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Die soziale Landschaft der Praxis

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Die Praxislandschaft resultiert aus unterschiedlichen Partizipationsmodi, die sich zwischen lokalen Interaktionen und globaler Partizipation bewegen. Um die drei wichtigsten Formen oder Mechanismen der Partizipation zu beschreiben, verwendet Wenger die Begriffe Beteiligung (engagement), Vorstellung (imagination) und Ausrichtung (alignment). Während die Beteiligung eine aktive Mitwirkung bei zeitlich, räumlich und psychologisch markierten Bedeutungsaushandlungsprozessen bezeichnet, weist die Vorstellung auf einen kreativen Prozess hin, der die menschliche Erfahrung nutzt, um Weltbilder zu schaffen und Verbindungen durch Raum und Zeit aufzuspüren. Solche über die Beteiligung hinausgehende Bilder und Beziehungen werden zu Grundbestandteilen des Selbstbewusstseins sowie der individuellen Auslegung der eigenen Partizipation an der Sozialwelt. Es ist auffällig, dass sich Wenger dabei auf Benedict Andersons Vorstellungsgedanken beruft (Wenger 2000: 228). Die Vorstellung diente Anderson zum Modell, um die Entstehung gemeinschaftsbildender Beziehungen bzw. Nationen in der Moderne zu erklären.1 Die Vorstellung einer begrenzten und souveränen Gemeinsamkeit existiere zwar ohne direkte Begegnung und aktive Mitbeteiligung der Mitglieder, wurzele zugleich aber im soziohistorischen Kontext: Als Entität, die sowohl Individuen als auch deren kleine Gemeinschaften einbezieht und zugleich über diese hinausgeht, entspricht die Vorstellung einem Wechselspiel zwischen Erfahrungen, Projekten, Selbstdarstellungen, Gefühlen und Bedingtheiten, welches immer neue Identitätsbeziehungen herstellt. Wenger bekräftigt den Standpunkt Andersons, indem er feststellt, das Hauptmerkmal der Vorstellung sei, dass:

it is anchored in social interactions and communal experiences. It is a mode that always involves the social world to expand the scope of reality and identity. Because imagination involves unconstrained assumptions of relatedness, it can create relations of identity anywhere, throughout history, and in unrestricted number. (1998: 178)

Diese theoretische Öffnung zur Translokalität2 hat selbstverständlich ihr praktisches Pendant: Beteiligung und Vorstellung wirken zusammen als ein Mechanismus paralleler Einbindung und Entbindung. Die Beteiligung führt zur Herstellung von CoPs, die Vorstellung hingegen ermöglicht dem Subjekt, von seiner Beteiligung Abstand zu nehmen und diese durch die Augen eines Außenstehenden zu sehen. Kurzum, die Verknüpfung von Beteiligung und Vorstellung ergebe eine »reflective practice«, welche zwei Fähigkeiten kombiniert: einerseits die Fähigkeit, sich mit einem gemeinsamen Projekt zu identifizieren, andererseits die Fähigkeit, das Projekt in seinem translokalen Kontext zu betrachten (218). Jeder Akteur gehe also mit Grenzen und Peripherien insofern produktiv um, als er seine Identität(en) mitspielen lassen und suspendieren kann. Individuen seien sowohl in lokale Lerngemeinschaften als auch in translokale Netzwerken eingebettet, die Prozesse kulturellen Austauschs und Transfers fördern. Im Mittelpunkt der Analyse stehen also nicht mehr einheitliche Akteure, sondern Trägergruppen, die in einem dynamischen Aktions- und Erfahrungsraum translokale bzw. transkulturelle Komponenten ständig miteinander verbinden und diese als wandelbare Einheit bilden. Mitglieder solcher Trägergruppen oder Trägerinstitutionen sind Individuen, welche ihre eigene Identität selbst als transkulturell empfinden: Die transkulturelle Fähigkeit, sich durch unterschiedliche Sozialwelten zu bewegen und das jeweils spezifische Wissen zu übertragen, um potenziell immer neue mögliche Identitäten zu realisieren, prägt die Menschen seit der Neuzeit.3 Obwohl Wenger das Präfix „trans“ im Bereich des Translokalen, Transnationalen oder Transkulturalen nie benutzt, verweist die von ihm theorisierte soziale Landschaft der Communities of Practice auf den pragmatischen Ansatz translokaler Sichtweise, der Phänomene der Kontaktzonen berücksichtigt und Übertragungs- und Abneigungsprobleme in den Vordergrund stellt. Wengers Beteiligung, Vorstellung und Ausrichtung – der letzte Begriff bezeichnet einen Koordinationsprozess von Kräften und Tätigkeiten, welcher das Subjekt darauf vorbereitet, sich an breitere Sozialstrukturen anzupassen und dadurch an umfangreicheren Projekten teilzunehmen4 – bilden eine Wissens- und Identitätsstruktur ab, die Praxisbeziehungen nicht zwischen Lokalem und Globalem aufbaut, sondern zwischen verschiedenen Örtlichkeiten, zwischen effektiven und imaginierten Räumen, wie diese eine globale Dimension erschließen.

So ist es kaum verwunderlich, dass der Identifikationsprozess für Wengers situiertes Lernen zentral ist. Identifikation sei nämlich ein Prozess, durch den die Partizipationsmodi zum konstitutiven Teil menschlicher Identität werden, indem sie Bindungen oder Differenzierungen herstellen, für die man sich einsetzen kann (208ff.). In dieser Hinsicht deute die Identifikation auf den konstitutiven Charakter der CoP und der Konturen von Mitgliedschaft oder Nicht-Mitgliedschaft für die menschliche Identität hin. Die Anwesenheit unterschiedlicher Sozialformen von Partizipation, welche die Grenzen einer gewissen Region transzendieren, führt zur Proliferation translokaler Erfahrungen, die Deterritorialisierungs- und Relokalisierungsprozesse charakterisieren.5 Der Kontext jedes Partizipationsmodus setzt also eine spezifische Identifikation voraus,6 so dass die Identitätsbildung die besondere Aufgabe erfüllt, direkte sowie indirekte Erfahrungen, konkrete sowie symbolische Aushandlungen und Auseinandersetzungen in ein kohärentes Selbstbild und Fremdbild aufzunehmen. Sie bringt den Versuch jedes Individuums zum Ausdruck, seine alltägliche Praxis innerhalb der lokalen Gemeinschaften mit weltumspannenden Phänomenen zu verbinden und diese zwei Bereiche einander gegenseitig zu interpretieren, zu übertragen und einzuverleiben. Der De- und Reterritorialisierungsprozess sozialer Beziehungen und Praktiken, in dem jeder seine Einzelidentität konstituiert, resultiert somit aus der Wahrnehmung der sozialen Welt durch die unterschiedlichen – doch zugleich komplementären – Mechanismen der Partizipation. Themenkreise, denen eine Forschung aus transnationaler oder transkultureller Perspektive nachgeht, sind demnach alle »über den Nationalstaat hinausreichenden Interaktionen, Verbindungen, Zirkulationen, Überschneidungen und Verflechtungen von Menschen, materiellen Gegenständen und Institutionen jeder Art […], sei es in Form von sozialen Praktiken, Symbolsystemen oder Artefakten« (Patel 2008: 77f.). Hierzu könnte Pierre Bourdieus Auffassung von „sozialem Raum“7 die praktische Auswirkung der Translokalität näher beleuchten: Neben den eindeutig lokalisierten sozialen Wirklichkeiten gibt es eine relationale Ordnungsvorstellung, die sich als abstrakte Raumkonzeption ergibt. Die Wahrnehmung bzw. Erfahrung vom Sozialraum geht also aus einem doppelten Produktionssystem hervor: einerseits aus einer objektiven Perspektive her, durch welche die in einer Gemeinschaft ausgehandelten Artefakte und Symbole nicht isoliert, sondern in elementaren Verkoppelungen wahrgenommen werden; andererseits aus einer subjektiven Perspektive her, durch welche die objektiven Strukturen der sozialen Welt inkorporiert werden. Wenn man Ludger Pries’ „transnationale soziale Räume“ bedenkt (1996), kann man diese translokale Raumvorstellung als Zeichen dafür betrachten, dass soziale Beziehungen und Verflechtungszusammenhänge existieren, die »geographisch-räumlich diffus« sind (456) und die sich zwischen und oberhalb der lokal-regionalen Sozialräume aufspannen. Dies ist so zu verstehen, dass Menschen Vorstellungen über Räume benötigen, um ihre Praxen aus der Umwelt abzugrenzen und mithin zu bestimmen,8 und Vorstellungen über soziale Praxen benötigen, um die Räumlichkeit zu erfassen, in der sie handeln bzw. sich als Identität definieren. Erst in einem translokalen Handlungsspielraum entfalten sich die Wirkungen einzelner Subjekte und zugleich die Ressourcen, die Bedeutungen und Wissenssegmente, die ständig ausgehandelt und genutzt werden können. Der Blick auf die Translokalität hat demnach die Funktion, »ein Denken in Strukturen durch eines in Strömen ( flows, streams)« zu ergänzen (Osterhammel 2001: 474), d.h. neben der historischen, sozialen und ökonomischen Situiertheit des Wissens auch neue bewegliche Formationen einzubeziehen, die intensive Austauschbeziehungen, produktive Durchmischungen seitens der Träger und Austauschvorgänge in vielen Bereichen zu umfassen.

Ein letztes, mit der „sozialen Landschaft“ verflochtenes Element, das man hervorheben muss, bevor man sich mit dem Lebenszyklus einer CoP beschäftigt, ist die Reflexion über die unterschiedlichen Verläufe der Einzelidentität (trajectories). Unter diesem Begriff verstehet Wenger weder ein Endziel noch einen festgelegten Weg, den man vorhersehen kann. Vielmehr bezeichnet das Wort einen Bezugspunkt, der für die zeitliche Verbindung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft sorgt (1998: 154). Indem das Subjekt eine Reihenfolge von Partizipationsformen durchlebt, zeichnet seine Identität immer unterschiedliche Verläufe auf, sowohl innerhalb als auch quer über Lerngemeinschaften. Das bedeutet, dass mehrere Typologien von Identitätsverläufen existieren – wie etwa periphere, eingehende, innere Trajektorien, Grenztrajektorien oder ausgehende Trajektorien – und dass jede Einzelidentität eine Vergangenheit und eine Zukunft mit sich bringt. Identität sei demnach nicht nur auf den Raum, sondern auch auf die Zeit bezogen. Raum und Zeit durchdringen sich gegenseitig.9 Das Lernen, das durch Communities of Practice erfolgt, stellt eine Geographie möglicher Verläufe dar – und zwar den Vorschlag einer Identität: »Learning communities will become places of identity to the extent they make trajectories possible – that is to the extent they offer a past and a future that can be experienced as a personal trajectory« (215). Durch die Partizipation an multiplen Praxissystemen handeln alle Menschen ihre Trajektorien aus, greifen ihre Identitäten ineinander. Eröffnen Lerngemeinschaften eine Reihe möglicher Verläufe, dann setzen sie Beteiligung, Vorstellung und Ausrichtung zusammen in Gang. Wie Wenger nachdrücklich sagt, nimmt die Beteiligung eigener Identität auch Vorstellung und Ausrichtung auf: »[E]nvisioning these possible futures and doing what it takes to get there« (2000: 241). Das Netzwerk von CoPs muss das Individuum befähigen, ein hohes Maß an lokalem Zusammenhang, globaler Ausdehnung und sozialer Effektivität zu gewinnen. Selbstverständlich bringt die Aushandlung von Trajektorien eine Zusammenkunft von Generationen mit sich, was Wenger als besonders produktiv einschätzt. Er erkennt ausdrücklich an, eine solche Zusammenkunft sei wahrlich ein Treffen, »in which generations attempt to define their identities by investing them in different moments of the history of the practice« (157f.). Die Zeitlichkeit der Identität in der Praxis ist also weder bloß individuell noch linear-deterministisch, weil Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in gegenseitig verzahnten Verläufen verkörpert sind. Diesbezüglich bietet die Forschungsperspektive Wengers die Gelegenheit, zwei gegensätzliche Aspekte mit neuen Instrumenten zu analysieren. Zum einen können Raum und Zeit als Sozialformen betrachtet werden, welche den situationsbezogenen Einsatz, die Vorstellung und Ausrichtung des weltweiten Spektrums der Träger und Akteure hervorbringen. Raum und Zeit werden somit zu Zentralkategorien jeder Art von Untersuchung, sofern sie eine soziale Landschaft mit fließenden Grenzen bilden, in deren Disjunktionen jedes Individuum Bedeutungen und Identitätsmöglichkeiten aushandeln kann. Diese Kategorien sind daher nicht absolut, sprich vorgegeben, sondern historisch, politisch, ökonomisch, kulturell von jeweils unterschiedlichen Agenten markiert. Obschon Einzelakteure immer an Communities of Practice partizipieren, stehen sie mit ihrer Situiertheit im Fokus der Aufmerksamkeit: Es sind Einzelakteure, die letztendlich die soziale Landschaft wahrnehmen und diese (um)gestalten.10 Selbst der Begriff Identität enthält die Erfahrung von Multimitgliedschaft und die Tätigkeit, alle wahrgenommenen Anhänglichkeiten und eigenen Identitäten in eine Ganzheit zusammenzuführen. Zum anderen kann man Generationen nicht nur als „imagined communities“ auffassen,11 sondern auch als komplementäre Faktoren zum Transport, zur Adaption sowie zur Neubestimmung des Wissens innerhalb und durch CoPs. Eine Generation ist nicht einfach ein Konstrukt, eine Projektionsfläche kollektiver Phantome, Selbstbilder und Erwartungen, die sich als imaginäre Gemeinschaft profiliert, sondern vielmehr die Verkörperung einer spezifischen gemeinsamen Praxis, die in Beziehung mit der Geschichte anderer Generationen steht. Mit anderen Worten: ein derartiges Generationskonzept ermöglicht, sowohl Kontinuitäten als auch Diskontinuitäten als Kategorien auszumachen. Kontinuität taucht in der Aufeinanderfolge von Illusionen, Projekten oder Deutungen auf, Diskontinuität finde man in den soziopolitischen und kulturellen Verhältnissen, in den realen Rahmenbedingungen, welche »die Chancen generationeller Autopoiesis bestimmen und anscheinend zunehmend begrenzen« (Niethammer 2009: 37). Erst in der Durchdringung von Generationen erkennt das Individuum die Befangenheit sowie die erforderliche Gebundenheit, die Grenzen sowie die Ausweitungsmöglichkeit seiner eigenen Erfahrung in der sozialen Welt. Diese Auffassung zieht die zwei Dimensionen des Generationsbegriffs in Betracht, und zwar einerseits dessen synchronische Ausdehnung, welche »Operationen der Einteilung, Abgrenzung und Identifizierung« entspricht, und andererseits dessen diachronische Ausdehnung, welche die Generativität bzw. die Genealogie betrifft (Weigel/Parnes/Vedder/Willer 2005: 7). Die Generation als Selbstverständnis und zeitgleich als Prägekraft im Prozess des Erwerbes und der Erzeugung von Wissen stellt ebendaher das Spannungsverhältnis zwischen Einrichtung und Transformation der Praxen dar, das sich allein wirksam erweist.



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