Читать книгу "Das strittige Gebiet zwischen Wissenschaft und Kunst" - Chiara Maria Buglioni - Страница 20
Eine künstlerische und gesellschaftliche Neugeburt
ОглавлениеIm frühen 20. Jahrhundert wurde das Theater allmählich als notwendige, soziale, ja kulturelle Praxis betrachtet, um die Kluft zwischen Kunst und gesellschaftlichem Leben zu überbrücken. Jelavich’ These einer Karnevalisierung von Theaterformen, im Sinne einer Überwindung von binarischen Gedanken wie gut/böse, Seele/Körper oder Sein/Schein1, gewinnt in dieser Hinsicht an Bedeutung, wenn man sie als eine ästhetische Verdoppelung kultureller Aufführungen ansieht. Theaterformen und -stile, die sich mit der Theatralität im breitesten Sinn bekannt machen, produzieren eine kondensierte, gesteigerte Inszenierung einer sich selbst wahrnehmenden Öffentlichkeit, durch die sich das Publikum, mitsamt den Akteuren, seines Zustandes bewusst wird. Weitere Aufschlüsse über die abgezielte Transgression jedes ästhetischen sowie ethischen Wertsystems einer unfruchtbaren Vergangenheit, die das Volk als Quintessenz der Gesellschaft vergessen hatte, bringt die damalige Nietzsche-Rezeption. Nach dem Tod Nietzsches wurde sein Gesamtwerk als auch seine Person zum Gegenstand öffentlicher Debatten und opponierender Positionen: Es war ein Pflichtpensum, sich mit ihm auseinanderzusetzen2. Neben dem visionären Philosophen, der ein neues vom selbstschöpferischen Übermenschen beherrschtes Zeitalter prophezeite, zog man auch den Gesellschaftskritiker in Betracht, der das bürgerliche Vakuum demaskierte.3 Dieter Borchmeyer (2009) betont zu Recht, dass sich Nietzsche über die Moderne, bzw. über die Ästhetik und Kunst seiner Epoche, nie positiv geäußert hatte, und trotzdem wurde er zur Schlüsselfigur für viele künstlerisch und geistig Schaffende um die Jahrhundertwende. Das enthält jedoch kein Paradox, weil die heranwachsenden Künstler der Moderne sie nie als Endstation verstanden, sondern als Durchgangsstation. Wenn bei Nietzsche die moderne Kunst mit den Begriffen ‚Romantik‘ und ‚Dekadenz‘ verbunden ist, und daher die gegenwärtige Krankheit, Geistesschwäche und Identitätszersplitterung veranschaulicht, ist sie auch ein notwendiger Schritt in Richtung einer Neugeburt – der Kultur eben wie der Menschheit.
Eines steht für Nietzsche fest: Auch wer die Décadence überwinden will, muss sie an sich selbst erfahren haben, muss sich ihr stellen und sie bis auf den Grund durchschauen. […] Nietzsches eigenes Ideal der dionysischen als einer Kunst des aufsteigenden Lebens entspricht demgegenüber der Selbsterfahrung des Décadent und bleibt dialektisch auf sie bezogen. (Borchmeyer 2009: 37)
Die dekadente Moderne war für Maler, Schriftsteller, Theatermenschen und Denker um 1900 der Rahmen einer neuen Kreativität, eines reformstrebenden Debattierens und Experimentierens, der sich jenseits der Kunst ausdehnte und die Lebensführung selbst hineinzog. Kunst und Kultur galten somit als kräftige Re-Aktion auf eine heuchlerische, lästerliche, passive Zeit. »Persönlich konnten wir Älteren uns mit den Jüngsten im Allgemeinen recht gut verständigen. Sie gehörten fast alle zu der Boheme, die ja auch wir als Durchgangsstation passiert hatten, waren der Parteipolitik erfreulicherweise ziemlich fremd, der kommunistischen Utopie nur vereinzelt zugetan« (Martens 1924: 155). Was alle, sogar die exklusivsten Gesellschaften und Vereine der Schwabinger Bohème bestimmte, war eine Regenerationsbewegung, die nach einer allgemeinen gesellschaftlichen Erneuerung strebte. Die Erwartung und zugleich Vorbereitung dieser Neugeburt fand in der Münchner Faschingstradition ihre Spiegelung und die Teilnahme an beliebigen Karnevalsfesten übernahm für Künstler, Dichter und Denker eine wichtige Funktion: die Erzeugung der geistigen Atmosphäre, die die neue Kunst inspirieren sollte. Selbst unter einem präzisen Reglement besteht das Festliche gerade darin, »bestimmte Regeln, nämlich die Beschränkungen des Alltags zu überschreiten – etwa zugunsten einer rauschhaften Verausgabung oder einer intensiven Gemeinschaftserfahrung« (Warstat 2005: 104). Emblematisch wirkt hierzu die Haltung der dem George-Kreis naheliegenden Gemeinschaft der „Kosmiker“. Um den ‚Meister‘ George gravitierten die ‚Enormen‘ Karl Wolfskehl, Ludwig Klages, Alfred Schuler und, bis 1901, Ludwig Derleth: Seit 1899 trafen sich die Freunde in der Wohnung Wolfskehls4 – Inbegriff des ‚Wahnmochings‘ –, im Café Luitpold oder in anderen Schwabinger Lokalen, um über Kultur, Mystizismus, Erotik und Zivilisation zu diskutieren. Der Name ‚Die Kosmiker‘ stammte aus ihrem ideologischen Credo, da »ihr Denken das kosmische Leben über das Einzelleben stellte und in kosmischen Beziehungen das Vorbild für symbiotische Verbände unter den Menschen erblickt wurde« (Schneider 1999: 386). Der Einfluss Nietzsches und die Begeisterung für dessen Wiederentdeckung des Heidentums und der Urnatur war nicht nur in der theoretischen Position der Kosmiker sichtbar, sondern auch in deren maßloser Leidenschaft für Feste, Bälle und Maskeraden.5 Die „heidnischen Feste“ der Kosmiker-Runde fanden vorwiegend während des Münchner Faschings statt und richteten sich an die Wiederbelebung einer heidnischen, reinen Lebensform. Sie bezogen daher Maskenumzüge mit historischen, mythologischen oder allegorischen Kostümen, Prozessionen mit Gesangbegleitung, saturnalische Tänze, bacchantische Betätigungen, Vorlesungen angemessener Werke, einen Rauschzustand und die Dionysos-Identifikation der (kosmischen) Beteiligten ein: Das Ganze konstituierte ein Ritual, eine kultische Feier mit steifem Zeremoniell. Die durch die Faschingsatmosphäre übermittelte Selbstinszenierung diente zur Belebung einer verkehrten, alternativen, geistigen Welt, in der eine gereinigte, regenerierte Menschheit erwachen konnte. Außer den privaten Feierpraktiken beteiligten sich die Kosmiker und andere Künstler mithin an der Wiederentdeckung von urtümlichen öffentlichen Theaterformen, wie die Krippenspiele6 oder die unter der Leitung des Literaten Frhr. Alexander von Bernus stehende Bühne „Schwabinger Schattenspiele“.7 Der moderne Mystiker Bernus – so wie er sich selbst konzipierte – verstand sein Unternehmen als ästhetisches Experiment, das sich von den naturalistischen Konventionen der zeitgenössischen Theaterpraxis löste: Das erneuerte Schattentheater sollte die Flächenkunst des Jugendstils zur szenischen Bühne des lyrischen Ausdrucks transformieren. Die Aufführungen zielten darauf hin, die »entmaterialisierte Welt der wachen Träume« als Ausdrucksform der neuromantischen Dichtkunst sichtbar zu machen (zit. nach Wilhelm 1993: 165). Neben Stücken des romantischen Schattenspielrepertoires kamen bald neue Dichtungen zur Aufführung, wie Karl Wolfskehls Thors Hammer, die der vom Symbolismus beeinflussten Sprachmagie Georges nahestanden. Die magische Qualität des Schattenspiels ermöglichte die Entdeckung einer mystischen Dimension jenseits der Grenzen der konventionellen Wahrnehmung, was auch Georg Fuchs ständig hervorhob.
Die Popularisierung und Karnevalisierung des Theaters sind ihrerseits Zeichen dafür, dass die Münchner Theaterszene zu Beginn des 20. Jahrhunderts von Gruppierungen multipler Mitgliedschaft charakterisiert war, die darauf abzielten, durch eine moderne – sprich: reformierte – Bühnenkunst auf den sozialpolitischen Kurs Einfluss zu haben. Die Bewusstmachung der Realität durch die verkehrte Welt des Theaters ebenso wie die Formation einer freien Öffentlichkeit wurden auch von der Volksbühnenbewegung propagiert, doch mit anderen Mitteln. Festspieltheateridee, Festspielprojekte und Volkstheater suchten im festlichen, zeremoniellen Rahmen der Aufführung eine Gemeinschaftsbindung von Darstellern und Zuschauern, die das Volk als utopische Einheit erscheinen ließ und daher zur Begegnung mit sich selbst bringen konnte. Die Orientierung an einer atavistischen, von Raumbewegungen, Gebärden, Tänzen, Ritualen dominierten Festkultur revolutionierte nicht nur die Vorstellung des Theaters als eine Kunst sui generis,8 die anders als die Literatur funktioniert, sondern auch die Rolle des Zuschauers, der zum mitschaffenden Bestandteil der Aufführung, des Kunstwerkes wurde. Georg Fuchs stellte fest, die Künstlertheaterbewegung sei ein Kampf gegen die Literatur gewesen, um »de[n] Orgiasmus, de[n] erhobene[n] Rauschzustand der schauenden Menge« als das Wesentliche anzuerkennen, woraus erst die Aufführung hervorgeht, um das Bühnenbild, die Schauspielkunst und das Drama als gleichberechtigte Elemente des Theaters zu würdigen (1909: 11). Bezüglich Georg Fuchs’ Essay Die Revolution des Theaters bemerkt Manfred Brauneck, seine moderne Theatervision habe sich in einer Art von »Massentheater, das bei den Beteiligten ein rauschhaftes Gemeinschaftserlebnis im Sinne einer „Volksgemeinschaft“ bewirken sollte« enthüllt9 (1999: 638). Fuchs war für die Entwicklung des Theaters in München besonders wichtig, weil er geistiger Urheber sowie Direktor und Dramaturg des „Münchner Künstlertheaters“ war und langjährig versuchte, ein Theater für das neue, große Publikum, bzw. für das ganze Volk, zu fördern. Wenn sich die sog. Bühnenreform – wie in den Versuchen der Shakespearebühne oder der Drehbühne – nur auf die Bühne konzentrierte, verlangte die Theaterreform Fuchs’ noch mehr: »das ganze räumliche Verhältnis, das Drama und Zuschauer umfaßt,« zu reformieren (Fuchs 1909: 109). Es muss aber hinzugefügt werden, dass Fuchs’ Idee eines reformierten Theaters schon mit Peter Behrens ihren ersten Ausdruck gefunden hatte. Auch er hatte für eine Revolution in der Theaterarchitektur plädiert, um ein Gesamtkunstwerk mystisch-symbolischer Natur zu erzeugen,10 um die »Kunst der Geisteskultur« zu verwirklichen (1900: 25).
Angeregt von Franz von Stuck, Max von Schillings, Friedrich August von Kaulbach, Fritz von Uhde, Fritz Erler, Ferdinand von Miller, Frhr. von Speidel (Generalintendant der Königlichen Bühnen) und selbstverständlich Georg Fuchs wurde das Künstlertheater am 17. Mai 1908 mit Goethes Faust eröffnet11 (R: Albert Heine). Kurz davor hatte der Georg-Müller-Verlag eine kleine Broschüre mit drei Beiträgen veröffentlicht, welche die Mission des Münchner Künstlertheaters und seine Gründung erklärten – darunter befand sich auch Georg Fuchs Die Ziele des Münchner Künstlertheaters. Das als problematisch empfundene Hauptmerkmal des damaligen deutschen Theaters war der sog. „Barbarismus“ seiner Ausstattung, die eine künstlerische Armut erzeugte.12 Nach Ansicht der Theaterreformer war das deutsche Theater von der aus dem 16. und 17. Jahrhundert übernommenen Oper-, Ballett-, und Guckkastenbühne beherrscht. Weder die Guckkastenbühne noch die „erhabene Bühne“ des Naturalismus hätten einen direkten Kontakt zum Publikum ermöglicht. Die vorgeschlagene Theaterreform betraf daher in erster Linie die Architektur, im Sinne von Spielraum und Dekoration. Der Grund dafür war die Annahme, dass der Kunstcharakter des Theaters nicht im Drama liegt, sondern in der Aufführung. Mit anderen Worten umfasste die Bestrebung nach der „Retheatralisierung des Theaters“ nicht nur eine neue Ästhetik des Mediums, sondern auch ein innovatives, experimentelles Theaterverständnis: Man musste eine wirksame theatrale Sprache entwickeln und die konstruktive Interaktion Darsteller-Publikum fördern. Sehr bald bildete sich eine starke Interessentengruppe, die eine Reform der „dekorativen Ausstattung“, im Gegensatz zu Kulissen, Kitsch, falscher Perspektive und zauberhafter Bühnenausstattung verlangte. Das Ziel war dementsprechend, die räumliche Trennung zwischen Publikum und Darstellern zu überwinden und somit das Illusionsprinzip des naturalistischen Theaters zu vermeiden. Das Gebäude wurde von Max Littmann realisiert, der sich über den Bau des Bühnenraums und des Zuschauerraums wie folgt äußerte:
Man braucht sich noch nicht auf den Standpunkt Gabriele d’Annunzios zu stellen, der vom Drama sagt, daß es nichts anders sein könne als ein „Gottesdienst“ oder eine „Botschaft“, die Überzeugung ist aber jetzt schon allgemein, daß wir im Drama ein nicht genug zu schätzendes ästhetisches Mittel zur Erhebung für unser Volk haben, das in möglichst vollkommener Form dargeboten werden muß. In dem Logenhaus ist aber das Verhältnis der Besucher zu einander die Hauptsache, und das Verhältnis des Zuschauers zu der Bühne, von der die erhebende Wirkung ausgeht, durch die erwähnten Mängel so gestört, daß unmöglich durch die Musik, durch das gesungene und gesprochen Wort jene ernste, weihevolle Stimmung erzielt werden kann, welche die feinsten Empfindungen der menschlichen Seele auszulösen vermag. (1908: 18f.)
Malerische Hauptfiguren des Münchner Künstlertheaters waren Thomas Theodor Heine, Wilhelm Schultz und Hans Beatus Wieland. Die vier neuen Vorschläge waren die Verkürzung der Szene und das reliefartig ausgestaltete Bühnenbild13, die Reduzierung der szenischen Mittel durch Anwendung stilistisch vereinfachter Dekorationen und Hintergrundmalerei nach dem Muster der jugendstilischen Flächenkunst, die strengste Unterordnung unter den Gesetzen des dramatischen Stils und die ausgiebige Zuziehung der „angewandten Kunst“.14 Trotz des klaren Projekts verfehlte das Münchner Künstlertheater gerade in seinen entscheidenden Neuerungen, so dass es sich am 29. Januar 1909, infolge ökonomischer und künstlerischer Schwierigkeiten, kapitulierte. Der erste Pächter war bemerkenswerterweise Max Reinhardt: Der Regisseur brachte nach München acht eigene Inszenierungen aus Berlin mit (Sommernachtstraum, Was ihr wollt, Der Kaufmann von Venedig, Faust I, Die Räuber, Lysistrata, Gespenster und Revolution in Krähwinkel). Er begann dagegen die Berliner Festspiele im Künstlertheater mit einer neuen Inszenierung: Hamlet. Es folgten andere Münchner Premieren: Die Braut von Messina, Judith und Hauptmanns Hanneles Himmelfahrt. Was Reinhardt in München für zwei Saisons (1909 und 1910) neu inszenierte, brachte er später nach Berlin.15 Reinhardt erschöpfte die Kunstidee des „Münchner Künstlertheaters“ völlig und übertrug sogar dessen künstlerische Prinzipien auf die Operette: Die Grundidee eines Festspieltheaters der Stilbühne, einer kritischen Öffentlichkeit für das gesamte Volk war mit dem Triumph eines dem Profit gewidmeten Geschäfts endgültig ausgelaugt. Doch Fuchs’ Forderung eines re-theatralisierten Theaters, das sich von der zerdrückenden Übermacht des Dramas befreien konnte, wirkte in der Kunst- und Theatergeschichte der Moderne weiter, wie etwa auf das von Paul Brann aufgestellte „Marionettentheater Münchner Künstler“ oder auf Wassily Kandinskys künstlerische Versuche.16 Seine auf der Bühne zu übertragende Synästhesie von Farbe, Klang und raum-zeitlicher Bewegung auf Kosten der naturalistischen Genauigkeit war nämlich mit der Suche nach einer sinnlichen, vollkommenen Wahrnehmung verbunden, die jahrelang von künstlerischen Zirkeln der Münchner Moderne betrieben wurde. Alle Maler, Architekten, Theatermenschen, Publizisten und Wissenschaftler, die an der Reform des „Münchner Künstlertheaters“ teilgenommen hatten, wollten einfach ihre Arbeit »nicht anders als einen „Versuch“ eingeschätzt wissen, ein Versuch, der seinen Zweck vollauf erfüllt, wenn er anderen Anregung gibt, auf der betretenen Bahn weiter zu arbeiten« (Littmann 1908: 39).