Читать книгу "Das strittige Gebiet zwischen Wissenschaft und Kunst" - Chiara Maria Buglioni - Страница 11
Situiertes Lernen nach Jean Lave und Etienne Wenger
ОглавлениеIn Laves und Wengers Auffassung hängt das situierte Lernen von der auf verschiedene Weisen legitimierten Teilhabe an Communities of Practice ab.1 Diese Teilnahme ist daher ein konstituierender Bestandteil sowohl für Wissensinhalte als auch für die Identitätsentwicklung im Verhältnis zu Lerngemeinschaften. Lernen ist ein kollektiver sowie relationaler Prozess und stimmt mit der Aushandlung einer Identität überein – zumal Identitätsbildung heißt, als Mitglied sozialer Gemeinschaften die Bedeutungen individueller Erfahrung auszuhandeln. Lernen ist lediglich ein soziales Phänomen und für jedes Individuum geschieht es durch die Partizipation bzw. durch den aktiven Anteil an den Praxen seiner Gemeinschaft(en). Aus diesem Grund wird die Lernform in der Theorie der situierten Kognition auch kooperatives Lernen genannt. Der Wissenserwerb ist direkt im Prozess der sozialen Ko-Partizipation verortet, also nicht im Geist der Einzelsubjekte, sodass Lernen nicht dem Gewinn einer gewissen Anzahl von abstrakten, vorab vorgefertigten Wissenssegmenten entspricht, sondern dem Gewinn der Fähigkeit zum Mitwirken, indem der Lernende konkret am Lernprozess teilnimmt. Der Ort des Wissens ist demzufolge der produktive Prozess schlechthin, der immer von den – oftmals unterschiedlichen – Perspektiven der ko-partizipierenden Lernenden vermittelt wird. Dies bedeutet, dass es eine Arbeitsgruppe ist – die sogenannte CoP –, die unter diesen Bedingungen lernt, nicht das einzelne Individuum. Lernen vollziehe sich nämlich immer innerhalb eines partizipatorischen Rahmens,2 was Laves und Wengers Einstellung gegenüber klassisch strukturalistischen Lerntheorien ebenso wie gegenüber interaktionistisch orientierten Ansätzen klarstellt. Die erste Theorierichtung behauptet, Wissenserwerb handle mit dem Erwerb vorgeprägter Strukturen und Verstehen sei eine Frage der Erkenntnis der Strukturen sowie der Entwicklung der Fähigkeit, sich in das System einzuleben. Der Lernende implementiere seinerseits das System, indem er es mit einer Überlagerung von situativen Besonderheiten fülle und diese auf einen Strukturzusammenhang beziehe. Das Verstehen betreffe, mit anderen Worten, individuelle Bindungsrepräsentationen von Subjekten. Bei interaktionistischen Theorien hingegen wird vertreten, dass das, was Menschen lernen keinen schon vorhandenen Inhalt besitze: Lernsubjekte und Lernkontext seien bekanntlich miteinander verflochten. Laves und Wengers Ansatz ist ein Mittelweg:3 Er beruht darauf, dass partizipatorische Rahmen eigentlich strukturiert sind und gerade dieses Merkmal das Lernen in Communities of Practice ermöglicht. Erst ein strukturierter partizipatorischer Lernrahmen könne nämlich den Modus der sogenannten „legitimierten peripheren Partizipation“ vorhersehen. Lernende interagieren mit der vorhandenen sozialen und materiellen Situation, und zwar mit den jeweils herrschenden soziokulturellen Aspekten, wie Vorbildern, Konventionen, Werten und Werkzeugen. Lernende seien also
Personen, die im bestimmten Maße an einer Praxisgemeinschaft beteiligt und zunehmend in der Lage sind, an den verschiedenen Aushandlungssegmenten zu partizipieren; mit einer je konkreter legitimierten Form des Zugangs und mit einer vielfältig bestimmten Position der Peripherikalität in Relation zum Praxisfeld, d.h. einer spezifischen Form der Zurückgenommenheit vom Handlungsdruck.4 (Wehner/Clases/Endres 1996: 81)
Nichtsdestotrotz seien diese Strukturen adaptiv, weil sie vielmehr den variablen Ereignissen einer Handlung entsprechen als deren invariablen Voraussetzungen.5 Vorgefertigte Strukturen können zwar Gedanken, Handlungen und Lernerfahrungen irgendwie bestimmen, aber in einer höchst schematischen Weise; darüber hinaus werden Strukturen im lokalen Handlungskontext immer neu konfiguriert. Es sind nicht nur die Subjekte, die sich durch die Teilnahme als Ko-Lernende hindurch verändern, sondern auch die Strukturen und die erworbenen Fertigkeiten. Wie Wenger kommentiert, wurden CoPs sofort zur Verkörperung von »this view of learning as happening at the boundary between the person and social structure – not just in the social structure or not just in the individual, but in that relationship between the two« (in Omidvar/Kislov 2013: 269). Lernen profiliert sich hiermit als eine Eigenschaft, als eine besondere Art soziokulturelle Handlungspraxis, die im Rahmen der „legitimierten peripheren Partizipation“ durchgeführt wird. Die legitimierte periphere Partizipation bildet also die Bedingungsmöglichkeit des Lernens, eines kreativen Prozesses, an dem sich das Subjekt dadurch beteiligt, dass es im Geflecht der CoP immer neu ausgehandelte Rollen erwirbt und spielt – und jeder Rolle entspricht eine Art von Verantwortung, eine Vielfalt von Rollenbeziehungen sowie unterschiedliche interaktive Beteiligungsformen. Was Lernende erwerben ist sonach kein Reservoir von Partizipationsschemata, sondern die Fähigkeit, unterschiedliche Aufgaben bzw. Funktionen in unterschiedlichen Lern- und Praxisfeldern auszuüben, wie zum Beispiel die Improvisationskompetenz oder das Timing von Tätigkeiten in Bezug auf sich ändernde Umstände. Die allmählich aufgebaute Expertise steht also in enger Verbindung mit der Fähigkeit zur Aufgabenerfüllung. Demzufolge seien die Fähigkeiten zur Bewältigung der Lernsituation bzw. kognitiven Wachstums mit der Fähigkeit verbunden, Aufgaben zu erfüllen. In der Theorie der situierten Kognition erkennt man die Verknüpfung zwischen den gelehrten und gelernten Fertigkeiten einerseits und der jeweiligen „performance situation“ andererseits:
Insofar as learning really does consist in the development of portable interactive skills, it can take place even when coparticipants fail to share a common code. The apprentice’s ability to understand the master’s performance depends not on their possessing the same representation of it, or of the objects it entails, but rather on their engaging in the performance in congruent ways. […] Again, it would be this common ability to coparticipate that would provide the matrix of learning, not the commonality of symbolic or referential structures. (Hanks 1991: 21f.)
Kognitionen werden immer von Individuen in kulturell organisierten Kontexten gemeinsam konstruiert. Jeder Lernprozess gleicht einer Aufführungsform innerhalb der sozialen Welt, unter besonderen Umständen, in einer gewissen Zeit und an einem bestimmten Ort. Aus dieser partizipatorischen Aufführungsform resultiert die dynamische Reproduktion von Lerngemeinschaften, die durch Tradierung reproduktiver Wissens- und Handlungssegmente ebenso wie durch Verschiebungen und Brüche erfolgt. Das Lernen erfüllt demgemäß eine doppelte Funktion: Erstens, um Kontinuität aus bestimmten Traditionen, lokalen Deutungsmustern und wichtigen Handlungsweisen im Praxisfeld herzustellen; zweiteins, um die Diskontinuitäten zu fördern, die zur Entwicklung und Umgestaltung führen. Laves und Wengers Auffassung von situierter Kognition stützt sich zusammenfassend auf die Situiertheit sowohl der Lernprozesse als auch des Handelns.