wilhelm 1993: 18)

Wenn man die Struktur dieser Gemeinschaft näher betrachtet, erkennt man zwei relevante Gestaltungsdimensionen, die später auch in anderen Kreisen und Vereinen zu verzeichnen sind: den Impuls zum Aktivismus und die Etablierung von Gewohnheiten und Zeremonien, wie etwa den Stammtisch, die Veranstaltung von Theateraufführungen, Autorenabenden oder die Veröffentlichung wissenschaftlicher Texte. Speziell soll aber auch auf die mangelnde Aushandlung von Bedeutung innerhalb der „Gesellschaft für modernes Leben“ eingegangen werden, da sie ihre Weiterentwicklung behinderte. Ein klares Beispiel dafür bietet der dritte Vortragsabend der Gesellschaft, als Hanns von Gumppenberg aus den Werken von Karl Henckell vorlas, der als proletarischer Dichter galt8. Er las auch das Gedicht An die deutsche Nation vor, in dem sich Henckell schonungslos gegen den Kaiser äußert. Das Publikum protestierte vehement, man klagte von Gumppenberg wegen Majestätsbeleidigung an und die „Gesellschaft für modernes Leben“ distanzierte sich vom politischen Inhalt des Gedichtes, indem sie erklärte, sie hätte nur dadurch literarisch-künstlerische Tendenzen zeigen wollen. Auch von Gumppenberg verteidigte sich vergebens im Laufe der Gerichtsverhandlung auf diese Weise: Am Ende wurde er zu zwei Monate Festungshaft verurteilt9. Kurz nach dem Ende des Prozesses richtete sich die Münchner Polizei gegen die Zeitschriften „Gesellschaft“ und „Modernes Leben“, die ebenfalls Beiträge naturalistischer Autoren veröffentlichten. Der Naturalismus wurde weiterhin als verdächtig angesehen, als Inbegriff von Nihilismus und Atheismus, als Sprachrohr der Sozialdemokratie. Conrad distanzierte sich prompt von solchen Anklagen, wobei er sich mehrmals innerhalb weniger Monate als Nationalist, Protestant und SPD-Gegner öffentlich bezeichnete. Die Position Conrads wurde aber von anderen jüngeren Mitgliedern der Gesellschaft nicht geteilt, was zu einem ideologischen Bruch führte: Schon Ende September 1891 bemerkte Schaumberger in einem Brief an Max Halbe, die „Gesellschaft“ mangele inzwischen an Einheit und Einigkeit.10 Conrad und seine Vertrauten einerseits sowie die jüngeren Künstler andererseits waren nicht in der Lage, die Gemeinschaft zu erhalten und ihre Bedeutung, ihre Prinzipien sowie ihre Aktivitäten auszuhandeln. Nur die Aushandlung der Bedingungen innerhalb einer Lerngemeinschaft ermöglicht nämlich die Reziprozität des Vertrauens unter den Mitgliedern, die zum wesentlichen Bestandteil der Praxis wird. Im Fall der „Gesellschaft“ könnte man auch sagen, dass ihr gemeinsames Projekt bzw. das Ergebnis eines kollektiven Aushandlungsprozesses als zu schwach resultierte und die Personengruppe löste sich auf, sobald die partikulären Interessen der Mitglieder in der Praxis der Gemeinschaft nicht mehr integriert werden konnten und die Gesellschaftspraxis sich zugleich durch die partikulären Interessen der Mitglieder nicht mehr modifizieren ließ. Sehr schnell traten konkurrierende Literaturkreise, literarische Gesellschaften und Kulturstammtische in München auf, die die Existenz der „Gesellschaft für modernes Leben“ überflüssig machten und ihre Mitglieder anzogen. Die „Nebenregierung“, mit der Josef Ruederer und junge Musiker, Maler und Schriftsteller die zwei ‚Hauptregierungen‘ – bzw. den Naturalismus der „Gesellschaft für das moderne Leben“ und den Klassizismus eines Paul Heyse – herausfordern wollten,11 ist nur ein Beispiel für einen Anhängerkreis, dessen Trägerschaft zu elitär blieb und dessen Einsatzraum zu begrenzt war.



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