Читать книгу Also schrieb Friedrich Nietzsche: "Zuletzt wäre ich sehr viel lieber Basler Professor als Gott; aber ..." - Christian Drollner Georg - Страница 30
ОглавлениеIn der zweiten Maihälfte 1862, die Mutter war noch verreist, schrieb N an seine Tante Rosalie väterlicherseits in Naumburg:
Liebe Tante. Da mir die Mamma anbefohlen hat, mich, wenn ich irgend etwas brauche, an dich liebe Tante zu wenden, so schreib ich dir heute und schicke den Erziehungsbericht mit. Schenk [ein gelegentlich erwähnter und in Aktion tretender Pfarrersohn und Mitschüler Ns in Pforta] hat die Masern, wie seine Schwestern und liegt in einer Stube allein bei verhängten Fenstern. Er dauert mich sehr. Ich möchte ihm so gern etwas zur Beschäftigung und Amüsement schicken und weiß gar nicht was. Bücher kann er jetzt nicht lesen und Spiele für eine einzelne Person kenne ich auch nicht. Liebe Tante, erlaubst du vielleicht, dass ich dich nächsten Sonntag besuche, wofern es dir natürlich passt und nichts dazwischen kommt? Der Spaziergang [die Ausgangerlaubnis dazu] dauert von 4-6 Uhr. - Nun lebe recht wohl, liebe Tante! Wir wollen uns hoffentlich mündlich mehr sprechen! Dein dich herzlich liebender FWN (307)
In der Zeit vom 6. - 10. Juni 1862 schrieb er der derzeit bei Verwandten in Gorenzen weilenden Mutter:
Liebe Mamma! Ich will erst einige Zeilen vor Pfingsten schreiben und den Brief dann nach Pfingsten vollenden. Zuvor meinen herzlichen Dank für deine beiden [nicht erhalten gebliebenen] Briefe, nach denen ich mich schon lange gesehnt hatte. Es freut mich, dass es dir so wohl geht und ich kann dir glücklicher Weise dasselbe auch über mich melden. Was ich erlebt habe, ist eigentlich wenig, aber doch ganz angenehm. Zuerst Bergtag [ein traditioneller Feiertag in Pforta] und Fichtefeier [im Andenken an Johann Gottlieb Fichte, 1762-1814, einem deutschen Erzieher und Philosophen, Sohn eines armen Bandwebers, der Aufstieg zum wichtigsten Vertreter des philosophischen subjektiven Idealismus, einem erkenntnistheoretischen Standpunkt, für den „die Dinge“ vielfältige und doch einheitlich aufzufassende Vorstellungen darstellen, dass alles Sein also nur als Bewusstsein, als Wahrgenommenwerden anzuerkennen ist. Ein Kernsatz seiner Philosophie lautet: „Das Ich setzt sich selbst, und es ist, vermöge dieses bloßen Setzens durch sich selbst“ - eine Ansicht, die N ohne groß nachzudenken im Anspruch auf sein „Herrscheramt“ wesensmäßig ohnehin vertrat. Die Feier zu seinen Ehren fand in Pforta am 19. Mai 1862 zu dessen 100. Geburtstag statt] über die du schon das Wesentliche gelesen hast. Es regnete sehr gemütlich auf dem Berge, so dass ich nur sehr wenig getanzt habe [bei der Bergtagsfeier?]. Schulfest wie gewöhnlich. In dem Festaktus habe ich mein Gedicht „Ermanerichs Tod“ vorgetragen, das ich dir mitsenden würde, wenn ich Zeit zum Abschreiben hätte; es ist ziemlich lang.
10 Strophen zu je 16 Zeilen. Ein paar Zeilen aus dieser Gruselballade wurden bereits zitiert, doch muss die Dichtung des Ganzen schon etwas zurückliegen, denn bereits am 22. Mai hatte Wilhelm Pinder über dessen Folgen an N geschrieben:
….. ich will nicht viel Worte machen, bevor ich Dir nicht dasjenige genannt habe, was mich namentlich zu diesem Schreiben veranlasst hat, es ist nämlich - das allgemeine Entzücken in welches du Pforte durch dein Gedicht gesetzt hast. Glaube nicht etwa, dass ich übertreibe, ich berichte Dir ganz einfach das, was eine Dame ….. die Du 4mal zum Tanzen aufgefordert hast, die aber 4mal zu ihrem großen Leidwesen Dir dies hat abschlagen müssen, den staunenden Naumburgern erzählt hat. Du kannst Dir denken, dass ich durch die Ehren, die Dir zu Teil werden, mich selbst außerordentlich geehrt fühle, dass ich dadurch angespornt werde, den allerdings höchst törichten Versuch zu machen, Dir nachzueifern. Natürlich muss ich dies auf schönere Zeiten verschieben, denn die jetzigen [die so wenig angesehenen „Jetztzeitlichen“] sind so schrecklich fade und trotz aller Arbeit so fürchterlich langweilig, dass es geradezu ein Unding wäre, an irgend welche poetische Produktion zu denken. Hoffentlich werden die Pfingsttage und deine Anwesenheit mich einiger Maßen wieder gesund machen …..
Das Eigentliche, was die besagte Dame über Ns Vortrag des Ermanerichgedichtes in Naumburg verbreitet hatte, blieb ungesagt. Zurück aber, zu Ns Brief an seine Mutter: Zur Zeit der] Hundstage [die Zeit der heißen Sommertage vom 23. Juli bis zum 23. August] werde ich es mitbringen. Ich hatte als Zensur 2a darin, es war das beste eigene Gedicht in der Klasse. [Dass der schwülstige Stil dieses Gedichtes als das „beste in der Klasse“ gewürdigt wurde, wirft ein bezeichnendes Licht auf den Geschmack der Zeit und vielleicht auch des Ortes, bezüglich der Begeisterung in Pforta und Naumburg!]. - Zum Spaziergang war ich dann bei den Tanten in Naumburg ….. Abends habe ich wieder nur wenig getanzt.
Was dich noch interessieren könnte ist, dass ich in einer großen lateinischen Arbeit „Aus welchen Gründen Cicero ins Exil ging?“ die I als Zensur erhalte habe, ob ich gleich [im Vollzug seines allgemeinen Widerspruchs- und Umwertungsgeistes!] sehr stark Partei wider Cicero genommen hatte. [Marcellus Tullius Cicero, 106 - 43 v. C., war ein römischer Politiker, Anwalt, Schriftsteller und Philosoph und in der frühen Mitte des 1. Jahrhunderts v. C. der berühmteste Redner Roms und Konsul, einer der vielseitigsten Köpfe der römischen Antike. Er war streng republikanisch eingestellt, was für N ein wesentlicher Grund war, gegen ihn zu sein! Allein deshalb war nicht mit Ns Einverständnis zu dessen Entscheidungen zu rechnen, aber es bleibt erwähnenswert, wie früh und gern N dazu neigte, sich über den Widerspruch zu bestehenden Ansichten zu definieren!]. Eine I ist seit vielen Jahren bei Prof. Steinhart [Ns Lateinlehrer in Pforta] nicht vorgekommen [trug somit also zusätzlich den Adel des ästhetizistischen Seltenheitswertes!]; du kannst dir vorstellen, wie ich mich darüber freute. Voriges Jahr hatte ich um dieselbe Zeit bei Prof. Korssen eine I in der lateinischen Arbeit …..
Nach Pfingsten [8./9. Juni]. Ich habe ganz angenehme Tage verlebt; der erste Feiertag war enorm schwül und heiß, dass man kaum denken konnte: alles war sehr langweilig. Am zweiten fing es an zu rechter Zeit zu regnen; um ½12 ging ich nach Naumburg zur Tante Rosalie, wo ich zu Mittag speiste, - sehr gut - und Kaffee trank. Eine außerordentlich freundliche Aufnahme. Wir gingen zusammen unter fortwährendem Regen auf den Gottesacker, sahen da die Gräber an; dann zu den lieben Tanten hinaus, wo ich mich ziemlich lange aufgehalten habe und viel zusammen gesprochen. Am Abend aß ich wieder bei der Tante, ging dann in unser Logis und schlief ganz gut. Stand um 4 Uhr auf, spielte Klavier, trank Kaffee, wozu mir Fr. Lurchenstein [Lurgenstein, eine Nachbarin] Pfingstkuchen brachte. Ging dann zum Photographieren, bei dem ich mich tags zuvor angemeldet hatte, ließ mich photographieren. Scheint aber nicht besonders geworden zu sein, obgleich Henning [Ferdinand, ein Photograph in Naumburg] behauptete, dass alles sehr klar und deutlich sei usw, Die Stellung hat er angegeben; ist sie nicht besonders, so ist’s nicht meine Schuld. Hundstage bringe ich dir eine mit. - Dann begab ich mich zu Pinders, wo ich sehr freundlich empfangen wurde und mit Wilhelm [Pinder] und Gustav [Krug] angenehme Stunden verlebte. Alle erkundigten sich sehr nach dir und lassen Dich herzlich grüßen ….. Am Abend um 9 ging ich wieder heraus [nach Pforta], nachdem ich Nachmittags noch mit den Freunden [Wilhelm und Gustav] einen kleinen Spaziergang gemacht ….. (313)
Das ist einer der wenigen Briefe, in denen N etwas Gegenständliches schildert. Zwar redete er wieder nur von sich, andere kommen allenfalls dem Namen nach, aber nicht als Personen vor, - jedoch wird in diesem Brief etwas von seiner Art, zu erleben, zu erwähnen und für wichtig zu halten deutlich. Er schrieb der Mutter von seinem schlichten Ich, ohne von seinen so leicht für „philosophisch“ gehaltenen Problemen umrankt zu sein.
Gleich am nächsten Tag, am 11. Juni 1862 schrieb er der Tante Rosalie:
Liebe Tante! [Er sprach sie nicht mit Namen an, achtete aber - was er sonst selten tat! - darauf, Du, Dir und Dich in dem Brief an sie groß zu schreiben.] Ich ergreife die Gelegenheit, um Dir in einigen Worten meinen herzlichen Dank für Deine so freundliche und wirklich splendide [freigebige, großzügige, prächtige] Bewirtung auszusprechen. Ich habe mich wohl bei Dir gefühlt und so angenehme Stunden verlebt, dass ich jetzt noch sehr gern an den zweiten Pfingsttag zurückdenke, so ungünstig doch das Wetter war. In gleicher Weise war die Aufnahme bei Pinders eine im hohen Grade freundliche und liebevolle. Donnerstag wirst Du von dem Photographen die Visitenkarten bekommen; Du kannst es auch mit ihm gleich über den Preis abmachen. Er weiß, dass ich ein Pförtner bin und wie Mamma mir schreibt, zahlen Gymnasiasten bloß einen Taler. Du wählst Dir also die beste aus von den Visitenkarten und behältst außerdem noch zwei zurück. Die übrigen 3 holt Wilhelm von Dir ab, um sie mir Sonntag nach Almrich zu bringen. Im Logis [im Haus am Weingarten 18] fand ich alles ganz in Ordnung; Malchen [im brieflichen Namensregister ohne Erläuterung; wohl die derzeitige Dienstmagd der Mutter] zündete noch Licht an und besorgte Waschwasser. Wie ich den Tag verlebt habe, ganz angenehm, wie sich erwarten ließ, kannst Du aus meinem Brief an die Mamma ersehen ….. (316)
Für den 17. bis zum 24. Juni befand N sich laut Pfortaer Krankenbuch wieder einmal für immerhin 8 Tage, von einem Dienstag an, auf der „Krankelei“, ohne Hinweise darauf in Briefen. Diesmal nicht wegen angegebener Kopfschmerzen, sondern wegen „Katarrh“. J1.129 Der Katarrh, eine Schleimhautentzündung der Atmungsorgane und der Kopfschmerz hingen also nicht unmittelbar zusammen. Es gab das Eine auch ohne das Andere.
Am 24. Juni 1862 schrieb N an die Mutter, die noch bei ihrem Bruder Edmund in Gorenzen weilte, der dort Pfarrer war:
Liebe Mamma. Ich danke dir recht sehr für deinen Brief, der mich in große Freude versetzte. Die schöne [Ferien-]Zeit rückt nun immer näher heran [einige Pläne, wie Rügen, oder eine Harzreise mit Pinders hatten sich zerschlagen] Ich kann dir als bestimmt nur schreiben, dass ich Freitag [den 27. Juni] von Naumburg abreisen werden. Wenn der liebe Onkel mich in Eisleben [an der Gorenzen damals nächstgelegenen Bahnstation in gut 15 km Luftlinienentfernung] abholen will, wird es mich sehr freuen. Wenn das Wetter aber nicht anders wird als es jetzt ist, so fahre ich nach Mannsfeld [das in knapp 8 km Luftlinienentfernung zu Gorenzen liegt]. Die ersten Ferientage werde ich also in Naumburg verleben, da ich da doch mehreres zu tun habe und auch mit meinen Freunden ein wenig verkehren möchte. Ich freue mich sehr auf die Harzausflüge, von denen du schreibst. Wie hübsch, wenn wir mit meinen Freunden zusammentreffen könnten! (322)
Dazu kam es nicht. N blieb die Ferien über in Gorenzen hängen.
In einem an N ungewohnten, eigenartig krampfhaft aufgeräumt wirkenden, dabei aber angeberisch lässig-coolen Ton zu dem sich N wohl, wie dann 1865, als Antwort auf einen entsprechenden, in diesem Fall nicht überlieferten Brief herausgefordert fühlte, schrieb er am 28. Juli 1862 an einen nirgends verzeichneten Raimund Granier, einen wohl nicht sonderlich vertrauten Mitschüler in Pforta, der lt. Janz später Arzt wurde und an den zu Beginn des zweiten Studienjahres noch ein zweiter Brief in diesem Stil innerer Aufgeräumtheit, verbunden mit einem nicht zu übersehenden Imponiergehabe, erhalten blieb. Von diesem Raimund Granier an N ist ein Brief aus dem Jahr 1865 überliefert. Davon später. Vorerst schrieb N diesen völlig aus dem Rahmen fallenden Brief. Alle darin mehrfach aufeinanderfolgenden Punkte sind von ihm:
Sehen Sie einmal! Dank Ihrer ausgezeichneten Gedächtniskraft - nach ein paar Wochen der Trennung total vergessen, ersäuft im Meer neuer, anziehender Persönlichkeiten! Ich habe die Ehre, Ihnen brieflich zu melden, dass ich noch lebe. Sollten Sie sich an der Zugluft meines Briefes erkälten - bedaure sehr, aber Sie haben in Ihrem tiefinnerlichen Wesen Hitze genug, um diese schwarzen Zeilen weiß zu brennen. Sie würden sich mir übrigens sehr verbinden, wenn Sie nicht auf den alten, abgelebten Gäulen von Entschuldigungen vor mir Parade ritten, damit Sie ja nicht in ihrer Verlegenheit aus dem Sattel in den Schmutz fallen und mir letzteren ins Gesicht spritzen. Der Brief wäre eigentlich lang genug, um Ihnen die Langeweile der Ferien vorzustellen, die ich ohne Sie …. mein Gott, an welche Sie denken Sie denn? Ich meine eben Sie …. und ohne L. zugebracht habe; er wäre auch kurz genug, um Ihnen in Kürze gemeldet zu haben, dass Sie ein famoser, liebenswürdiger, gutmütiger, intelligenter junger Mann sind, der leider den Kopf verloren hat, wahrscheinlich im weiten Sack seines Herzens.
Das waren lauter um N selbst kreisende Bon-Mot-Effekte, mit denen er evtl. auf Inhalte eines Briefes von Raimund Granier eingegangen war; - oder auch nicht! Ab hier jedenfalls hatte er diesen Ton satt und es folgt eine Reihe relativ harmlos flacher Routinefragen, die es erlaubten, endlich vollumfänglich auf sich selbst zu sprechen zu kommen:
Fragen Sie mich, wohin ich gereist bin? Nach Gorenzen, mein Lieber, um dort Ihrer früh, Mittags und Abends in allen Gebeten zu gedenken. Fragen Sie, womit ich mich beschäftigt habe - mit Widerlegungen des Materialismus, [„eine philosophische Position, die alle Vorgänge und Phänomene der Welt [die Erscheinungen, alles, was sich den Sinnen zeigt] auf Materie und deren Gesetzmäßigkeiten und Verhältnisse zurückführt. Auf die Frage „Was ist?“ antwortet der Materialismus: Nur Materie. Der Materialismus geht also davon aus, dass auch Gedanken und Ideen [also auch Informationen!?] Erscheinungsformen der Materie sind bzw. auf solche zurückgeführt werden können. Er erklärt dem Menschen die ihn umgebende Welt und die in ihr ablaufenden Prozesse ohne geistige bzw. immaterielle Elemente, wie beispielsweise [das Leben und] Gott, dessen Existenz sich mit der Methodik der Naturwissenschaft, insbesondere dem Experiment, nicht überprüfen ….. lässt.“ Wikip.24.11.09 - Und dies wollte N „widerlegen“! - Ohne zu erklären womit, das heißt aufgrund welcher eigenen Erkenntnisse! - Das Widerlegen aber gehörte zu Ns „Rolle“ des die Welt zurechtrückenden „Denkers“, der in allem die besserwisserische „höchste Instanz“ darzustellen hatte! Der dazumal knapp 18-jährige N hatte also den einseitigen, bornierten Materialismus zu widerlegen:] während Sie an ihn [den Materialismus] zu glauben scheinen - Glauben Sie doch an ein Zusammenprallen der Geister, weshalb sie schwarze Herzensergüsse in Tintensaft nicht lieben, - außerdem mit dem Rousseau‘schen Emil [ein Bildungsroman „Emil oder Über die Erziehung“ des eben erwähnten Jean-Jacques Rousseau, 1712-1788, ein Genfer Schriftsteller, Philosoph, Pädagoge, Naturforscher, Komponist und - einer der wichtigsten geistigen Wegbereiter der Französischen Revolution. In dem zwischen 1759-1761 entstandenen Roman trat er dafür ein, Kinder und Jugendliche sich selbst und der Natur zu überlassen und von zivilisatorischen Einflüssen fernzuhalten. Zu Anwandlungen dieser Art neigte auch N in seinen idealistischen Erziehungsvorstellungen, gemäß seiner in „Fatum und Geschichte“ gerade erklärten Emerson-Überzeugung, wie sehr er sich da „von unsern ersten Tagen an eingeengt in das Joch der Gewohnheit und der Vorurteile, durch die Eindrücke unsrer Kindheit in der natürlichen Entwicklung unseres Geistes gehemmt und in der Bildung unsres Temperaments bestimmt“ fühlte und sah, ohne die daraus auch erwachsende Förderung zu erkennen!], von dem Sie etwas Natürlichkeit und Bildung lernen könnten, auch, dass man seine Versprechen halten müsse [ein wohl persönlicher Bezug]. Fragen Sie was ich komponiert habe? Ein Lied ohne Worte [in Anlehnung an Mendelssohn-Bartholdys 1832 entstandenen „Lieder ohne Worte“] auf Ihre Brief- und Gedankenlosigkeit - denn Worte blieben mir vor Langeweile im Halse stecken. Was ich gedichtet habe? Lieder, lauter Lieder [was direkt einmal der Wahrheit entsprach. N verschenkte seine Kompositionen jener Zeit in alle Richtungen, - vor allem an die Schwester, mit genauen erzieherischen Hinweisen, wie sie zu singen seien!] - aber nicht auf Sie, so hoch habe ich mich nicht verstiegen. Der Plan zu meiner widerwärtigen Novelle [von der N Granier also unmittelbar Kenntnis gegeben haben musste!] - ach Gott, Sie haben’s auch vergessen! Gleichviel! - habe ich, als ich das erste Kapitel geschrieben hatte, vor Ekel über Bord geworfen. Ich sende Ihnen des Monstrum-manuskript zum Gebrauch …… [wie in diesem angedeutet, „zum wischen“] nun, wie Sie wollen. Als ich’s geschrieben, schlug ich eine diabolische Lache auf [in der Art seines späteren „con canibalido“, dazu später, 1872, mehr] - Sie werden selbst schwerlich nach der Fortsetzung Appetit haben.
Außerdem folgen noch zwei Lieder, das erste eine Probe meiner Kirchenlieder, ein Genre, dessen Pflege sie [eigentlich wohl „Sie“?] bei mir schwerlich vermutet - und das andre, ein Stückchen Selbsterlebnis, wenn Sie’s glauben, worüber Sie - Dank ihrem natürlichen Geschmack - ein Gelächter erheben werden. Sonst verbleibe ich bis auf ein baldig Wiedersehen [in Pforta, zum kommenden Ferienende?] FWvNietzky (alias Muck) homme édtudié en lettres (votre ami san[s] lettres) (324)
Die letzten Worte dieses Briefes bedürfen einer nicht ganz einfach zu gebenden Erläuterung: Da ist erst einmal bedenkenswert, dass N sich bereits als Pfortaer Schüler dem Schulkameraden gegenüber mit einem angeblich wohl polnischen „Adelsnamen“ schmückte, den es laut dem polnischen Adelslexikon überhaupt nicht gab J1.27. 20 Jahre später, 1882, kam N auf diesen Namen zurück, nachdem er im August 1880 in stimmungsmäßig äußerst verwirrten und verwirrenden Umständen auf die unhaltbare „Wahrheit“ gebracht worden war, dass er, allein aufgrund seines Aussehens, von polnischen Edelleuten abstammen sollte. Davon zu gegebener Zeit mehr. Das „(alias Muck)“ ist ein Hinweis auf einen Übernamen, auf einen „Jemand“, der N neben seiner Pfortaer Schülerexistenz auch ist. Wer aber könnte „Muck“ sein? Gegoogelt ergibt „Muck“ seitenlang nichts als Zusammenhänge mit übelriechenden Düngemitteln.
Wikipedia verweist auf diverse Personen mit diesem Namen, von denen aber schwerlich für diesen Fall eine in Frage kommt. Bleibt nur der eventuelle Bezug auf das 1826 erschienene Märchen „Der kleine Muck“ von Dr. phil. Wilhelm Hauff, 1802-1827, einem deutschen Schriftsteller der Romantik, der N, wenn auch nicht nachweislich so doch bekannt gewesen sein dürfte, weil damals alle Welt dessen Geschichten und Märchen kannte.
Vielleicht aber ist aus der Originalhandschrift statt Muck „Murr“ zu lesen? - Das wäre die „Hauptperson“ in dem viel gelesenen Roman „Lebensansichten des Katers Murr, nebst fragmentarischer Biographie des Kapellmeisters Johann Kreisler in zufälligen Makulaturblättern“ aus den Jahren 1819 bis 1821 von dem außerordentlich vielseitigen deutschen Schriftsteller E.T.A. Hoffmann, 1776-1822, den N nachweislich kannte und dessen Auseinandersetzung mit der Zerrissenheiten des Künstlers gegenüber der bürgerlich gemütlichen Behaglichkeit N gewiss angesprochen haben wird. 1859 berichtete N seinem Freund Wilhelm Pinder ja sogar davon, wie er sich „nach der Anweisung des Kater Murr bemühe lateinisch zu denken.“ 6.2.59 In diesem Roman findet sich auch die Verbindung von Musik, Gemütlichkeit - derzeit Ns Lieblingswort und die Verbindung zu Ns nachfolgenden französischen Einsprengseln, denn Kater Murr „zieht sich schließlich in das friedvollere Dasein eines homme de lettres [eines Schriftstellers] zurück. Der Kater beschreibt mit besonderem Nachdruck seine Entwicklung zum Schriftsteller, was E.T.A. Hoffman hinreichend Gelegenheit zur kritischen und parodistischen Auseinandersetzung mit den verschiedenen literarischen Richtungen und kulturellen Bemühungen der zurückliegenden Jahrzehnte gibt.“ KLL7.973 So ist es in Kindlers Literaturlexikon angeführt.
Dass N sich den Alias-Namen des Katers Murr aus E.T.A. Hoffmanns Spott auf die Bürgerwelt zulegte ergab Ns Wesen gemäß durchaus Sinn und passte genau zu dem, was er in ein - allerdings fehlerhaftes! - Französisch gesetzt, dem gesiezten, also nicht sehr nahe gekommenen Freund folgen ließ: „homme édtudié en lettres“, was wohl so viel heißen sollte, wie studierter, oder gelehrter, jedenfalls nicht nur einfacher, allerweltsmäßiger „Schriftsteller“, auf N bezogen natürlich, aber mit dem „en“ gleich „in“ insofern als falsch gelten muss, weil es das „en“ in Verbindung mit „lettres“ im Französischen nicht gibt; es sei denn, N wollte eigenmächtig und ganz bestimmt zum Ausdruck bringen, dass er „in Sachen Buchstaben“ ein besonders Studierter sei. Und dazu dann die dem sonstigen Brief entsprechende Wortspielerei „(votre ami san[s] lettres)“, was mit dem Fehler, das „s“ vergessen zu haben, übersetzt so viel heißen sollte als: Ihr briefloser Freund.
Danach reizte es N, sich vor dem „Kollegen“ d.h. Mitschüler noch ein wenig zu spreizen. Er schickte ihm das erwähnte „Kirchenlied“ und das „Stückchen Selbsterlebnis“, welche beide „innerlich“ sonderbar zusammenhanglos zu den vor kurzem doch noch so wichtig genommenen Jugendaufsätzen über „Fatum, Geschichte und Willensfreiheit“ wirken:
Du hast gerufen: Herr, ich eile Und weile An deines Thrones Stufen. Von Lieb entglommen Strahlt mir so herzlich, schmerzlich Dein Blick ins Herz ein: Herr ich komme.
Ich war verloren, Taumeltrunken, Versunken, Zur Höll’ und Qual erkoren [eine durchaus sonderbare Anwendung dieses Wortes in diesem Zusammenhang! Es zählte aber wohl, dass er „erkoren“ wäre! - Oder war es nur der Reim-dich-oder-ich-fress-dich-Widerklang auf „verloren“?] Du standst von ferne: Dein Blick unsäglich Beweglich Traf mich so oft: nun komm’ ich gerne.
Ich fühl ein Grauen Vor der Sünden Nachtgründen Und mag nicht rückwärts schauen. Kann dich nicht lassen. In Nächten schaurig, Traurig Seh’ ich auf dich und muss dich fassen.
Du bist so milde, Treu und innig, Herzensminnig, Lieb Sünderheilandsbilde! Still mein Verlangen, Mein Sinn’n und Denken zu senken In deine Lieb, an dir zu hangen. -
Das klingt als käme es aus der ungetrübten und nicht zu erschütternden Gläubigkeit seines Herkommens und es hätte die Emerson-Infektion nicht gegeben. Dass die beiden „Strömungen“ konfliktfrei nebeneinander her bestehen konnten verrät eine Unbeteiligtheit sowohl von der einen als auch der anderen Seite; - und als hätte er noch keinen Blick hinter die Kulissen seines angestammten Glaubens getan. Vielleicht steckt aber auch eine gehörige Portion Bosheit in dem gekonnten Umgang mit alten Formen und Sprüchen, - als eine N-typische „Auseinandersetzung“ mit dem, was er glauben sollte aber nicht mehr konnte? Offensichtlich aber ohne dabei über diese Zusammenhänge nachzudenken und das Gesamte in einen logischen Zusammenhang zu bringen.
Darauf folgt u.a. das romantische „Selbsterlebnis“ im schwülen Schmoren weltschmerzlich sündiger Sehnsüchtigkeit:
Schweifen, o Schweifen! Schweifen o Schweifen Frei durch die Welt so weit Mit grünen Schleifen an Hut und Kleid. Schwing ich das Glöcklein, Klingt es so lieb, so lind. Es flattern die Löcklein Um mich im Wind. Sehn mich die Rehe So herzig an im Wald, Wird mir so wehe, Vergess’ es doch bald. Blühet ein Röslein Duftig im Haidegras, Küss’ ich das Röslein Und wein etwas. Lustig, wie Wind zieht, Streift durch das Herz ein Traum, Fällt eine Lindblüt Herab vom Baum. Schweifen o Schweifen Frei durch die Welt so weit Mit grünen Schleifen an Hut und Kleid! -
Das brannte und genoss sich in unstillbarer Sehnsucht, - vor allem nach superlativer Ungebundenheit, was zugleich aber heißt, dass es N im Maß seiner Sehnsucht vor jeder Art von Verpflichtetsein - nicht aber vor derart holprigen Versen? - zu grausen schien. Diese Dichterei folgte nicht dem Prinzip des Empfundenen, sondern des Gewollten, denn alles war gewaltsam aufeinander hingetrimmt. Und wieder gab es, außer den so herzig - aber auf ihn! - blickenden Rehen im Wald, niemanden außer ihm selber, der seine Freude daran hatte, dass sich alles um ihn selbst herum in Bewegung hielt.
Wie ging das an? Der junge Mann stand im 18. Lebensjahr, gebildet, weit überdurchschnittlich geschult in Griechisch, Latein und hatte damit jahrelang durchaus nicht immer nur eng christlich orientierte Weisheiten in sich aufgenommen! Wie hat N den hier geleisteten „ungeistigen“ Spagat, der ein recht hohes Maß an Unreife verrät, zwischen zwei sich so sehr widersprechenden Welten fertig gebracht? Ohne alarmierende Anzeichen dafür, dass da entsprechende Spannungen hätten entstanden sein müssen? Vielleicht erklärt sich das relativ einfach: Dass nämlich das Erlebnis und die Erkenntnis aus Emerson sich einfach auf einer ganz anderen Ebene seiner Persönlichkeit abgespielt hat, das heißt „erlebt“ worden ist und ihm „an und in ihm selbst“ etwas erklärt hat, was ihm bislang zwar fragwürdig erschien, sich aber mit dem sonstigen Bereich seiner Erlebnisweisen noch nicht konfliktweise berührte, sondern, wie zu erkennen, friedlich und problemlos nebeneinander her ging, wie zukünftig die logischen Widersprüchlichkeiten zwischen Ns überaus ausgeprägter Kritik-Fähigkeit an „den Anderen“ neben seinen völlig selbstkritiklos behandelten Ideen zu für ihn so wichtigen Einfällen, wie die „Ewige Wiederkehr“ und die „Züchtung des Übermenschen“ und seinem ansonsten vielseitig ungetrübt gepflegten Zweierleimaß in vielen Dingen.
Am 28. Juni 1862 schrieb N aus Gorenzen u. a. auch der Schwester nach Dresden:
Liebe Lisbeth! ….. Ich weiß nicht, ob ich dir schon von unsrer Kyffhäuserpartie schrieb [mit Tatsachen und Sagen um das Harzer Bergmassiv dieses Namens, in dem verborgen ein alter deutscher Kaiser säße und seiner glorreichen Wiederkunft in einem noch einmal golden zu nennenden Zeitalter Jahrhundert um Jahrhundert entgegenträumt]; gleichviel, sie war niedlich [freundliche Gefühle erweckend?]. Viel erlebt habe ich hier überhaupt nicht, ohne mich dabei gelangweilt zu haben [als ein Ausdruck des allgegenwärtig praktizierten Ungenügens am Tatsächlichen, das seinem nie versiegenden Generalantrieb zu romantischer Sehnsucht nach dem entsprang, was nicht ist, aber als besser und zufriedenstellender erwartet wurde!]. Mamma wird dir schon alles mitteilen [da delegierte er, was ihm lästig war, nämlich etwas verständlich und unterhaltsam, positiv darzustellen!]. Wir sind viel spazieren gegangen - wie du wahrscheinlich auch bei dem schönen Wetter. Ich habe viel Klavier gespielt, wie du wahrscheinlich auch bei deiner neuen Lehrerin; ich schicke dir nächstens ein paar leichte Kompositionen von mir [div. ziemlich neu komponierte Lieder] ….. Die fertigen Stücke sind: Heldenklage, Nachts auf der Heide, Heideschenke, Zigeunertanz, Heimweh usw. Auch gedichtet habe ich. Wenn du wieder kommst, habe ich dir manches zu zeigen.
Denk Dir, neulich ist hier der Onkel von einem Zimmermeister um eine Richtrede [nach fertig gestelltem Dachstuhl!] gebeten worden; da habe ich denn ein [nicht erhalten gebliebenes] Richtgedicht gemacht, woran jetzt der Meister fleißig büffelt. Nun sind die lieben Ferien bald wieder vorüber - heute geht in Naumburg das Kirschfest an. Ich möchte ganz gern da sein. Meine Freunde habe ich die Ferien [über] gar nicht genossen. Wir haben sie mehrere Tage in Gorenzen erwartet, sie machten nämlich eine Harzreise und Wilhelm schrieb, das sie durchkommen würden. Sie kamen aber nicht. - Wenn du nur erst nach Naumburg kommst, das wird famos. Wir leben hier gar nicht mehr recht in der Gegenwart, besonders im Bezug auf die Zukünftigkeit des Onkel Edmund. Ich phantasiere öfters abends auf dem Klavier über derartige, nicht zu ferne Ereignisse, wobei sich Onkel und Mamma mit der Deutung abplagen [was so viel heißt, das N bei seinem musikalischen „Phantasieren“ etwas sehr anderes empfand, als herauszuhören gewesen ist, - was für N in späteren Jahren zu einigen kompositorischen Irritationen führte.] Im Ganzen sind wir sehr lustig und vergnügt und denken oft an dich. Nun hoffe ich aber auch, dass du bald etwas Genaues von dir hören lässt. Denn neugierig sind wir nun einmal! Nämlich ich, Dein Fritz. (325)
Im Pfortaer Krankenbuch findet sich für den 16. bis 25. August 1862 der Eintrag, dass N wegen „Congestionen nach dem Kopfe“, also unter der neuen, Emerson-nahen Bezeichnung, auf der Krankenstube gelegen habe, mit der Bemerkung: „N wurde zur weiteren Kur nach Hause entlassen. Er ist ein vollsaftiger, gedrungener Mensch mit einem auffallend stieren Blick, kurzsichtig und oft von wanderndem Kopfweh geplagt. Sein Vater starb jung an Gehirnerweichung und [dies war bezogen auf Ns Vater, der] war in hohem Alter gezeugt; der Sohn [N war gezeugt] in der Zeit wo der Vater schon krank war. Noch sind keine schweren Zeichen sichtbar, wohl aber Rücksicht auf die Antezedenzien [auf das Vorangegangene als Gründe und Ursachen] nötig.“ J1.129
Am Tage der „Entlassung zur weiteren Kur nach Hause“, am 25. August 1862, schrieb N an die Mutter, die zu der Zeit im etwa 40 Kilometer entfernten Merseburg weilte:
Liebe Mamma! ….. Leider Gottes bin ich jetzt wieder einmal von meinen fatalen [vom Schicksal bestimmten; - sehr unangenehmen und peinlichen] Kopfschmerzen heimgesucht und befinde mich deshalb schon seit einer Woche auf der Krankenstube. Der Herr Doktor hat mir heute also geraten und erlaubt, nach Naumburg zu reisen [was ein seltsamer Ausdruck für einen Fußweg von knapp 5 Kilometern war!] und dort meine Wasser- und Spaziergehekur [nach altem mütterlichen Hausrezept!] vorzunehmen. Ich gehe also heute, Montag Mittag, nach Naumburg und wohne in unserm Logis, um dort ein ganz stilles Leben ohne alle Musik und sonstige Aufregung zu führen. Herr Doktor hat mir die nötigen Diätvorschriften gegeben, Du brauchst also in keiner Weise Sorge für mich zu haben und auch keineswegs von Merseburg, wo du sicherlich sehr nötig bist, fortzureisen. Vielleicht ist gerade ein Leben, das ich ganz allein führe, für mich das allerbeste [da ist bereits die Einsamkeit, die absolute Bezogenheit auf sich selbst als ein Allheilmittel institutionalisiert!]. Also bitte, ängstige dich nicht, liebe Mamma, wenn ich alles vermeide, was mich aufregen kann, [aber was alles konnte ihn so „aufregen“, dass es zu den Kopfschmerzen kam? - Die kamen doch so unberechenbar und ungerufen von innen! - dann: Er hat es aber nie erfahren wieso!] werden ja die Kopfschmerzen schwinden, aber ich denke jetzt etwas länger fortzubleiben, damit womöglich ich sie mit Stumpf und Stil ausrotte [was den damaligen medizinischen Vorstellungen entsprochen haben mag, aber ohne Kenntnis um die wahren Ursachen dieser „Kopfschmerzen“ auf der einen und den „Aufregungen“ auf der anderen Seite und ohne auf eine medizinisch bewährte Therapie gründen zu können, war das nach unseren heutigen Vorstellungen eine gewagte Hoffnung, die sich entfernt nicht erfüllen sollte!] ….. Meine Lebensweise wird die Sache der Tante Rosalie sein, ich trinke übrigens Bitterwasser und ein Kühlungspulver; das Unangenehmste ist mir die häufige Aufregung, in die ich gerate. - (331)
Drei Mal wird in diesem Brief Ns an die Mutter kurz hintereinander das Wort „Aufregung“ beziehungsweise „aufregen“ genannt. Ganz offensichtlich kam diesen „Aufregungen“ im erörterten Zusammenhang eine zentrale Bedeutung zu. N neigte dazu, „häufig in Aufregung zu geraten“; - was ja kein so ganz „normal“ zu nennender Vorgang gewesen sein dürfte! - Jedenfalls wurde nicht jeder Andere von dergleichen derart empfindlich „gestört“ und aus der Bahn geworfen. Es ging, wie Ns Darstellung zu entnehmen ist, zum Einen darum, Anlässe für „Aufregungen“ zu vermeiden und doch waren - andererseits! - diese „Aufregungen“, in die er geriet, unvorhersehbar: Das verrät die ja nicht zufällig, sondern aufgrund der Erlebnisart gewählte Formulierung „das Unangenehmste ist mir die häufige Aufregung, in die ich gerate“, - einfach so, ohne bestimmen oder auch nur angeben zu können, wie, wodurch und weshalb sie jeweils als „unangenehmst“ empfunden wurden! Es waren aber diese „Aufregungen“, in die N geriet, welche auch in seinem Verhältnis zu Emerson eine nicht unerhebliche Rolle spielten!
Um was für „Aufregungen“ könnte es sich gehandelt haben? Sie hingen mit den ebenso unvorhersehbar auftretenden Kopfschmerzen auf unbestimmte Weise zusammen, so viel war und ist klar. Aber sie traten auch unabhängig von diesen, eben „häufig“ auf, - öfter als die Kopfschmerzanfälle! Nicht nur aufgrund von äußeren Einflüssen, wie dem Musikmachen oder nur -hören, - was es ohne welche zu machen damals, in Zeiten ohne Grammophon, CD und MP3-Player usw. so gut wie nicht gab. „Ein ganz stilles Leben ohne alle Musik und sonstige Aufregung“ wollte er führen; mit den „nötigen Diätvorschriften“ und einer „Wasser und Spaziergehkur“, dabei völlig im Unklaren darüber, was die Gründe waren, die ihn dazu zwangen. Die „Aufregungen“, in die er geriet, hingen erlebnismäßig außer mit den Kopfschmerzen auch mit dem zusammen, für das er eigentlich bei Emerson bis zu einem gewissen Grad Rat und Trost gefunden hatte: In den „besonderen“ und als „eigentliche“ Lebens-Momente nämlich erlebten, nicht nur als „unangenehmst“, sondern auch als ungeheure, offenbarungsähnliche „Allzusammenklänge“, als Auflösung der in der Welt vorhandenen Widersprüche und als beglückende Ausnahme und Besonderheit, - was alles zusammengenommen, ohne die ab und an bis zur Unerträglichkeit anwachsenden Kopfschmerzanfälle und den Ekel beim Wiedereintritt in die wahrzunehmende Realität, eigentlich - als Kehrseite der Medaille? - zu ertragen gewesen wäre.
Es gibt weder vom Patienten noch von zugezogenen Ärzten eindeutige Aussagen über Ns Leiden - zu den Symptomen so wenig wie zu den Ursachen! - weil - verglichen mit dem heutigen medizinischen Wissensstand! - aus summarischer Unkenntnis heraus keine gezielte Differentialdiagnose erarbeitet werden konnte. Daran ist nichts mehr zu ändern. Festzustehen scheint nur, dass N Erlebnissen und Einflüssen ausgesetzt war, die von ihm - dank Emerson! - auf vollkommen unrealistische Weise gedeutet wurden! Und weil an seinem Zustand - oder an seinen immer wiederkehrenden „Zuständen“! - nichts „zu machen“ war, hatte er sein Leben lang an diesen auf schlimme Weise zu leiden. Dass er diese „Zustände“ - sich zum Trost verständlicherweise und weil das in den Bedürfnissen seiner Natur verankert war! - auf so verhängnisvoll „aristokratische“ Weise zurechtinterpretierte, und vor sich selbst durch ein „in dieser Welt herrschendes Zweierlei-Maß-Prinzip“ zu rechtfertigen versuchte, unterlag er - letztlich aus Krankheitsgründen heraus! - einem „philosophischen“ Wahn und musste sich - und der ganzen Welt! - diesen als „Sinn der Welt“ beweisen, um vor sich selber unbeschadet bestehen zu können.
Ns hier schon bestimmend wirkender „Ritter-Tod-und-Teufels-mäßiger“ Ernst - Erklärungen dazu später - zeigte sich auch bei seinem Germania-Spiel mit den Freunden, - besonders eindringlich in einem am 22. September 1862 verfassten „Bericht“ mit dem Titel „Chronik der Germania“. Da heißt es
Wenn das vorige Quartal [April bis Juni] eine große Regsamkeit der Germaniamitglieder zeigte, die schließlich in einem höchst interessanten Konvente gipfelte [in einer Zusammenkunft, Versammlung insbesondere von Mitgliedern eines Klosters. Dieser klösterliche Ernst des Germania-Spiels sollte für N noch in den 1870-er Jahren Bedeutung haben!], wenn wir deshalb am 14. April dieses Jahres mit Berechtigung die Hoffnung aussprachen, dass die eifrige Tätigkeit oder vielmehr der tätige Eifer, mit dem wir unsere Germania auszubilden und zu erweitern suchten, allmählich die Exklusivität der bisherigen Leistungen [was auch damals schon ein wesentliches Merkmal im Germania-Spiel war] verschwinden lassen werde, so geschah dies mit spezieller Bezugnahme auf die Politik und neuere Geschichte und sodann namentlich auf die bisher nicht berücksichtigten Künste [bei wackliger Logik innerhalb des Satzgefüges!].
Seit dem April sind nun fünf Monate verflossen, deren Resultate für die Germania durchaus ungünstig sind. Sei es, dass die Verhältnisse dagegen wirkten - denn man weiß, wie Schularbeiten, Tanzstunden, Herzenssachen, politische Aufregungen usw. [was mehr für die Freunde im „freien“ Naumburg, als für N in den engen Schranken von Schulpforta galt] die leichten Verhaue unserer Germania-Statuten niederwerfen - sei es auch, dass wir nur einem Gesetz der historischen Notwendigkeit unterliegen, dem der Reaktion nach einer starken Regsamkeit (unsern Freund [Wilhelm] Pinder nehme ich aus, der dies als unchristlich verdammt und prinzipiell Schulzwang vorwälzt.), sei dem nun wie ihm wolle, die Tatsache steht fest, dass ein Verfassungsbruch geschehen ist [in Bezug auf die nicht pünktlich eingereichten Pflichteinsendungen von Pflichtproduktionen!], dass [was für Worte dafür!] die Heiligkeit der Statuten [so ernst war es N damit!] verletzt, dass die Germania in innerer Zerstreuung, Zerrissenheit und Apathie [Teilnahmslosigkeit, Abgestumpftheit] fast [und nun kam eine beliebte Formulierung Ns:] zu Grunde gegangen wäre. Finanzielle Indifferenzen [Gleichgültigkeiten, Uninteressiertheiten, - wegen der statutenwidrigen Anschaffung eines Klavierauszuges von »Tristan und Isolde« statt eines eigentlich fällig gewesen Buches durch Gustav Krug] und Ungesetzlichkeiten charakterisieren den Anfang dieser Periode - [und nun steigerte sich N noch weiter in seiner Darstellung einer ernsthaften Bedrohungslage für sein Germania-Spiel!] - wie alle großen [weltgeschichtlich gemeinten?] Brüche mit der Vergangenheit [und damit wird er daran gedacht haben, wie gewaltig ihm Emerson solche ausgemalt hatte], Reformation und Revolution [an deren Vorabend in Frankreich ein Skandal um ein als Bestechungsversuch geltendes teures Halsgeschmeide für die Königin Marie-Antoinette gestanden hatte] mit einem Finanzschwindel sich ankündigten. -
Ein Zeichen aber für die noch gesunde Natürlichkeit unserer Germania scheint mir in dem jetzt allseitig erwachenden Bewusstsein zu liegen, dass wir sämtlich gesündigt [im Gebrauch solcher Worte offenbarte sich Ns verhängnisvolle Neigung zu Sitten- und Regel-Strenge!] und in der Gegenwart für eine [in hauptsächlich seinem Sinn gelegene] doppelt gesteigerte Tätigkeit und Regsamkeit Sorge zu tragen haben. Dies Bewusstsein möge uns bei der heutigen Regenerierung [Erneuerung] unserer Germania leiten und uns zu einer inneren Kräftigung derselben die passenden Mittel in die Hand geben.
Unsre heutige Tätigkeit wird sich deshalb vorzüglich auf folgende Punkte konzentrieren müssen:
1. Wie kann und bis wann muss ein jeder seine noch fehlenden Einsendungen nachliefern?
2. Wie beseitigen wir unsre finanzielle Not und wie regulieren wir unsre Einkaufsstatuten?
3. Wie ordnen wir überhaupt unsre Statuten, um Überschreitungen, wie die vorliegenden unmöglich zu machen?
4. Durch welches Mittel werden wir am meisten zu eifriger Tätigkeit angeregt?
Ich erlaube mir, eine kurze Beantwortung dieser Fragen Ihnen vorzulegen.
Zuerst nun muss [damit Ns Welt nicht ins Chaos geriet!] ein jeder seine bisherigen Einsendungen zählen und nachsehen, wie viele noch von 25 gesetzlichen Einsendungen fehlen. Dazu wird es nötig sein, dass einer mit möglichster Sorgfalt eine Liste sämtlicher Lieferungen veranstaltet und den betreffenden Monat zu jeder Einsendung bemerkt. Von der Zahl der fehlenden Lieferungen und den Erklärungen des betreffenden Mitglieds wird es abhängen, bis zu welcher Zeit er alles nachliefern und ergänzen wolle. Sind diese Erklärungen gegeben und schriftlich konstatiert, so beantrage ich ein allgemeines Amnestie-Gesetz für die einzelnen Mitglieder. Schließlich versichert [N, der] Verfasser, nachweisen zu können, dass von ihm [der während seiner schulfreien Spaziergehkur wohl ausreichend Zeit dazu gefunden hatte] sämtliche 25 Aufsätze, Gedichte und Kompositionen geliefert oder vielmehr wenigstens zur Abschreibung oder Ablieferung vorrätig liegen. Seine Vergehen beziehen sich mehr auf das pekuniäre Gebiet.
Von Gustav Krug liegen mir etwa elf musikalische Einsendungen und etwa sieben Gedichte und Aufsätze vor; ich verbürge mich indes nicht für die Richtigkeit dieser Zahlen, ebensowenig bei Wilhelm Pinder, wo ich mich etwa nur an 16 Aufsätze und Gedichte erinnern kann.
Unsre finanziellen Nöte schreiben sich insbesondere von der Anschaffung Tristans und Isoldens von R. Wagner her, die auf Antrag G. Krugs erfolgt ist. Wie er sich selbst erboten hat, verzichtet er auf die nächsten Anrechte des Neuankaufs, und ich bitte ihn, sich darüber genau und schriftlich zu erklären. Sodann fehlen noch die Geldbeiträge einiger Mitglieder seit einiger Zeit, zu denen sich Verfasser selbst bekennt; zu loben für im allgemeinen pünktliche Bezahlung ist Mitglied G. Krug. Ich veranlasse die einzelnen, die Termine zu bestimmen, bis zu denen alles Fehlende nachgeliefert ist. Schließlich fordere ich den Kassenrendanten [Rechnungsführer in großen Kirchengemeinden bzw. Gemeindeverbänden] auf, die Verwaltung des Germaniavermögens in dieser Chronik zu fixieren und Ausgaben und Einnahmen bis aufs genauste zu berechnen.
Über den dritten Punkt, die Ordnung der Statuten, erwarte ich einen Antrag eines Mitgliedes, an den wir die Diskussion anschließen wollen. Es bleibt noch übrig, meinen schon gemachten Vorschlag zu einem Preisthema als besonderes Anregungsmittel der einzelnen Mitglieder allseitig zu genehmigen und die bestimmten Termine schriftlich niederzulegen. Zum Schluss erlaube ich mir noch die Bitte, das Amt eines Chronisten auch noch bis Weihnachten fortzuführen, indem ich bis jetzt keine Tätigkeit in dieser Beziehung entwickeln konnte. Ich werde Weihnachten in meiner Überschau über die Leistungen des vergangenen Jahres wieder an unsre Ostersynode anknüpfen und die bis dahin nachgelieferten Einsendungen den Monaten nach besprechen.
Ich endige mit dem Wunsch, dass unsre heutige improvisierte Synode nicht nur eine Luftblase sein möge, die aus der Verdumpfung und Versumpfung unsrer Germania aufsteigt, sondern ein entschiedener Reinigungsprozess, eine Scheidung alles Faulen und Verderblichen, eine Läuterung der reinen und edlen Bestandteile, auf denen sie gegründet ist. FWN, Chronist BAW.90f
Das war Ns deutsch, bierernst, sündenfrei und „herrscheramtlich“ fanatisch mit aller nur möglichen bürokratischen Rückversicherung durchgezogenes „Schulgesetz“ in Sachen „Germania“! - So sollte es seiner Vorstellung nach sein und so allein war es gut zu nennen. -
In den Herbstferien dieses Jahres beschäftigte sich N auf Anregung von Gustav Krug und mit diesem zusammen mit dem Klavierauszug von Richard Wagners „Tristan und Isolde“. J1.92 Für N war diese Oper die erste Begegnung mit damals moderner Musik, mit Musik außerhalb seiner „Kinderwelt“ von Robert Schumann (1810-1856), Franz Schubert (1797-1828), den älteren Wiener Klassikern und deren Vorläufern in deren Welt er bisher lebte. Die Musik Richard Wagners wurde von N nicht aus wirklich eigenem musikalischem Antrieb als etwas Neues entdeckt. Später sielte für ihn das exotisch Umstrittene, irgendwie Ruchlose, das Wagners Ruf anhaftete, eine nicht unwesentliche - dazu vom Widerspruch gegen alles Nicht-Wagner‘sche verstärkte! - Rolle. Doch davon später mehr.
Am 25. September 1862 schrieb N an die Mutter und die inzwischen aus Dresden zurückgekehrte Schwester nach Naumburg:
Liebe Mamma. Bloß zur Nachricht, dass ich Primaner und Primus bin [es waren von nun an - mit Unter- und Oberprima - nur noch zwei Jahre bis zum Abitur!], also hoffentlich nach Eurem Wunsch und meiner Erwartung ….. Ich bin nicht gerade frei von Kopfschmerzen, wohl eine Folge des Umzugs in eine andre Stube und der damit verbundenen Aufregung [in der Auseinandersetzung mit der Realität der Umstände! - und in Unkenntnis der wahren Gründe wurden immer sich bietende Veränderungen als Ursachen genommen!]. Staub und Schmutz zum Ersticken! sendet mir sogleich den Schlüssel, der der meinige ist (den ich nämlich aus Pforta mitgebracht und wieder dahin mitgenommen.) Ich weiß nicht recht, wie ihr mir ihn zu schicken vergessen habt. Nun lebe recht schön wohl, liebe Mamma und du liebe Lisbeth und du, lieber Onkel, wenn du nämlich noch in Naumburg bist. Wir werden uns also morgen über 8 Tage sehen. Ich bin noch gar nicht eingerichtet und Wäsche, Kämme und vieles andre fehlen mir. Dein Fritz (333)
Vier Tage später, am Montag, den 29. September, schrieb N wieder nach Hause, in einem deutlich freieren, bestimmteren und auch bestimmenderen Ton als sonst - weil er meinte, der stünde ihm als Primaner zu? - :
Liebe Mamma! Immer habe ich auf einen Brief gewartet, worin ich wenigstens ein paar Glückwunschworte zu finden hoffte. Besonders Sonnabend, da ihr doch wusstet, wann die Versetzung (nach Unterprima!) sein würde. Es geht mir als Primaner ganz wohl, man genießt [dem „Herrscheramt“ etwas näher gerückt!] seine vielen Vorrechte mit Wohlbehagen [was unbedingt zu betonen war!]. Genug, ich komme Freitag Sonnabend und Sonntag in die Ferien zu Euch, da wollen wir mehr davon sprechen. Tut mir nun den einzigen Gefallen und arrangiert jenen Thee dans [Tanztee]. von dem wir so viel geredet. Seinetwegen komme ich hauptsächlich, also etwa Sonnabend Abend müsste er sein. Ihr wisst, wen ich eingeladen wünsche [typischerweise ohne sich die Mühe zu näheren Angaben zu machen!]. Sorgt, dass nichts abgeschlagen wird. -
Nun sendet mir so schnell wie möglich die Kiste mit folgendem: Stiefeln, Kämme (ich bin in schrecklicher Unannehmlichkeit, da ich mir immer fremde Kämme borgen muss) Weste und vor allem Geld, sehr viel Geld [wo immer die Mutter es hernehmen sollte!], bedenkt, was ich als neuer Primaner alles zu zahlen habe, welche Fässchen-, Hilfs-, Flotten-, Klassengelder, sodann dass ich auch in Almrich Geld brauche, um nicht sobald mit dem Anschreiben anzufangen. Also 2 Taler aller-aller-mindestens. Habe ich denn nicht irgendwelche reiche Verwandte, die mich in meinem Primanertum mit den nötigen Geldern versehen? -
Also bitte, recht bald, ich erwarte Dienstag früh die Kiste. Freitag auf Wiedersehen, ich freue mich entsetzlich darauf. Ich arbeite con amore d.h. mit Lust und gemächlich, ohne mich zu sehr anzustrengen und indem ich mir immer die nötigen Erholungen gönne [zur Vermeidung jedweder „Aufregungen“, wegen der überall lauernden Kopfschmerzgefahren!]. In Almrich spiele ich Billard, das amüsiert mich. Meine Kopfschmerzen sind sehr selten, aber sie kommen noch. Ich schlafe jetzt besser ….. Eine ganz gräuliche Verlegenheit ist es, keine reinen Strümpfe mehr zu haben. Sendet mir schleunigst reine, weiße, denn blaue kann ich bei meinen kurzen Stiefeln und weißen Hosen nicht anziehen. -
Es drehte sich alles unverändert unmittelbar um ihn. In seinen Briefen gibt es selten etwas, was außerhalb seiner selbst in den Bereich seiner Wahrnehmung geraten wäre. Der Brief zeigt auch, wie weit N von einem realistischen Verhältnis zum Geld - das da zu sein hatte, wenn er es brauchte! - entfernt gewesen ist.
6. Oktober 1862 schrieb Ns Tutor Max Heinze den Erziehungsbericht an Ns Mutter Franziska:
Hochgeehrte Frau, hiermit übersende ich Ihnen die Zensur Ihres Sohnes aus dem vergangenen halben Jahr. - Seine Strebsamkeit und sein Eifer vorwärts zu kommen wird anerkannt, auch hat er recht löbliche Fortschritte gemacht. Gebe Gott nur, dass es ihm wegen seiner Gesundheit erlaubt ist, in derselben Weise fortzuschreiten. - Über sein Betragen kann auch in keiner Weise geklagt werden, nur hat er einige kleinere Unordnungen vorkommen lassen; fast ist er ganz tadelfrei. - Von verschiedenen Seiten wird ihm eine gewisse Eitelkeit vorgeworfen und ich kann diesen Vorwurf nicht völlig dementieren. Jedenfalls muss man Alles vermeiden, was dieses Selbstgefühl noch steigern könnte. Seinen früheren Platz als Primus der Ordnung hat er wieder eingenommen, da der Hauptgrund, weshalb man ihn nicht zum Primus gemacht hatte, jetzt in der neuen Klasse wegfällt. - Ich ergreife die Gelegenheit um Ihnen, hochverehrte Frau, meine größte Hochachtung zu versichern und zeichne Ew. wohlgeboren ganz ergebener Heinze [der seit August des vorigen Jahres - nach Professor Buddensiegs Tod - Ns Tutor war].
Die Versetzung war erfolgt, der zu Hause anbefohlene Tanztee vorüber und der November angebrochen. Da gab es Ärger mit einem neu zu erfüllenden Amt als Primaner. Unmittelbare Nachrichten dazu ergeben sich aus Briefen. Was die Schwester in ihren Bruderbiographien nachträglich dazu beisteuerte ist zu geschönt, um wirklich brauchbar-verlässlich zu sein. Der erste dazu erhaltene Brief stammt von N selbst. Er schrieb am Donnerstag, den 10. November 1862, am Martinstag, an die Mutter und Schwester in noch forscherem Ton als zuletzt und ohne die geringste Einsicht in das, was wirklich vorgefallen war; - das Ganze so weit als möglich herunterspielend:
Liebe Leute! Es tut mir leid, dass ich euch gestern [am Mittwoch] nicht in Almrich treffen konnte; ich war aber verhindert, insofern ich dispensiert [ausgenommen von den allgemein geltenden Regeln] war. In Bezug hierauf werde ich euch eine kleine Geschichte erzählen. Allwöchentlich hat einer der neuen Primaner die Schulhausinspektorenwochen d.h. er hat alles, was eine Reparatur in den Stuben, Schränken, Auditorien usw. nötig macht, zu verzeichnen und einen Zettel mit all diesen Bemerkungen auf der Inspektionsstube abzugeben. Ich hatte vorige Woche dieses Amt; es fiel mir aber ein, dies etwas langweilige Geschäft [das aber eine ernsthafte Beschäftigung und Auseinandersetzung mit der „Realität“ darstellte! - anders zu machen, als „die Anderen“, er nannte und empfand es wohl auch so:] durch Humor pikanter zu machen [was insofern bezeichnend war, als N für die Ernsthaftigkeit von notwendigen Reparaturen, die er als „langweiliges Geschäft“ bezeichnete, absolut kein Verständnis aufzubringen vermochte, was ein erhellendes Licht auf seine Realitätsferne wirft, so dass er sich lieber seinen Spaß und „Effekt“ daraus machte, um bei dieser Tätigkeit wenigstens sich selbst mit „Humor“ überhöhend zufrieden zu stellen] und schrieb einen Zettel, auf dem alle Bemerkungen in das Gewand des Scherzes gekleidet waren [er also auf diese Weise dazu seine ganz persönlich für entschieden und unangemessen zu wichtig erachtete eigene Meinung beisteuerte, anstatt sich auf die sorgfältig festzustellenden Fakten zu konzentrieren! Es ging um allgemeine - nicht auf ihn bezogene! - Instandhaltungsarbeiten, also nicht um sein privates Amüsement! Das hatte N nicht begriffen und er zeigte damit eine sehr allgemeine Facette seines gestörten Verhältnisses zur Umwelt, zu der auch gehörte, dass er sich bedenkenlos Kämme lieh, statt in einer so persönlichen Angelegenheit dafür zu sorgen, stets unabhängig von „den Anderen“ zu sein und zu bleiben.]
Die gestrengen Herrn Lehrer [denen nur ein anderes Verhältnis zu der zu verwaltenden „Schulrealität“ eigen war!] waren darob sehr erstaunt, wie man in eine so ernsthafte Sache Witze mischen könnte, luden mich Sonnabend vor die Synode [eine Versammlung der Pförtner Professoren, die u.a. auch die disziplinären Maßnahmen beschloss] und diktierten mir hier als Strafe nicht weniger als drei Stunden Karzer und den Verlust einiger Spaziergänge zu [nicht erwähnt hat N, dass er dadurch zugleich offiziell „bedroht in seiner Stellung als Primus“ J1.106 war]. Wenn ich mir dabei irgendeine andere Schuld als Unvorsichtigkeit zumessen könnte [er hatte nicht begriffen, worum es eigentlich ging, - nämlich um sein mangelhaftes Realitätsverständnis und seine ebenso mangelhafte Bereitschaft, einen ernsten, positiven Beitrag zur Hausstandsverwaltung zu erkennen und zu leisten!], würde ich mich darüber ärgern [wozu eigentlich aber, wenn er zu seinem eigenen Tun kritische Distanz besessen hätte, Grund genug gegeben war]; so aber habe ich mich keinen Augenblick drum gekümmert [dennoch hatte ihn der Vorfall so sehr gewurmt, dass er sich noch nach 26 Jahren in seiner letzten Selbstdarstellung, dem „Ecce homo“ - und zur Veröffentlichung bestimmt! - veranlasst sah, darauf zurückzukommen] und nehme mir nur daraus die [völlig falsche, ihn in selbstkritikloser Herrlichkeit schonende!] Lehre, andere mal mit Scherzen vorsichtiger zu sein. -
Das bedeutete, dass ihm - als Opfer seiner Realitätsferne und wegen seiner Unbelehrbarkeit! - im Leben, Denken, Handeln - aus gleichem Grunde! - noch viele schwere Fehler unterlaufen mussten! Von Seiten der Pfortaer „Synode“ hieß es: „N erlaubt sich als Schulhausinspektor arge Witzeleien über einige Übelstände auf dem Zettel, den er bei dem Hebdomadarius [dem wöchentlich mit der Aufsicht beauftragten Lehrer] abgibt.“ Er erhielt dafür: „3 Stunden Carcer und [ist] bedroht in seiner Stellung als Primus. Auch 1 Woche dispensiert.“ KGBI/4.210
Ich habe übrigens die Kiste Tag für Tag erwartet, insbesondere die Stiefeln, an denen doch wenig zu machen war. Weiße Wäsche hatte ich noch für den Sonntag. Weiße Strümpfe fehlen mir sehr. Ich habe jetzt immer viel zu arbeiten, befinde mich aber dabei ganz wohl und wünsche nur dass das Wetter besser wäre. Heute ist S. Martinstag und wir haben die übliche Martinsgans (natürlich in 12 Teilen) gegessen. In diese Zeit muss ja auch S. Niklas [in knapp vier Wochen erst!] fallen. Das ist eine angenehme Zeit, dieser Übergang von Herbst und Winter, diese Vorbereitung von Weihnachten, auf das ich mich so freue. Das wollen wir recht zusammen genießen. Schreibt mir recht bald ….. (337)
Auf seinem Wocheninspektionszettel hatte N unter anderem angegeben:
Im Auditorium so und so brennen die Lampen so düster, dass die Schüler versucht sind, ihr eigenes Licht leuchten zu lassen … In der Obersekunda [Räumlichkeiten, die man nach ihren Nutzern benannt hatte] sind kürzlich die Bänke gestrichen [worden] und zeigen eine unerwünschte Anhänglichkeit an die sie Besitzenden. J1.106
N hat sicher nicht wenig Nachdenkerei aber doch wenig Originalität aufgewandt zur „Witzigmachung“ seiner Formulierungen - ohne ausreichend zu bedenken, dass er eigentlich eine ernsthafte Funktion zur Bereinigung von Missständen zu erfüllen gehabt hatte! Die N-Biographen fühlen sich durchweg - in Kritikvermeidung an ihrem Idol! - dazu veranlasst, die Humorlosigkeit des Lehrkörpers und auch den der Mutter zu rügen, statt bei dem ja ach so genialen N den Mangel an Ernsthaftigkeit für das realitätsbezogen Notwendige der von ihm durchweg missachteten Jetztzeit zu erkennen! Die praktisch orientierte Mutter schrieb nach dem Vorfall der verulkten Schulhausinspektion ihrem Sohn zwei Tage später, am 12. November 1862:
Mein lieber Sohn! So lange habe ich Dir schreiben und die Kiste [mit Nasch- und Esswaren und Wäsche etc.] senden wollen aber die Waschfrau hat mich so lange hingehalten, dass es nun erst heute geschehen kann. Ich habe eine wahre Sehnsucht gehabt, Dich zu sehen und freute mich Sonntag sehr darauf. Du kannst Dir aber meinen Schreck und Erstaunen denken, als wir hinkamen [nach Almrich, auf halbem Wege] und Dich nicht trafen und bei näherer Nachforschung wegen Deines Wegbleibens erfuhren, dass Du vom Spaziergang dispensiert seiest. Ich wollte es gar nicht recht glauben; wir tranken jedoch unsern Kaffee draußen, der mir gar nicht munden wollte ….. so empfing ich nun gestern Deinen Brief, der mir Aufschluss gab und so wurde ich aus dieser peinlichen Unruhe gerissen. Gott Lob dass es kein schlechter Streich ist [was es jedoch, de facto, war!], aber offen gestanden mein lieber Fritz hätte ich Dir mehr Takt zugetraut. Du wirst [und das wies darauf hin, dass derlei kein erstmaliger Vorwurf war!] von Neuem des Fehlers der Eitelkeit angeklagt worden sein [es war also „von Neuem“ im Gespräch zwischen Mutter und Sohn und wohl auch von Seiten der Lehrer ein derartiger Anlass zu verzeichnen! - und auch:] immer etwas anderes zu tun als die Anderen [was also schon damals als fundamentale Widerspruchs-Eigenheit an N aufgefallen war und von N im Laufe der Jahre aus seinem Charakterzug heraus zu einer neuen Art von „Philosophie“ und Weltanschauung gemacht werden sollte!] und finde die Strafe ganz gerecht, denn es erscheint als eine furchtbare Anmaßung, den Lehrern gegenüber sich so etwas zu erlauben. Also bitte sei vorsichtiger in Deiner Denkungsweise und Handlungsweise folge stets Deiner innern bessern Stimme [jedoch war es gerade diese, die ihm den Fehltritt eingegeben hatte!] und Du wirst vor aller Unruhe und Kämpfen die jetzt mehrere in Dir und an Dir bemerkt haben, bewahrt bleiben [also hatte sich Ns Auftreten und Verhalten nach der Emerson-Infektion doch für die anderen merklich! - verändert; das wurde hier festgestellt].
Schreibe mir bald mein teurer Sohn, aber nicht mit der Anrede „liebe Leute“ Du wirst selbst fühlen, dass das sich nicht an die Mutter schickt. Nun sehen wir uns also länger nicht, das tut mir sehr leid! ….. gib doch gleich die fremden Strümpfe ab und schicke mir alle Deine schmutzige Wäsche.
Wenn die Mutter in Kenntnis des kürzlich erst erhaltenen Erziehungsbericht davon schrieb, N würde „von Neuem des Fehlers der Eitelkeit angeklagt“ und dass N „immer etwas anderes als die Anderen tut“ und dass sie „finde, die Strafe sei ganz gerecht“, so liegen dem natürlich eine Reihe von im Einzelnen sicherlich als unbedeutend zu beurteilende - aber doch vorgekommene! - anekdotisch allerdings nicht überlieferte Anlässe zugrunde „die jetzt mehrere in Dir und an Dir bemerkt haben“, - Neigungen also, die an ihrem Sohn durchaus wahrzunehmen waren! Sicher war sie froh, dass solche Erscheinungen für einmal auch von anderen gerügt wurden. Zusammen mit andren gelegentlichen Auffälligkeiten seines Betragens war seine meist unter überlegenem Argumentationsgeschick gut versteckte Neigung zum Widerspruch als ein Charakterzug Ns also durchaus und längst schon als ein Teil seines „herrscheramtlich“ geprägten Gebarens wahrnehmbar. Auch diese Eigenheit von ihm wird im Lauf der Jahre ihre „philosophische“ Entfaltung erfahren.
In sein Notizbuch schrieb N im November 1862, deutlich erkennbar als Reaktion auf den Rüffel, den sich der beleidigte Primus eingehandelt hatte und getarnt als eine „Erkenntnis“, eine „Verhaltensweise“, eine „Absicht für die Zukunft“, - zur Klärung seiner „geistigen“ Position in dieser Welt gewissermaßen. Sie lautet in vollkommener Unterordnung, Anwendung und Erfüllung Emersonscher Grundsätze:
Nichts verkehrter als alle Reue über Vergangnes, nehme man es wie es ist. Ziehe man sich Lehren daraus, aber lebe man ruhig [unbeirrt von allem, was außerhalb des eigenen Ich Gültigkeit beanspruchen könnte!] weiter, betrachte man sich [und damit beschrieb N nur das, was er tat!] als Phänomen, dessen einzelne Züge ein Ganzes bilden [was angesichts der Tatsache, dass einem gar nichts anderes übrig bleibt, banal war, - aber nicht klug!]. Gegen die andern sei man nachsichtig, bedaure sie höchstens [milde aus den Höhen seines „Herrscheramtes“, nahe der Verachtung], lasse sich nie ärgern über sie [wie solcher ihm gerade im Halse steckte], man sei nie begeistert für jemand, [und da trat das verächtliche Element gleich an die Oberfläche:] alle nur sind für uns selbst da, unsern Zwecken zu dienen [wozu aber Macht gehört hätte, derlei auszuleben! - Woran es N im tatsächlichen Leben jedoch lebenslang gebrach. So war das alles nur ein sauber geschmiedetes „Programm“, die autistische Situation, in der er steckte, mit Worten zu reglementieren und zu rechtfertigen nach den „Gesetzmäßigkeiten“ die seinem Wesen als die „Gesetze der Welt“ erschienen]. Wer am besten zu herrschen versteht [wozu er sich ja längst berufen fühlte!], der wird auch immer der beste Menschenkenner sein [was eine Aussage war, die eigentlich erst in ihrer Umkehrung richtig ist und zu überzeugen vermag: Der beste Menschenkenner wird am besten zu herrschen verstehen!]. Jede Tat der Notwendigkeit [beurteilt nach eigenem Nutzen? - wie von jedem gemeinen Verbrecher!] ist gerechtfertigt, jede Tat notwendig, die nützlich ist. Unmoralisch ist jede Tat, die nicht notwendig [und auch das war so nicht richtig!] dem Andern Not bereitet [da funktionierte bei N noch die altüberbrachte, korrupte Clan-„Moral“!]; wir sind selbst sehr abhängig von der öffentlichen Meinung, sobald wir Reue empfinden und an uns selbst verzweifeln [„verzweifeln“ schrieb N, - statt „zweifeln“! Was etwas sehr anderes ist! Statt sich fest und unbelehrbar auf seinem Standpunkt zu verschanzen und dabei zu „verzweifeln“ ließe der „Zweifel“ Korrekturen von außen zu!]. Wenn eine unmoralische Handlung notwendig ist [wofür es aus subjektiver Sicht tausende von Gründen und Möglichkeiten gäbe!], so ist sie moralisch für uns [im Kurzschluss nur auf das eigene Ich gerichtet: In seinem Urteil über sich selbst! - Darüber nachgedacht ist es fast unglaublich, welche seelische und menschliche Unreife dieser Text von und über N verrät!]. Alle Handlungen können nur Folgen unsrer Triebe ohne Vernunft, unsrer Vernunft ohne Triebe und unsrer Vernunft und Triebe zugleich sein. BAW2.143
Von Seiten der Herausgeber von Ns Gesamtwerk gibt es zu diesem intellektuell erschütternd dürftigen Text keinen Kommentar!
Das war also - nach den „philosophisch so hoch bewerteten“ Jugendaufsätzen! - in Bezug auf eine praktische Lebenssituation! - das erste Produkt aus Emersons hochfliegenden Tiraden und Ns ureigenstem Charakterbild! Ein gefährliches Gemisch aus „Philosophie“, Selbstsucht und autistischer Unfähigkeit bei zugleich hoher rhetorischer Begabung - in deutlicher Trotz- und Rechtfertigungshaltung aufgrund eines eingehandelten, ungewohnten und schwer zu verdauenden Rüffels. Hier hatte sein „Panzer“ gegen die verweigerte Bedeutung der Außenwelt für die Existenz des Individuums in der Gesellschaft einen schweren Schlag und Kratzer bekommen. Bei näherem Hinsehen ist auch dieses Dokument erschütternd, weil es bereits alles enthält, was kommen wird und - weil sich die ganze Dürftigkeit der später entwickelten Moral in ihrer Egozentrik hier ansatzweise bereits festgelegt findet und N selber auf diese Weise belegt, dass er sich von hier aus weder seelisch noch menschlich zu wirklicher philosophischer Weisheit entwickeln konnte! - Die unmittelbar nach dem „Zwischenfall“ aus reiner Selbstverteidigung entstandene, an Zynismus kaum zu überbietende Notiz „beweist“, dass das Ereignis N, der sich souverän witzig zu geben erlaubt hatte, bei all seiner Uneinsichtigkeit weit schwerer getroffen hatte als er sich selbst und der Mutter gegenüber eingestehen wollte.
Wie tief das „erlittene“ Ereignis - bei aller vorgeschützten Gleichgültigkeit und Unbelehrbarkeit! - das Selbstverständnis von Ns Ego beschädigt hatte, geht überdies aus einem weiteren Detail hervor: Im Juli/August 1879 - also 17 Jahre später! - hielt N die folgende Behauptung in seinem damals aktuellen Notizbuch fest:
Als Atheist habe ich nie das Tischgebet in Pforta gesprochen und bin von den Lehrern nie zum Wochen-Inspektor gemacht worden. Takt! 8.608
Was von N aus so viel heißen sollte, man hätte Respekt vor ihm als Ausnahme-Person, gehabt! - Diese mir nichts dir nichts in die eigene Tasche gelogene Notiz gibt Anlass nachzudenken: So ohne weiteres ist nicht von der Hand zu weisen, dass es sich bei diesem Eintrag um einen weit in die Zukunft hinein gewirkt habenden „Verdrängungsmechanismus“ gehandelt hat. Am 10. März 1861 war N konfirmiert worden. Da war er bereits zweieinhalb Jahre lang Alumnus in Pforta! Es kann gar nicht angehen, dass er dort die ganze Zeit, was ja das Wort „nie“ beinhalten würde, als Atheist behandelt worden wäre! Was hätte auch ein Atheist mit einer Konfirmation zu schaffen? Im Gegenteil: N schrieb Glaubens-Gedichte voll Inbrunst und Unterwerfungslust und will im Nachhinein nicht einmal mitgebetet haben? In dem Punkt hat N allerlei „ausgeblendet“ und behauptete etwas, weil er es nicht mehr wahrhaben wollte, obgleich es den Tatsachen nicht entsprach, was er wusste!
Zum anderen war N - wie alle anderen neuen Primaner! - zum „Wochen-Inspektor“ eingeteilt, - hatte aber für sein deutliches Versagen durch „Nicht-Ernst-nehmen“ dieser Aufgabe einen Verweis mit Karzer- und Ausgehverbotsstrafe diktiert bekommen, und eine „höhere Art von Unbrauchbarkeit“ bewiesen! Aus einem Brief an die Mutter geht hervor, dass er im März 1863 noch einmal in die Inspektionswoche eingebunden war. Er schrieb dazu „so bin ich heute und diese ganze Woche in voller Amtstätigkeit“ 8.3.63 - Auch diese Tatsache hat N später einfach ausgeblendet. Für den älter werdenden N war es typisch, solche unrühmlichen Fakten in eine Vorrangstellung umzudeuten. Schließlich hat ihn die Angelegenheit weit mehr gewurmt als zugegeben, so dass es für ihn - nach 17 Jahren noch! - nötig war, auf den eigentlich längst vergessenen Vorfall a) überhaupt zurückzukommen und b) zu versuchen, ihn für ungeschehen zu erklären oder gar zu eigenen Gunsten umzuwerten! Diese Fiktion bewertete er als „Takt“ ihm gegenüber seitens der Lehrer, also als Anerkennung und ihn auszeichnenden Respekt vor seiner Person! In der Wirklichkeit seines Lebens stand er zu jenem Zeitpunkt am Beginn seiner Zeit als krankheitshalber „emeritierter Professor der Philologie“, um ab da sehnsuchtsweise als „freischaffender“ und „freidenkender Philosoph“ Anerkennung zu finden; - und bei all dem befindlich in den nicht zu lösenden - ja nicht einmal erkannten! - Fesseln von Ralph Waldo Emerson!
Eine Woche nach der eingesteckten Rüge schrieb N - am Mittwoch, den 19. November 1862 - an die Mutter nach Naumburg:
Liebe Mamma! Das war mir sehr unangenehm, dass ich vorigen Sonntag [am 16. November, der noch unter der strafend verordneten Ausgangssperre lag] nicht loskam und es ist unter allen Verhältnissen [auch denen, dass er „unter Strafe“ stand?] eine Taktlosigkeit Peters [dem Direktor Karl Ludwig Peter, 1808-1893, klassischer Philologe, Rektor in Pforta und aller Wahrscheinlichkeit nach am „Verhängnis“ des Strafmaßes beteiligt] gegen Hr. Rath Krug [dem angesehenen Naumburger Appellationsgerichtsrat und Vater des musikalischen N-Freundes Gustav Krug, welcher N schriftlich in aller Dringlichkeit zum 16. November zu seiner Geburtstagsfeier eingeladen hatte! Auf eine von Vater Krug schriftlich gestellte Ausnahmeregelung hatte N nämlich als hohen Einspruch gehofft!]. Ich habe am folgenden Tag an Gustav [einen nicht erhalten gebliebenen Brief] geschrieben ….. Ich habe jetzt immer erstaunlich viel zu tun, befinde mich aber wirklich wohler als je, so wohl körperlich als geistig. Bin immer in heiterer Stimmung und arbeite mit großer Lust. Ich kann nicht begreifen, wie du dich nur noch einen Augenblick über die Folgen jener Geschichte bekümmern kannst, da du ja sie richtig aufgefasst und mir in dem Briefe [vom 12. November] vorgehalten hast. Ich werde mich auch wohl vor ferneren Unüberlegtheiten hüten; aber dass ich nur etwas länger darüber verstimmt gewesen, daran ist nicht zu denken [das hat er in der Phase seines manisch „euphorischen“ Wohlbefindens - der wohl auch seine Wocheninspektorats-Witzeleien entsprungen waren! - verdrängt, - weshalb er die Einsicht, in den eigentlich geleisteten - realitätsblinden! - Fehler verweigerte!]. Mögen Heinze [Ns Pfortaer Tutor] und andere darin suchen was sie wollen - ich weiß was drin lag und damit bin ich völlig beruhigt [zu Unrecht, denn bis auf den wahren Grund ist er nicht gedrungen: Es fehlte ihm - wie sein Leben lang! - die distanzierende Einsicht in seine eigenen, ihn und sein Tun treibenden Motive, was sehr weitgehend mit seinen Schwierigkeiten im Umgang mit der ihn umgebenden Realität - und allem, was außerhalb der Grenzen seinen eigenen Haut lag! - zu schaffen hatte!]. Wie gesagt, ich habe mich selten in einer wohleren [wie vorgenommen: reueloseren!] Stimmung [tatsächlich aber wohl einer „manischen Phase“ im Krankheitsbild bipolarer, in seinem Alter oft mal erstmals aufscheinender Stimmungszustände] gefühlt als jetzt, meine Arbeiten gehen mir gut vorwärts, ich habe sehr vielfachen und angenehmen Umgang - und an ein Beeinflussen [durch andere Schüler, - wahrscheinlich immerhin doch von Guido Meyer, der Anfang März 1863, aus Unterprima abzugehen hatte, - bestimmt jedoch durch Emerson! Aber das konnte N nicht überblicken! - Deshalb sein Urteil, an Reue und „an ein Beeinflussen“] ist nicht zu denken, da ich da erst Personen kennen lernen müsste, die ich über mir fühlte [und solche hat es - außer vorübergehend in Schopenhauer und Richard Wagner! - in seinem Leben nicht gegeben! Auch nicht durch Emerson, denn mit dem war er - durch Identifizierung! - gleich! - - Und nun brach N unvermittelt ab und wechselte das Thema:] Auch die kalte Temperatur finde ich ganz gemütlich - kurzum ich fühle mich sehr wohl [was wesentlich durch seine derzeit manische Gestimmtheit verursacht war] und bin gegen niemand, auch gegen die Lehrer nicht in verbitterter Stimmung. Vielleicht konnten sie als Lehrer die Sache nicht anders auffassen. [Womit sie und nicht N die Beschränkten waren! Sicherlich konnte N gar nicht anders, als sich so überaus wohl gelaunt eigentlich „im Recht“ zu fühlen, weil ihm gar nicht gegeben war, die ganze Angelegenheit ohne speziell seine selbstmittelpunktliche Perspektive anzusehen und versuchsweise „objektiv“, auch von einer anderen Seite her, zu betrachten.] Ich übersende heute schmutzige Wäsche und bitte dich mir bald neue zu übersenden. Wenn du übrigens ein feines, großes Halstuch hättest, so wäre mir dies jetzt lieber als das Tragen von Schlips. Herzliche Grüße an Lisbeth und den lieben Onkel! Dein Fritz. (338)
Eine Beeinflussung Ns durch den Mitschüler Guido Meyer war im Jahr 1862 durchaus gegeben. Paul Deussen, bis dahin der beste Freund von N, berichtete, wie sehr er darunter gelitten und wie wenig ihm dies gefallen hatte. Aber sonstige Hinweise auf diesen Namen blieben in den Dokumenten über das Jahr 1862 aus. Was N hier der Mutter schrieb, war der Brief eines gut achtzehnjährigen, aber im Vergleich zu heute längst noch nicht volljährigen jungen Mannes! Seinerzeit wäre kein Mensch in der Lage gewesen, in diesen Vorfällen und hinter diesen Stimmungsschwankungen frühe Anzeichen eines Krankheitsbildes zu erkennen. Wegen seines vorwitzig unternommenen, aber tief in seiner Natur verankerten „Ausbruchs aus dem Gewöhnlichen“, d. h. seiner Lust, es anders zu machen als „die Anderen“ - was bisher ja immer „durchgegangen“ war, denn die Mutter kannte diese Neigungen ihres Sohnes! - sah N sich zum ersten Mal in seinem Leben massiver Kritik und spürbaren, fraglos auch ehrenrührigen Strafen ausgesetzt: Und das ausgerechnet in einer Angelegenheit, die weit außerhalb der Möglichkeiten seiner eigenen, ansonsten ja durchaus nicht zu knapp ausgebildeten Kritikfähigkeit lag: Nämlich in seinem zur Selbstkritik eher unfähigem Wesen und „herrscheramtlich“ veranlagten Sein! Darin lag unbestreitbar ein gerütteltes Maß an „Tragik“, weil ihm die Einsicht in die für „die Anderen“ geltende Logik der Angelegenheit - ihrer ganzen Tragweite gemäß - wie demonstriert, vollkommen verschlossen blieb und mit hoher Trefferwahrscheinlichkeit zu vermuten steht, das es etliche andere - nicht „aktenkundig“ gewordene! - Anlässe dieser Art für Ns inzwischen fest in Emerson gebettetes Gefühlsleben gab und er sich in etlichen Punkten an den Realitäten des Lebens erheblich gerieben haben dürfte.
Mit dem Erreichen der Unterprima begann, zaghaft, Ns Freundschaft mit Carl von Gersdorff, der in späteren Jahren, Rückblickend auf den „wahnsinnig berühmt“ gewordenen N über seine Beziehung zu diesem schrieb:
Über meinen Aufenthalt in Schulpforta besitze ich leider keine schriftlichen Aufzeichnungen; doch weiß ich aus lebhafter Erinnerung, wie sehr N meine Aufmerksamkeit schon in Untersekunda erregte, wohin man mich Ostern 1861 versetzt hatte. Er war mir ein halbes Jahr voraus, so dass wir immer nur ein Halbjahr in jeder Klasse zusammen sein konnten ….. häufig und innig wurde unser Verkehr erst von Prima an. Nicht wenig trug die Musik dazu bei. Allabendlich zwischen 7 und ½8 Uhr kamen wir im Musikzimmer zusammen. Seine Improvisationen sind mir unvergesslich; ich möchte glauben, selbst Beethoven habe nicht ergreifender phantasieren können, als N, namentlich wenn ein Gewitter am Himmel stand. KGBI/4.577
Allerdings hatte Gersdorff Beethoven nie spielen hören, - wegen dem auch von seiner Seite zum Superlativ greifenden Vergleich, der zwangläufig schief liegen musste. Es gibt allerdings auch sehr anders lautende Urteile und Eindrücke, die schließlich unvermeidbar auch vom Stand der Kennerschaft des jeweiligen Hörers beeinflusst sind. Davon später.
Am 27. November 1862, nach dem durch Ns Verhalten verpatzten Geburtstagstreffen schrieb Gustav Krug an N:
Lieber Fritz! Endlich komme ich dazu, Deinen lieben Geburtstagsbrief zu beantworten ….. Vor allem habe Dank für Deine herzlichen Glückwünsche, die Du leider nicht mündlich anbringen konntest. Diesmal war mein Geburtstagtisch sehr stark besetzt, unter anderen Dingen nenne ich Dir „Giesebrechts Kaisergeschichte“, die ich mir gewünscht habe ….. Jedoch um jetzt auf ein anderes Thema zu kommen, so muss ich Dir gestehen, dass ich noch nichts für die Oktobersendung [eine Pflicht aus dem und für den Geistesverein „Germania“] habe. Es ist so schwer, während der Schulzeit und während man mit vielen andern Studien sich beschäftigt, auch noch ans Komponieren zu gehen ….. Von Paradies und Peri [ein weltliches Oratorium, ein Werk des auch von N sehr geschätzten Komponisten Robert Schumann, 1810-1856, op. 50 aus dem Jahr 1843] bin ich ganz entzückt ….. Übrigens möchte ich Dir doch nicht raten, Dir es zu kaufen. So schön und vollendet es auch ist, fehlt doch oft das Eigentümliche, wonach Du strebst und ich glaube an Tristan und Isolde könnten wir noch mehr haben, indem wir als an einem tieferen Werke, daran länger studieren könnten, um es vollständig zu begreifen und zu erfassen. Jedenfalls wollen wir uns die wichtige Beratung, ob wir uns das letztere anschaffen wollen, bis Weihnachten aufsparen, da man über diesen wichtigen Gegenstand keinen voreiligen Entschluss fassen darf [und da soll es im April einen statutenwidrigen Entschluss von Krug gegeben haben? Der April-Termin diente wohl eher dem offiziell konstruierten Bedürfnis, Ns möglichst frühe Bekanntschaft mit „dem Tristan“ zu legitimieren?]. Wagner befindet sich noch immer in Wien, um Tristan einzustudieren. Alle erforderlichen Mittel sind zur Aufführung vorhanden, nur der Tenor fehlt, indem Ander [ein damals wichtiger Wagner-Sänger] nach seiner langen Krankheit diese schwierige und anstrengende Rolle nicht übernehmen kann ….. [Von Alldem hatte N keine Ahnung und eigentlich auch kein merkliches Interesse daran. Die Wagnerei war derzeit vor allem Gustav Krugs Angelegenheit. Die „Germania“ lief nebenher und in dieser war - nach gleichlautenden Bemerkungen - N die treibende und verpflichtende Kraft.]
Die geliebte Weihnachtszeit rückte näher. Ende November 1862 schrieb die Schwester an N:
Mein innig geliebter Fritz! Endlich komme ich einmal wieder dazu an Dich zu schreiben, aber bitte erlass mir Dir französisch zu schreiben, da ich jetzt zu wenig Zeit habe, wie das ja immer so vor Weihnachten ist. [Da hatte N also der Schwester gegenüber wieder den bildungsbürgerlichen Lehrmeister spielen wollen!] O freue ich mich darauf das kannst Du Dir lebhaft vorstellen nicht wahr? Sonnabend über 3 Wochen kommst Du schon zu uns; Das wird zu reizend, denn die Zeit vor Weihnachten ist die schönste. Schreibe nur Deinen Wunschzettel mein lieber Fritz denn die Tanten haben schon darnach gefragt. Ich habe natürlich ziemlich materielle Wünsche, wie z.B. Ballgarderobe usw. In den Ferien wird Mamachen natürlich eine kleine Gesellschaft geben, ob getanzt wird, weiß ich noch nicht, aber sicherlich sehr hübsch gespielt. Jetzt hat Herr Rat Pinder ein reizendes Versspiel in Anregung gebracht, was auch bei Pinders letzter Gesellschaft gespielt worden ist. Da hat z.B. Gustav Krug gefragt: Sagt mir, was soll es bedeuten Dass ich so verslos bin? Kein Verschen aus alten Zeiten Kommt heute mir in den Sinn. Ein Referendar [am Naumburger Appellationsgericht, denn auch der Vater von Wilhelm Pinder war Appellationsgerichtsrat] hat darauf, indem er glaubte [die Zeilen in Anlehnung an Heinrich Heines Loreley-Gedicht kämen von] einer Dame: Was willst Du Dich quälen Du schönes Gesicht? Du bist ja selbst schon ein Gedicht! Ist das nicht nett? Pinderchens haben mir noch vielerlei erzählt. Ich war natürlich nicht dabei. Doch nun vor allen Dingen muss ich Dir noch sagen, dass Du recht bald schreibst, da ich mich sehr darüber freuen werde ….. Doch nun adieu, ich muss in die englische Stunde. Auf Wiedersehen den Sonntag bei schönem Wetter in Almrich. Denke manchmal an Deine Dich zärtlich liebende Schwester. Verzeih meine Schmiererei aber ich bin sehr in Eile.
Die Mutter fügte diesem Geschnatter hinzu:
Einen herzlichen Gruß und Kuss und die Bitte doch diese Woche noch alle und jede schmutzige Wäsche zu senden, da Montag große Wäsche ist. Lieschen Pinder hat ein rheumatisches Fieber. Ein Stück Apfelkuchen folgt, da ich heute zu Amalies Geburtstag [gemeint war das Hausmädchen] ihr einen gebacken habe. Schreibe doch öfter mein lieber Fritz, wir hören jetzt fast nur durch andre von Dir. Theobaldchen [der nur 6 Jahre ältere „Onkel“ Theobald Oehler, jüngster Bruder der Mutter, der sich 1881 das Leben nehmen sollte] grüßt herzlich mit Deiner Mutter. Sonntag bei gutem Wetter doch in Almrich.
Im November machte N noch eine Reihe von Aufzeichnungen zum Ermanarich-Thema, an dem ihn die schaurigen Familienzwiste mit Rache, Mord und Totschlag wohl in besonderem Maße faszinierten, - kaum etwas darüber hinaus.
Vom 24. bis zum 28. November befand N sich wieder einmal auf der Krankenstube. Der offizielle Grund war im Pfortaer Krankenbuch angegeben mit „Rheumatismus“. J1.129
Anfang Dezember schrieb N aus Pforta an Mutter und Schwester in Naumburg seinen Weihnachtswunschzettel:
Zuerst meine Wünsche für Weihnachten. I. Byron [1788-1824], the Works compl. 5 vol. Tauchnitz’ edition. Etwa 2 Taler. Bekanntlich werde ich mit dem neuen Jahre anfangen, Englisch zu treiben und dazu wird mir mein englischer Lieblingsdichter der größte [An-]Sporn sein. II. Horatii opera ed. Stallbaum [Johann-Gottfried, 1793-1861, ein Philologe, Rektor der Thomas-Schule in Leipzig und Herausgeber der Werke des Horaz, einem der bedeutendsten römischen Dichter aus der Zeit von Kaiser Augustus, 65 v. C. bis 8 n. C.] Prachtausgabe Tauchnitz. Dieselbe Ausgabe wie mein Sophokles [497-405 v. C., einer der drei großen klassischen Tragödiendichter], die mir ungemein gefällt, auch für meine Augen sehr zweckmäßig ist. Sie wird nicht ganz 1 Taler kosten.
Das sind meine Hauptwünsche, Noten will ich mir nicht mehr wünschen, da sie mir in der reichhaltigen Domrichschen Leihbibliothek [in Naumburg] zu Gebote stehen. Wohl aber ist mir Notenpapier sehr erwünscht, das ich mir in meiner beliebten Fasson ausbitte. Eine Haarbürste mangelt mir sodann. Das sind meine Wünsche, die ich Eurer geneigten Fürsorge empfohlen haben will. Sonst habe ich heute nichts zu schreiben, als dass ich sehr viel zu arbeiten habe und dass ich der lieben Mamma herzlich völlige Beseitigung ihrer Heiserkeit wünsche. Schließlich bemerke ich, dass ich mich mopsmäßig auf Weihnachten freue Fritz. (339)
Bis über Weihnachten liegen keine anführenswerten Belege vor.